05.12.2019 | Parlament

Rede von Bundestagspräsident Dr. Wolfgang Schäuble zu Europa an der Humboldt-Universität zu Berlin (Humboldt-Rede)

[Es gilt das gesprochene Wort]

„Alles ist Wechselwirkung.“ Dieser Gedanke Alexander von Humboldts ist auch im Jahr seines 250. Geburtstages aktuell. Früher als viele andere hatte der Forschungsreisende und Naturkundler verstanden, wie eng die Welt miteinander verwoben ist. Manchem gilt er als der erste Globalisierungstheoretiker. In jedem Fall lässt sich die Quintessenz
seiner Erkenntnisse als frühe Vorwegnahme dessen lesen, was die Welt von heute maßgeblich bestimmt: Interdependenz. Alles hängt mit allem zusammen – und das in noch ganz anderen Dimensionen als zu Humboldts Zeiten. Es gibt keine Inseln mehr. Staaten und Gesellschaften sind – ob sie es wollen oder nicht – Teil eines weltumspannenden ökonomischen, politischen und ökologischen Geflechts.

Gerade wir Europäer haben die Globalisierung nicht nur maßgeblich mit vorangetrieben. Wir sind auch hochgradig abhängig vom freien, regelbasierten Austausch in der vernetzten Welt. Neben den Chancen und Möglichkeiten, von den wir alle noch immer profitieren, haben wir erst in den vergangenen Jahren begriffen, was Globalisierung für unsere Gesellschaften auch heißt: Unsicherheit, Zumutung und Bedrohung. Durch islamistische Terroranschläge, die Folgen der globalen Finanzmarktkrise, instabile Staaten an unserer Peripherie und kriegerische Auseinandersetzungen an der östlichen Außengrenze, den massenhaften Zustrom von Flüchtlingen, einem verschärften weltweiten Wettbewerb, nicht zuletzt den Klimawandel und die Auswirkungen der
Digitalisierung.
Die globale Geltung Europas war zu Lebzeiten der Humboldt-Brüder weitgehend unbestritten. Heute müssen die Europäer um ihre Zukunft, um ihre künftige Rolle in der globalisierten Welt ringen. Und sie müssen entschlossener auftreten! Die EU bildet noch immer den größten Binnenmarkt, sie hat – selbst bei Austritt der Briten – politisches Gewicht. Und unsere Werte, Freiheit und Demokratie, sind nach wie vor hoch attraktiv – dazu reicht der Blick nach Hongkong.
Unser Modell gilt trotzdem längst nicht mehr unangefochten. Zunehmend etablieren sich autoritäre Regime; aufstrebende neue Mächte reklamieren wirtschaftlichen und politischen Einfluss, und insbesondere China macht dem Westen mit einem scheinbar ungefährdeten Wohlstands- und Effizienzversprechen Konkurrenz. Dass das 21. Jahrhundert Europa gehören könne, wie Tony Judt Mitte der 1990er Jahre meinte, glauben heute wahrscheinlich nur noch wenige. Aber es sollte doch unser Anspruch sein! Es braucht den Willen, die sich rasant wandelnde Welt mit unseren Werten, unseren Ordnungsvorstellungen mitzugestalten. Ihn können und dürfen wir nicht aufgeben.

Tatsächlich sind wir heute viel zu oft nur mit unseren eigenen Krisen und Problemen beschäftigt, drehen uns viel zu sehr nur um uns selbst – und übersehen dabei, dass die Europäische Union für viele noch immer das Versprechen auf eine bessere Zukunft ist. Für die Menschen auf dem Westbalkan etwa und an der östlichen Peripherie der EU, die sich Stabilität und Prosperität von der Aussicht auf den Beitritt erhoffen. Und natürlich für all jene, die unter Gefahr für Leib und Leben versuchen, aus den Kriegs- und Krisenregionen jenseits des Mittelmeeres zu uns zu gelangen – oder einfach nur der Perspektivlosigkeit in ihrer Heimat entfliehen wollen.

In den EU-Mitgliedsstaaten ist die generelle Zustimmung zur Europäischen Union zuletzt wieder gestiegen, was vermutlich mit den Brexit-Erfahrungen zu tun hat. Dennoch meint eine Mehrheit der EU-Bürger, dass die Gemeinschaft sich in die falsche Richtung entwickelt. Und nicht wenige rechnen einer aktuellen Umfrage zufolge damit, dass die EU in den nächsten ein bis zwei Dekaden auseinander brechen wird.
Zugleich setzen die meisten Bürger auf mehr europäische Zusammenarbeit, etwa beim Klimaschutz oder in der Außen- und Sicherheitspolitik. Weil es auf der Hand liegt, dass sich die europäischen Staaten nur im Verbund behaupten können. Dass die globalen Herausforderungen nur gemeinsam zu bewältigen sind. Allerdings geht damit nicht zwangsläufig auch der Wunsch einher, weitere Zuständigkeiten und Souveränitätsrechte auf die europäische Ebene zu verlagern. Verantwortungsvoller Politik kommt deshalb die nicht einfache Aufgabe zu, trotz solcher Widersprüchlich-keiten eine klare Richtung vorzugeben, zu führen und den Menschen Orientierung zu geben.

Angesichts eines europäischen Krisenjahrzehnts sehnen sich viele europäische Föderalisten danach, die europäischen Verträge umfassend zu reformieren oder Europa neu zu gründen. Also nach dem großen Wurf, der den gordischen Knoten zerschlägt und Schluss macht mit schwerfälligen, intransparenten Entscheidungsprozessen, mit zweifelhafter demokratischer Legitimität, mit Ineffektivität und politischen Blockaden.
Ich verstehe das gut.
Vor 25 Jahren habe ich zusammen mit meinem Kollegen Karl Lamers ein Papier zur Zukunft der Europäischen Union vorgelegt. Unsere Überlegungen zielten damals schon darauf ab, die Union weiterzuentwickeln und zu vertiefen, um sie angesichts der anstehenden Erweiterungen und der neuen externen Herausforderungen handlungsfähiger zu machen. Wir plädierten für einen föderativen Staatsaufbau und eine klare, am Subsidiaritätsprinzip ausgerichtete Kompetenzordnung, die in einer europäischen Verfassung festgeschrieben werden sollten. Für ein Zweikammersystem, bestehend aus einem „echten“ Europäischen Parlament und dem Rat als Länderkammer, und für eine EU-Kommission als europäische Regierung.

Es hat seitdem eine Reihe von Vertragsreformen gegeben, die uns hier und da ein Stück weiter gebracht haben. Aber wir sind nicht weit genug gegangen. Wir sind noch immer viel zu zaghaft. Warum scheuen wir eigentlich die direkte Volkswahl des Kommissionspräsidenten als politische Spitze einer europäischen Exekutive, die der politischen Einheit Europas ein Gesicht gibt und eine wirkliche Macht repräsentiert? Das würde vermutlich auf einen Schlag mehr verändern als sonst in Jahren.
Mit dem Lissabon-Vertrag sind die Verfahren und Institutionen des gemeinschaftlichen Europas nicht effizient und nicht demokratisch genug für eine zeitgemäße EU – und auch nicht für die anstehenden Aufgaben und Herausforderungen. Die Europäische Union muss sich reformieren.
Klar ist derzeit aber auch, dass innerhalb der Verträge die Spielräume dafür fehlen oder minimal sind – und vor allem die politischen Mehrheiten in den europäischen Hauptstädten und Mitgliedsstaaten. Das realistisch Machbare hinkt dem Wünschenswerten und Notwendigen weiter hinterher – vielleicht sogar weiter, als das damals, Mitte der 1990er Jahre, der Fall war. Das mag für Studenten des Europäischen Verfassungsrechts ebenso frustrierend sein wie für einen überzeugten Europäer, der seit Jahren und Jahrzehnten für ein stärkeres Europa wirbt. Aber es ist kein Grund zu verzagen.

Die neue Kommissionspräsidentin hat eine Konferenz zur Zukunft Europas vorgeschlagen; das bringt trotz ungewissen Ausgangs zumindest Bewegung in das Thema. Und es kann der überfällige Schritt voran werden, wenn wir aus den Erfahrungen des schwerfälligen Verfassungskonvents und dem am Ende gescheiterten Vertrag über eine Verfassung für Europa gelernt haben und klüger geworden sind. Ein kraftvoller Anstoß im drängenden Reformprozess, ein eigener Impuls zur ausgerufenen „Agenda des Wandels“, ein wirklich visionärer Verfassungsentwurf könnte dazu doch auch von anderer Seite kommen. Warum denn nicht aus der europäischen Institution, die als einzige unmittelbar demokratisch legitimiert ist? Selbstbewusste Europaabgeordnete könnten vorangehen und jetzt einen Verfassungsentwurf vorlegen. Es steht zwar in keinem Vertrag, dass sie das können, aber seit wann muss ein Parlament fragen, ob so etwas in einem Vertrag steht? Einem Parlament, das für sich das Recht einfordert, über den Kommissionspräsidenten nach dem Spitzenkandidatenprinzip zu entscheiden, stünde das jedenfalls gut zu Gesicht – zumal es sich die Abgeordneten selbst zuschreiben müssen, dass sie ihre Möglichkeiten nach der jüngsten Europawahl nicht konsequent genug genutzt haben. Ein eigener kluger Vorschlag zu einer Verfassung aus der Mitte des Parlaments: das würde die europaweite Debatte beflügeln und könnte uns aus mancher Ambitionslosigkeit herauskatapultieren.

Gleichzeitig kann sich Europa nicht leisten, auf Vertragsreformen nur zu warten. Wir müssen jetzt schnell vorankommen – weil die aktuellen Herausforderungen dringend nach Antworten verlangen und weil die Glaubwürdigkeit des gemeinschaftlichen Europas daran hängt. Die EU ist kein Selbstzweck. Sie muss – anders als der Nationalstaat – ihren Bürgerinnen und Bürgern ihren Daseinszweck beweisen. Sie muss durch Politik überzeugen. Der frühere Verfassungsrichter Dieter Grimm hat darauf aufmerksam gemacht, dass die Existenzberechtigung des eigenen Staates von den Bürgern nicht in Frage gestellt wird, selbst wenn die nationale Politik schlecht performt. Die EU hingegen steht zur Disposition: Denn sie wird nach Kosten und Nutzen bemessen. Eine Abwägung, die nicht zwangsläufig rational erfolgt, wie die Erfahrungen mit dem britischen Referendum zeigen.
Wer heute eine Zukunft für das gemeinsame Europa entwerfen will – für die „immer engere Union der Völker Europas“, wie es in der Präambel des EU-Vertrages heißt – muss deshalb andere Fragen beantworten: Nicht, wie eines fernen Tages Europas verfassungsrechtliche Finalität aussehen soll, sondern wie wir Europa heute und morgen zusammenhalten können. Wie Europa den Europäern Freiheit, Sicherheit und Wohlstand in der globalisierten Welt garantieren kann. Emmanuel Macron hat dafür die Formel gefunden: L'Europe qui protège. Ein Europa, das schützt. Der französische Staatspräsident ist ungeduldig – und wer wollte es ihm verdenken? Seine Ungeduld ist das Ergebnis viel zu langen Wartens – auf unsere Antwort, auf eigene deutsche Ideen, auf gemeinsame Führung. Es braucht nicht viel Phantasie, um sich auszumalen, dass der Blick nach Berlin seit dem vergangenen Wochenende noch angespannter geworden ist. Statt uns immer weiter nur um uns zu drehen, braucht es jetzt eine neue Dynamik, indem wir Macron beim Wort nehmen. Indem wir wieder gemeinsam vorangehen.
Wer sich die Größe der anstehenden Aufgabe nur annähernd bewusst macht, weiß, dass es dabei nicht primär um Abwehr und Abschottung geht, sondern um die politische Gestaltung des globalen Wandels. Europa wird nur bestehen, wenn es in der Welt weiter gebraucht wird. Wenn es beweist, dass das besondere europäischen Modell auch für das 21. Jahrhundert taugt: die Verbindung von Freiheit und sozialer Gerechtigkeit, von Fortschritt und Nachhaltigkeit, von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und universellen Menschenrechten. Europa muss deshalb seinen Bürgern etwas bieten – und es muss als globaler Akteur mehr bieten.

Auch ohne Vertragsreform können wir schon heute vorankommen – mit jenen rechtlichen Instrumenten, die uns die Verträge klugerweise zur Verfügung stellen: Flexibilitätsklausel, Brückenklauseln, Verstärkte Zusammenarbeit. Und wenn es nicht anders geht: durch inter- gouvernementale Kooperation, wie wir es in der Eurokrise gemacht haben. Auch wenn dadurch unterschiedliche Integrationsgeschwindigkeiten in der EU perpetuiert werden: Wir sollten diese Möglichkeiten entschlossen nutzen, weil wir uns nicht leisten können, dass der Zögerlichste, der Langsamste das Tempo bestimmt. Wir könnten beispielsweise damit beginnen, in der Außen- und Sicherheitspolitik zu qualifizierten Mehrheitsentscheidungen im Rat überzugehen. Oder Bewegung in seit langem auf der Agenda stehende Vorhaben bringen, etwa bei der Bemessungsgrundlage der Körperschaftssteuern.

Übrigens hatte auch der deutsche Außenminister Joschka Fischer, als er hier im Mai 2000 die erste Humboldt-Rede zu Europa hielt, eine vermehrte zwischenstaatliche Zusammenarbeit als wahrscheinliche Entwicklung skizziert – bedingt durch die mit der großen Erweiterungsrunde steigende politische Vielfalt, die Grenzen der Methode Monnet und äußeren Druck, der europäisches Handeln erzwingen würde. Erst nach einem Prozess verstärkter europäischer Zusammenarbeit sah Fischer die Chance auf eine konstitutionelle Neugründung.

Dabei helfen können die wirklich großen Aufgaben, vor die wir gestellt sind: Frieden und Sicherheit, Digitalisierung und ökonomische Stabilität. Nachhaltigkeit, Migration. Wenn wir sie als identitätsstiftendes europäischen Gemeinschaftsprojekt sichtbar und begreifbar machen. Wenn wir in den Aufgaben die Chance sehen, die in uns steckende Energie zu mobilisieren und das Vertrauen in uns zu stärken, gemeinsam Großes leisten zu können, statt uns kleinteilig und introvertiert an das Bestehende zu klammern, weil wir fürchten, den Veränderungen nicht gewachsen zu sein. So wird sich auch die europäische Schicksalsgemeinschaft formen. Eine belastbare europäische Identität, die die nationalen Identitäten nicht ablöst, sie aber ergänzt: um ein Zusammengehörigkeitsgefühl, das sich sowohl aus den gemeinsamen historischen Wurzeln und kulturellen Grundlagen speist als auch aus den großen Gemeinschaftsaufgaben.

Unter ihnen erzwingt der Schutz des Klimas und der natürlichen Lebensgrundlagen grundstürzende Anpassungen in der Art, wie wir leben, wirtschaften, uns fortbewegen. Der Rückzug der USA aus dem Pariser Klimaschutzabkommen erhöht die Verantwortung der Europäer noch, hier ihre Vorreiterrolle wahrzunehmen. Europa kann sein politisches Gewicht, seine ökonomische Stärke für ökologische Ziele einsetzen. Das haben wir bei den Verhandlungen über das Mercosur-Abkommen gesehen. Hier verfügte die EU mit ihrer ökonomischen Potenz über einen Hebel, um in den Verhandlungen die Freihandelszone mit Verpflichtungen zur nachhaltigen Bewirtschaftung und Erhaltung der Wälder im Amazonasgebiet zu verknüpfen. Umso dringender, es in Kraft zu setzen.
Gerade unsere wohlhabenden Volkswirtschaften müssen vorleben, dass und wie sich Wohlstand durch Wachstum mit Nachhaltigkeit verbinden lassen. Das gilt insbesondere mit Blick auf die Zunahme der Weltbevölkerung um weitere 2 Milliarden Menschen bis 2050 und die berechtigten Ansprüche der aufstrebenden Schwellen- und Entwicklungsländer, wo der Nachholbedarf an Industrialisierung und damit an Energieverbrauch hoch ist. Mit massiven europäischen Investitionen in Solar- oder Wasserkraftwerke in Afrika, Südamerika oder Asien ließe sich ein Vielfaches an CO2- Emissionen einsparen als mit milliardenschweren Maßnahmen bei uns. Sie lohnen sich auch im Sinne der wirtschaftlichen Entwicklung und politischen Stabilisierung. Davon müssen wir die Menschen überzeugen und dafür müssen wir ihre Leidenschaft gewinnen. Es braucht zu diesen Investitionen Ideen für neue Ansätze – in Deutschland nicht zuletzt auch im Hinblick auf unsere Leistungsbilanzüberschüsse, die bereits heute von vielen als ein Problem für die Welt angesehen werden. Der Staats- und Umweltrechtler Dietrich Murswiek, mit dem ich nicht immer übereinstimme, hat doch Recht, wenn er sagt, im Ausland in die Vermeidung von CO2-Emissionen zu investieren, sei kein moralisch verwerflicher ‚Ablasshandel‘, sondern rationale Umweltpolitik – auch wenn man sich mit dem Erreichen nationaler CO2-Neutralität als „Moralweltmeister“ gerieren könnte.
Für Europa reicht es nicht, sich als Kontinent des guten Gewissens zu begreifen. Wir müssen dynamischer werden und unsere Werte wahren. Vor allem bei der Digitalisierung, die unsere Lebenswelt umfassend verändert. Es braucht eine völlig andere Grundeinstellung gegenüber der Veränderbarkeit unserer Zukunft, damit Europa nicht bloß Zaungast der digitalen Revolution bleibt. Unternehmen mit originellen eigenen, mit neuen Ideen. Mit größtmöglichen Freiräumen für die kreativsten Köpfe, um deren innovativen Potenziale wirksam auszuschöpfen. Mit dem Anspruch, nicht nur nach profitabler Verwertbarkeit dessen zu streben, was im Silicon Valley oder anderswo entwickelt wurde. Sondern auf der Suche nach der intelligenteren Lösung selbst die digitale Zukunft zu antizipieren. Nur national wird das im globalen Wettbewerb nicht funktionieren, werden wir nicht unabhängiger von den USA und China. Deshalb sollten wir dringend die Dynamik aufnehmen, die Präsident Macron auch auf diesem Feld entfacht hat – und gemeinsam potenzieren. Europaweit, nicht nur am Standort Frankreich. Mit Investitionen in unsere Innovationskraft, durch die Förderung der klügsten Köpfe, den Abbau bürokratischer Hemmnisse, der Entwicklung einer europäischen Infrastruktur für den Datenverkehr, einer europäischen Cloud, vor allem mit einem mutigeren Verständnis für den Einsatz Künstlicher Intelligenz als der Zukunftstechnologie. Sie wird bereits heute absehbar alle Lebensbereiche durchdringen – worauf warten wir dann noch? Es liegt doch allein an uns, ob wir Europäer durch eigene Kraft jetzt die in der KI liegenden Chancen gestaltend für uns nutzen oder ob wir später nur auf die gesellschaftlichen Folgen neuer Disruption reagieren müssen.
Unsere Souveränität wird entscheidend davon abhängen, ob wir die Herren über unsere Daten bleiben. Um zwischen dem „datenkapitalistischen Universum“ des Silicon Valley und dem Social Scoring chinesischer Prägung einen Weg zu finden, werden deshalb die Fähigkeiten und Erfahrungen Europas dringender denn je gebraucht. Für eine völlig neue Ordnung müssen Normen gesetzt – und durchgesetzt werden, um den Primat der Politik zu wahren. Von der Besteuerung transnationaler Internetkonzerne, über Regeln für die algorithmengesteuerte Öffentlichkeit im Netz bis hin zur Sicherheit persönlicher Daten. Die Datenschutzgrundverordnung und die Urheberrechtsrichtlinie zeigen mehr als nur unseren Hang zum bürokratischen Perfektionismus, sie stehen vor allem für den Willen, die großen Internetgiganten in den europäischen Rechtsraum zu zwingen. Wenn es gelingt, die Balance zwischen unternehmerischer Freiheit, Meinungsfreiheit und der Sicherung von Persönlichkeitsrechten zu halten, ist das nicht nur gut für Europa, sondern setzt Maßstäbe auch für andere in der Welt. Das kann Europa den Menschen bieten – und nur Europa.

So zentral diese großen Zukunftsthemen sind, Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Künstliche Intelligenz: Schnelle Fortschritte sind vor allem auf dem Feld der Außen- Verteidigungs- und Sicherheitspolitik dringend geboten. Sicherheit nach außen zu gewährleisten, sich selbst verteidigen zu können, ist der innerste Kern jeglicher staatlicher Souveränität – und für die EU als Gemeinschaft von Staaten gilt, dass sie auf diesem Gebiet überhaupt nur noch gemeinschaftlich handlungsfähig sein kann. Nicht nur die Notwendigkeit, auch die Vorzüge eng abgestimmten Handelns sind hier so offenkundig und zwingend, dass es schwer fällt zu erklären, warum wir nicht längst viel weiter sind. Zur Erinnerung: Das Ziel einer gemeinsamen europäischen Verteidigung steht seit Maastricht in den europäischen Verträgen. Spätestens die Kriege im ehemaligen Jugoslawien, das ist auch schon mehr als 20 Jahre her, haben zur weithin geteilten Erkenntnis geführt, dass die Europäer mehr Verantwortung für ihre eigene Sicherheit übernehmen müssen. Dass wir uns nicht mehr darauf verlassen können, dass andere, namentlich die USA, dafür aufkommen. Damit verbunden ist übrigens auch, dass wir mehr für die Sicherheit und Stabilität in den konfliktträchtigen Regionen innerhalb Europas und in der Welt um uns herum tun müssen – vor allem im nördlichen Afrika, im Nahen Osten und an der östlichen Flanke Europas, wo uns die russische Aggression gegenüber der Ukraine und die völkerrechtswidrige Annexion der Krim daran erinnern, dass militärische Gewalt auch in Europa des 21. Jahrhunderts ein Mittel der Politik geblieben ist.

Ein gemeinsames außen- und sicherheitspolitisches Konzept umfasst sehr viel mehr als Verteidigungskapazitäten – aber auskommen kann es ohne eine effektive Verteidigung nicht. Die Ständige Strukturierte Zusammenarbeit – PESCO, zu der sich 25 Mitgliedstaaten vor zwei Jahren zusammengefunden haben, der Europäische Verteidigungsfonds für die Rüstungszusammenarbeit und weitere Maßnahmen zur verstärkten verteidigungspolitischen Kooperation – das alles macht Hoffnung auf
Synergieeffekte, auf substantielle Fortschritte in der Bündelung militärischer Fähigkeiten und bei der effektiven Einsatzbereitschaft. Man muss sich ja nur mal bewusst machen: Die heutigen EU-Staaten unterhalten zirka anderthalb Millionen Soldaten – in etwa so viel wie die Amerikaner.
Um nicht missverstanden zu werden: Die USA bleiben auf absehbare Zeit für die Sicherheit Europas unverzichtbar. Sie sind unsere Partner. Wir teilen mit den Amerikanern – anders als mit China oder Russland – gemeinsame Werte, trotz der gegenwärtigen Belastungen in den transatlantischen Beziehungen. Es gibt keine Äquidistanz zu den USA und China – auch wenn das laut einer gerade veröffentlichten Umfrage offenbar für einen beträchtlichen Teil unserer Landsleute vorstellbar scheint.
Gleichwohl kann auch derjenige, der die NATO nicht für hirntot hält, die Probleme nicht übersehen, die das einseitige Agieren mancher Bündnispartner mit sich bringt. Europa muss auch auf militärischem Gebiet handlungsfähiger werden. Nicht als Alternative zur NATO, als Ersatz, sondern im Gegenteil: um das transatlantischen Bündnis zu stärken.
Dafür müssen die Staaten Europas gemeinsame Interessen, Ziele und Strategien definieren. Angesichts unterschiedlicher strategischer Prioritäten, verteidigungspolitischer Kulturen und historischer Prägungen ist das vielleicht von allem das Schwierigste. Aber ausweichen können wir dieser Aufgabe nicht mehr. Genauso wenig wie der Frage, wie wir unser Verhältnis zu Russland weiter gestalten wollen. Als Nachbar und als relevanter Akteur in den internationalen Beziehungen. Wenn wir ehrlich zu uns selbst sind, müssen wir anerkennen, dass auch der Westen seinen Anteil am gespannten Verhältnis hat. Dass es manchmal an der notwendigen Sensibilität gegenüber der einstigen Weltmacht gefehlt hat. Sich das einzugestehen, heißt ja nicht, die schwerwiegenden Gründe dafür zu relativieren, warum bislang keine ernstzunehmenden Versuche zur Entspannung unternommen wurden. Russland muss begreifen, dass im 21. Jahrhundert Grenzen nicht mehr mit Gewalt zu verändern sind. Und das im Übrigen auch Auftragsmorde an einem Menschen nicht akzeptiert werden können. Es kann hier keine Abstriche geben! Aber auch Putin wird einsehen, dass die Zukunft seines Landes nicht in der Ausrichtung nach China liegt, sondern in seiner westlichen Nachbarschaft. In einer stabilen Machtbalance, einem konfliktfreien, am besten partnerschaftlichen Verhältnis zu einem vereint agierenden, starken Europa und dessen transatlantischer Verbindung.
Deshalb ist es gut und richtig, wenn von Emmanuel Macron bis zu NATO Generalsekretär Jens Stoltenberg darüber nachgedacht wird, wie wir gegenüber Russland die richtige Balance schaffen: von einerseits vertiefendem Dialog und Zusammenarbeit in den vielen wirtschaftlichen und geopolitischen Fragen, die nur gemeinsam zu lösen sind, und andererseits Druck in Richtung Demokratie und Menschenrechte. Dabei wird es wesentlich in deutscher Verantwortung liegen, die östlichen Nachbarn, die aus nachvollziehbaren Gründen große Vorbehalte und wenig Vertrauen haben, mit ihren Erfahrungen und Interessen in die Überlegungen zur Neujustierung unseres Verhältnisses zu Russland einzubinden, bei der es letztlich um nichts Geringeres als um Friedenssicherung für den Kontinent geht.

Der amerikanische Historiker Robert Kagan hat unlängst darauf aufmerksam gemacht, dass es nicht nur materielle Kosten produziert, als militärische Interventionsmacht die freie Weltordnung zu erhalten und die Gegenkräfte freiheitlicher Demokratien zu kontrollieren. Es hat auch einen moralischen Preis. Dessen muss sich Europa bewusst sein. Und diese Bürde zu tragen, stellt gerade die Deutschen vor große Herausforderungen. Nicht wegen unserer Größe, unserer Lage oder unseres politischen Gewichts. Sondern wegen der Kultur der Zurückhaltung, die wir aus nachvollziehbaren – wiederum schwerwiegenden historischen – Gründen verinnerlicht haben. Aber unsere Rolle als besonnener Mahner würde glaubwürdiger, wenn wir unsere geübte verteidigungspolitische Zurückhaltung mit den berechtigten Erwartungen unserer Partner und Verbündeten ausbalancierten. Wenn es in unserem ureigenen Interesse liegt, selbst wirksam Einfluss zu nehmen, dann erfüllt sich unsere Wahrnehmung von Verantwortung im Übrigen auch nicht darin, den Konfliktparteien Mahnungen von der Seitenlinie aus zuzurufen oder Ideengeber für eine überfällige europäische Initiative zu sein. Dann müssten wir Deutschen bereit sein, selbst einen Beitrag vor Ort zu leisten. Materielle und moralische Kosten übernehmen. Jedes Mitgliedsland der EU steht bei der Bewältigung der Herausforderungen vor spezifisch nationalen Eigenarten, die Lösungen oftmals erschweren, manchmal sogar verhindern. Solche Selbstblockaden zu überwinden, schaffen wir nicht alleine. Aber im Austausch untereinander, wenn wir unsere wechselseitigen Erwartungen artikulieren und unbequeme Sachfragen offen debattieren, kann uns das gelingen. Auch Deutschland.
Wenn wir es ernst meinen mit der gemeinsamen europäischen Verteidigung, dann müssen alle Beteiligten bereit sein, die eigenen, althergebrachten Positionen und Praktiken zu hinterfragen und ein Stück weit davon abzurücken. Anders kommt man nicht zu Kompromissen. Das betrifft etwa die Rüstungsexportregeln oder den Parlamentsvorbehalt. Wir Deutschen müssen begreifen, dass es nicht allein um unsere innenpolitische Sicht geht, sondern auch um unsere Bündnisfähigkeit. Darum, dass nicht nur wir von unseren Partnern abhängen, sondern unsere Partner und Verbündeten umgekehrt auch von uns. Das unlängst angekündigte deutsch-französische Abkommen über gemeinsame Regeln für Rüstungsexporte ist deshalb ein wichtiger Schritt – und ein Erfolg der mit dem Aachener Vertrag und der binationalen Parlamentarischen Versammlung intensivierten deutsch-französischen Zusammenarbeit. 
Deutsche und Franzosen lernen hier besser zu verstehen, wie sich die Lage aus der Sicht des jeweils anderen darstellt. Eine wichtige Erfahrung und ein Ansatz für ein mehr an Zusammenarbeit in ganz Europa. Gerade der Umgang mit den Sicherheitsinteressen unserer östlichen Nachbarn gehört nicht zu den Glanzstücken deutscher Europapolitik – Stichwort: Energiepolitik. Nehmen wir ihre Sorgen mit Blick auf Russland ernst oder halten wir sie im Grunde für eine übertriebene Marotte? Nach wie vor richten die Osteuropäer ihre Erwartungen an Schutz und Sicherheit vornehmlich an die USA. Und das ist doch nachvollziehbar. Aber es lässt sich auch als Ausdruck des Zweifels an der Solidarität des westlichen Europas lesen. Statt die an der Seite der USA stehenden mittel- und osteuropäischen Staaten in der Auseinandersetzung um den Irak-Krieg 2003 zurechtzuweisen, hätten die Westeuropäer sich besser fragen sollen, wie die EU den Sicherheitsinteressen ihrer östlichen Mitglieder besser gerecht werden könnte.
Eine europäische Verteidigungsunion wäre nicht nur sinnvoll und notwendig. „Die gemeinschaftliche Verteidigungsfähigkeit“ – das haben Karl Lamers und ich bereits 1994 geschrieben – erwiese sich auch „als unverzichtbarer Faktor zur Stabilisierung einer eigenen europäischen Identität, in der gleichzeitig Raum bleibt für das jeweils mitgebrachte Selbstgefühl der Einzelstaaten“. Das ehrgeizige Ziel einer europäischen Armee könnte insofern auch ein Zukunftsprojekt sein, das Ost und West in Europa miteinander verbindet.
Hier hat sich in den vergangenen Jahren eine Kluft aufgetan, die eine der größten Errungenschaften der Epochenwende von 1989 gefährdet: die Überwindung der Teilung von Jalta. Angesichts der Erfahrungen nach der deutschen Einheit erwartete wohl kaum jemand, dass das Zusammenwachsen des Kontinents ohne Probleme verlaufen würde. Wenn aber das Trennende so sehr an Boden gewinnt, dass die Konfliktlösungsstrategien europäischer Politik an ihre Grenzen stoßen wie in der Migrationskrise, steht das Funktionieren des gemeinschaftlichen Europas in Frage. Mit der Brechstange lässt sich Europa nicht einigen – und manchmal führen rechtskonforme Abstimmungen im Rat am Ende nicht zu politischen Lösungen, sondern vertiefen die Gräben.
Das kann sich Europa nicht leisten. Für das gemeinsame Europa tragen wir alle Verantwortung: in Berlin und Paris ebenso wie in Warschau oder Budapest. Wer sich mit dem Historiker Dan Diner gedanklich auf die Stufen der Treppe von Odessa ans Schwarze Meer setzt und von dort im Rückblick auf das vergangene Jahrhundert nach Westen schaut, erkennt leicht, dass erst der Kalte Krieg Ost und West in Europa zementiert hat.
Das ist längst Geschichte, aber die Spaltung besteht fort. Die Geschichte Europas sei offen, so Diner. Sie weise in Richtung tieferer Integration oder einer dramatischen Desintegration. Wer letzteres nicht will, muss alles tun, um die Gräben zu überwinden. Dabei hilft, die Perspektive des Anderen zu kennen und mitzudenken.
Machen wir uns eigentlich ausreichend bewusst, dass die im Osten stärker verbreitete Ablehnung gegenüber Immigration auch die Kehrseite einer immensen Abwanderung ist? Dass dort die Angst vor dem demografischen Verschwinden herrscht? Bulgarien büßte seit 1989 über ein Fünftel seiner Bevölkerung ein; fast dreieinhalb Millionen Rumänen, darunter vor allem Jüngere, gut Ausgebildete, verließen nach der Wirtschaftskrise von 2008 das Land. Eine Migration übrigens, von der die wohlhabenden Regionen Deutschlands und Westeuropas erheblich profitiert haben und profitieren.

Die gewachsene Distanz zwischen uns und unseren östlichen Nachbarn beruht insofern auch auf einem Mangel an Wissen und Verständnis für die Gesellschaften jenseits des ehemaligen Eisernen Vorhanges. Der bulgarische Politologe Ivan Krastev und der Rechtswissenschaftler Stephen Holmes von der New York University haben jüngst die These vom Nachahmungsimperativ entwickelt, der für die mittel- und osteuropäischen Gesellschaften nach der Epochenwende vor 30 Jahren gegolten habe und dem diese auch bereitwillig folgten: Sie importierten demokratische Institutionen, freie Marktwirtschaft und westliche Politikrezepte – und sie nahmen überdies das Rechts des Westens hin, ihren Erfolg beim Erfüllen westlichen Idealstandards zu bewerten. Das ging auf Kosten der nationalen Selbstachtung. Erschwerend wirkte sich aus, dass sich die liberalen Eliten in den postkommunistischen Staaten am postnationalen Universalismus vor allem deutscher Prägung orientiert hätten. Dabei lief dieses Leitbild, das sich aus der spezifisch deutschen Schulderfahrung speist, dem verbreiteten Bedürfnis vieler Osteuropäer gerade nach nationaler Selbstbestimmung entgegen. Ein Bedürfnis, das doch ein zentrales Motiv für die Überwindung der sowjetischen Herrschaft war. Die besondere Betonung nationaler Eigenständigkeit, illiberale Tendenzen in manchen mittel und osteuropäischen Staaten wurzelten insofern in der Abwehr der mit der Nachahmung verbundenen Gefühle von Minderwertigkeit und Erniedrigung und in der Sehnsucht nach einem starken Nationalgefühl.
Das ist eine These, die, wie ich finde, einiges plausibler macht, die vor allem aber auch kritische Fragen an uns, an Deutsche und Westeuropäer, richtet – zumal es genügend Anlässe aus den vergangenen drei Jahrzehnten gibt, die freiheitliche Demokratie als überlegenes Modell zu hinterfragen, etwa mit Blick auf den ökonomischen Aufstieg Chinas, die globale Finanzkrise oder die gescheiterte Intervention im Irak. Wenn wir heute beklagen, dass in einigen mittel- und osteuropäischen Ländern und auch in Russland die Werte des Westens an Attraktivität verloren haben: Liegt das nicht vielleicht auch an der Rolle, die der Westen in der Transformation gespielt hat? An einem zu selbstgefälligen Glauben an die Alternativlosigkeit der eigenen Konzepte und Modelle. Hat der Westen womöglich gerade bei dem versagt, was ihn doch eigentlich auszeichnet und von autoritären Systemen unterscheidet: In seiner Fähigkeit zur Selbstkritik und Selbstkorrektur?

Wenn es stimmt, was Krastev und Holmes sagen – dass es bei den Entwicklungen in den osteuropäischen Gesellschaften nicht so sehr um politische Ideologie, sondern um politische Psychologie geht – dann ist es umso wichtiger, Gesten moralischer Überlegenheit zu unterlassen und den Partnern auf Augenhöhe zu begegnen. Das bedeutet auch zu akzeptieren, dass man die gemeinsam geteilten Werte unterschiedlich interpretieren kann. Im Zweifel entscheiden über divergierende Auffassungen Gerichte – auf Basis der von allen freiwillig akzeptierten Regeln. Solange Urteile anerkannt und dann auch umgesetzt werden, steht es niemandem zu, anderen zu erklären, wie Demokratie „richtig geht“. Schon gar nicht sollten wir versuchen, den Polen, Ungarn oder Tschechen, die vor 30 Jahren für sich Demokratie erkämpft haben, das erklären wollen, was uns im Westen als selbstverständlich scheint. 

Die Perspektiven der Mittel- und Osteuropäer und ihre spezifischen Interessen ernstnehmen, anerkennen und sie in die europäische Willensbildung einbeziehen – nur so verhindern wir einen dauerhaften Keil zwischen Ost und West. Und nur so kommen wir in den großen, strittigen Fragen voran. Ohne das sture Beharren auf festen Verteilquoten auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise wären wir heute vielleicht näher an einer europäischen Lösung, die die Lasten gerechter verteilt und trotzdem den spezifischen Umständen in den unterschiedlichen Staaten Rechnung trägt.

Eine Reform des europäischen Asylrechts ist nicht nur aus humanitären Gründen dringend geboten. Auch hier steht die Glaubwürdigkeit der EU auf dem Spiel. Angesichts eines absehbar schwierigen Gesetzgebungsverfahrens ist es allemal besser mit pragmatischen Schritten anzufangen als gar nicht. Dazu gehört das viel gescholtene EU-Türkei-Abkommen; dazu könnte auch eine „Koalition der Aufnahmewilligen“ zählen, damit nicht jedes Mal neu um die Verteilung von Flüchtlingen gefeilscht werden muss. Die europäischen Staaten werden sich über praktikable Anerkennungsverfahren verständigen müssen. Über die Einrichtung von Rettungs- und Asylzentren außerhalb der EU. Da sind keine einfachen Lösungsvorschläge denkbar, auch keine optimalen. Aber wollen wir unsere Grundwerte nicht gänzlich aufgeben, wird es die gemeinschaftliche Initiative zum Schutz der europäischen Außengrenzen und der Menschen beiderseits dieser Grenzen brauchen.
Vor allem braucht es das Eingeständnis, dass wir angesichts der großen Wanderungsbewegungen vor Dilemmata stehen, aus den es keinen „moralisch sauberen“ Ausweg geben kann: Dass wir auf die Zusammenarbeit mit zweifelhaften Kräften und Regimen in Transit- und Herkunftsregionen angewiesen sind, um praktikable Verfahren zu finden. Dass wir unserer humanitären Verantwortung gerecht werden und zugleich die Kontrolle aufrechterhalten müssen. Dass die Rettung von Menschen aus Seenot, zu der wir verpflichtet sind, und ihr Transport in europäische Häfen zugleich einem zynischen Schlepperwesen in die Hände spielt. Gerade aus diesem Dilemma werden wir wohl nur herausfinden können, wenn wir uns als fähig erweisen, in Nordafrika Zentren einzurichten, in die wir diese Menschen zurückbringen. Um keine falschen Anreize zu setzen. In Zentren, in denen wir menschliche Lebensbedingungen sicherstellen und die wir schützen müssen, unter dem Dach der Vereinten Nationen etwa, mit dem Engagement aller europäischen Staaten. Auch militärisch, auch mithilfe der Bundeswehr. Ich bin übrigens überzeugt, dass sich nicht zuletzt die Europäer in eine solche Mission einbringen würden, die sich aus welchen Gründen auch immer der Verteilung von Migranten bislang verweigern.

So sind wir immer gezwungen, moralische Kompromisse zu machen – oder wir werden handlungsunfähig in einer nicht perfekten Welt, die uns regelmäßig nicht vor die Wahl zwischen „gut“ und „böse“ stellt, sondern vor die Herausforderung, zwischen mehreren suboptimalen Lösungen die bessere – oder eben: am wenigsten schlechteste – zu wählen.

Die europäischen Staaten können sich nicht entziehen – nicht der Komplexität der Welt im 21. Jahrhundert, nicht ihrem unaufhaltsamen, beschleunigten Wandel, nicht dem weltweiten Wettbewerb. Ich bin überzeugt: Europa kann mehr – unter dem Druck der globalen Herausforderungen werden sich europäische, auch nationale Selbstblockaden auflösen lassen. Ohne unpopuläre Debatten, ohne die Fähigkeit zum Kompromiss, ohne zähe Verhandlungen und unbequeme Entscheidungen wird es nicht gehen. Anders gesagt: Es braucht politischen Willen und politische Führung – in Brüssel und in den europäischen Hauptstädten.
Wenn wir nicht wollen, dass das europäische Zeitalter endet, dann müssen wir Europäer die großen Zukunftsaufgaben angehen – gemeinsam und sehr viel entschiedener als bislang: die natürlichen Lebensgrundlagen erhalten, Regeln für die zunehmend globalisierte und digitalisierte Welt setzen, den eigenen Bürgern Sicherheit garantieren und zugleich mehr Verantwortung für die Sicherheit und die Entwicklung in der Welt zu übernehmen.

Das ist selbstredend alles sehr viel einfacher gesagt als getan. Die Aufgaben sind gewaltig. Aber große Aufgaben machen erfinderisch, sie mobilisieren Kräfte und stärken im besten Fall das Vertrauen, Veränderungen gewachsen zu sein und Großes leisten zu können.
Alexander von Humboldt schrieb einst selbstbewusst an den preußischen König: „Das Schwierige erscheint mir nie unmöglich.“ Ein guter Leitsatz für alle, denen an der Zukunft Europas liegt.

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