Rede von Bundestagspräsident Dr. Wolfgang Schäuble bei der Konrad Adenauer Stiftung: „Über Identitäten“ (Karl-Carstens-Rede)
[Es gilt das gesprochene Wort]
„Identitätskrise“ – das Schlagwort machte gerade die Runde, als Karl Carstens 1979 Bundespräsident wurde. Damals ging es um die Frage deutscher Identität, zu einer Zeit, als sich die ideologischen Blöcke in Ost und West atomar hochgerüstet gegenüberstanden. Als der Gedanke an die deutsche Einheit in Teilen der westdeutschen Gesellschaft bereits so verblasst war, dass selbst Willy Brandt Hoffnungen auf eine Wiedervereinigung als bloße „Lebenslüge“ abtat. Selbst wenn er später Kritikern gegenüber einwandte, er habe auf Träume eines neuen Bismarckschen Reiches gezielt: Es bleibt bezeichnend für das gesellschaftspolitische Klima der Jahre, in denen Karl Carstens an der Spitze unseres Staates stand. Das Ende seiner Amtszeit bestimmten mit dem Wechsel von der sozialliberalen zur christlich-liberalen Koalition die Debatten um die sogenannte „geistig-moralische Wende“. Auch sie drehte sich wieder wesentlich um das Verhältnis der Deutschen zur Nation.
Carstens selbst hat stets betont, wie wichtig die Beziehung zur eigenen Nation, zur eigenen Herkunft ist: Um seinen Standort in der Gegenwart zu bestimmen – und um die Richtung zuverlässig festzulegen, in die man gehen will. In west-deutschen Selbstzweifeln sah er noch 1988 eine Anomalie unter den europäischen Nationen, die sich zu Recht fragen würden, was sich eigentlich hinter der „neuen Maske des fehlenden Nationalbewusstseins“ verberge.
Ein Jahr später fiel in Berlin die Mauer, und es begann zusammenzuwachsen, was zusammengehört. Die Frage, was uns eint, was uns und dieses Land ausmacht, gewann dadurch neu an Brisanz. Dabei zeigten die grundstürzenden Ereignisse vor 30 Jahren, an die wir gerade erst wieder aufwändig erinnert haben, dass es auch über die Teilung hinweg ein emotionales Band gegeben hatte. Ein Zusammengehörigkeitsgefühl, das sich stärker erwies als etwa der bloße „Verfassungspatriotismus“, den bundesrepublikanische Intellektuelle an die Stelle eines einheitsstiftenden Nationalbewusstseins setzen wollten.
Allein durch den Bezug auf politische Institutionen kann Identität nicht erreicht werden. Der „Verfassungspatriotismus“ kann nicht erklären, warum wir beim Länderspiel Deutschland gegen Frankreich unsere eigene Mannschaft anfeuern, obwohl beide Seiten ähnliche politische Werte vertreten. Wenn wir uns einem Gemeinwesen zugehörig fühlen wollen, muss es etwas geben, was uns auf einer tieferen menschlichen Ebene miteinander verbindet.
Deshalb lohnt es, über Identität nachzudenken. Über das, was heute ein Gefühl von Zugehörigkeit stiftet – zumal viele Debatten derzeit eher den Eindruck vermitteln, als wären wir uns vor allem darin einig, wie uneins wir uns sind. Das menschliche Bedürfnis nach Geborgenheit in vertrauten Lebensräumen trifft auf eine als ungemütlich empfundene Welt voller Konflikte, Krisen, Kriege und medial präsentem Schrecken. Der rasante gesellschaftliche Wandel ist für viele Menschen mit Sorgen vor dem Verlust von Identität verbunden. Sie fürchten, von den Veränderungen überrollt zu werden, einer immer komplexeren Welt ausgeliefert zu sein. All das wirft Fragen nach Bindungen, nach Zugehörigkeit, nach Identität auf.
Vom Theologen Richard Schröder stammt diese schöne und zugleich treffende Aussage über das, was uns ausmacht: Deutsch-sein ist nichts Besonderes, aber etwas Bestimmtes.
Aber wissen wir, was dieses Bestimmte ist?
Ähnlich der Heimat, die uns gefühlsmäßig fast noch stärker scheint, wenn wir weit weg von ihr sind oder sie verloren haben, stellen wir auch Identitätsfragen vor allem dann, wenn wir uns unserer selbst nicht mehr so ganz sicher sind.
Identität entsteht immer durch die Begegnung mit dem Anderen. In einem Gegenüber. Gerade in der Abgrenzung können wir uns selber erkennen. Das gilt im Persönlichen und es gilt für Kollektive, nicht zuletzt für Gesellschaften und Nationen. Selbst- wie Fremdwahrnehmung klaffen oft auseinander. Wie der Blick von außen unser Selbstbild schärfen kann, wie erhellend es ist, mit Fremdwahrnehmungen konfrontiert zu werden, das hat vor einigen Jahren der schottische Historiker Neil MacGregor gezeigt: mit seiner großen Ausstellung über Deutschland, die erst im British Museum für Furore sorgte und dann in Berlin durch den britischen Blick verblüffte – nicht zuletzt, weil Mc Gregor bewies, dass man die deutschen Merkwürdigkeiten auch mit Humor betrachten kann. Die besondere Faszination, die ein Bollerwagen deutscher Vertriebener auf die Besucher in London ausübte, erklärte er zum Beispiel damit, die Vorstellung, dass 12 bis 14 Millionen Deutsche ihre Heimat verlassen mussten und nach Deutschland zogen, sei für Briten in etwa so, als „würde ganz Australien ins Königreich zurückkommen.“
Wer in einer Gesellschaft die Identitätsfrage stellt, fragt nach dem Zusammenhalt – und umgekehrt: Wo das Gefühl vorherrscht, Bindungen schwinden, werden Identitätsfragen virulent. Wir spüren doch, dass unsere Gesellschaften unter den Bedingungen von Globalisierung und Digitalisierung heterogener, unübersichtlicher und konfliktreicher werden. Soziale Kohärenz gerät vielerorts in Gefahr.
Soziologen, die sich derzeit so intensiv wie lange nicht mit Spaltungen in unserer Gesellschaft befassen, haben nicht mehr vorrangig ökonomische und soziale Ungleichheiten im Blick. Sie beschreiben eine gesellschaftliche Zersplitterung in verschiedene Lebenswelten – in vorwiegend kulturell bestimmte Lebensstile, die kaum noch kompatibel seien. Eine ihrer Bruchstellen verlaufe demnach im Verhältnis zur global vernetzten Welt: ob man ihr selbstbewusst zukunftsoffen begegne oder rückwärtsgewandt mit Furcht und Ablehnung. Zwischen den viel zitierten mobilen „Anywheres“ einerseits, deren Identität auf Bildungs- und Berufserfolgen basiere, und den sicherheitsorientierten, heimatverbundenen „Somewheres“ andererseits. Deren Identität gründe in einer Orts- und Gruppenzugehörigkeit. Die Kluft dazwischen scheint tief, manchmal führt sie zu gegenseitiger Verachtung. Dann, wenn der Überlegenheitsanspruch der einen auf das Gefühl der anderen trifft, gesellschaftlich ignoriert zu werden.
Gerade die sogenannte „Generation Mitte“, also die 30-59-Jährigen, beklagt, dass der Zusammenhalt immer weiter abnehme. Neben sozialen und kulturellen Aspekten wirken auch politische Einstellungen heute wieder verstärkt polarisierend – und noch immer: der ost- bzw. westdeutsche Hintergrund. Erst diesen Sommer legte eine Studie offen, dass sich ein spezifisch ostdeutsches Identitätsgefühl verfestigt. Während sich 71 Prozent der Westdeutschen in erster Linie als Deutsche und nicht als Westdeutsche sehen würden, identifizierten sich viele Ostdeutsche nach wie vor mit ihrem früheren Staatsgebiet: mehrheitlich sehen sie sich in erster Linie nicht als Deutsche, sondern als Ostdeutsche. Ein bemerkenswerter Befund – 30 Jahre nach der staatlichen Einheit, die womöglich für viele inzwischen so selbstverständlich scheint, dass sich das emotionale Band zwischen den Menschen in Ost und West lockert. Und die eine Generation nach dem Mauerfall eine eindeutige Zuschreibung oftmals gar nicht mehr zulässt – wohin zählt denn jemand, der seit 30 Jahren in Passau lebt, aber aus Grimma stammt. Was ist mit den Kindern, deren ursprünglich aus Bremen umgezogene Eltern seit dreißig Jahren in Greifswald leben?
Aber: Als noch immer zu groß empfundene Unterschiede zwischen den Lebensbedingungen in Ost und West, ein Mangel an westdeutscher Anerkennung ostdeutscher Lebensleistungen, selbst erfahrene und inzwischen über Generationen tradierte Kränkungen im Transformationsprozess der 90er Jahre, die sich gerade in der negativen Wahrnehmung der Arbeit der Treuhand manifestieren, schließlich die demographischen Auswirkungen der Abwanderung von Ost nach West: Das alles bildet heute ein Gemisch für eine Identität, die die Spaltung zwischen Ost und West eher zementiert als sie zu überwinden hilft. Manch einer pflegt auch bewusst Herabsetzungsgefühle und damit den eigenen Opferstatus, statt selbstbewusst darauf zu verweisen, den Menschen im Westen eine Erfahrung vorauszuhaben: die Anpassung an massive gesellschaftliche Umwälzungen. Eine wertvolle Erfahrung, insbesondere seit wir sehen, dass die Zumutungen von Globalisierung und Digitalisierung vor den westlichen Gesellschaften nicht Halt machen. Das in Ost und West gesamtgesellschaftlich zu erkennen und besser noch: gemeinsam zu nutzen, könnte viel und nachhaltig zur inneren Einheit beitragen.
Allen Säkularisierungs- und Individualisierungsprozessen zum Trotz, mit denen die herkömmlichen Träger von Identität wie Religion, Nation oder Klasse an Bedeutung verloren haben: Wir alle kommen ohne Identität nicht aus, weil sie uns „Konturen, Gewohnheiten, Werte, eine Art von Sinn und Ziel“ geben. Das sagt der britische Philosoph und Identitätsforscher Kwame Anthony Appiah, der gleichzeitig betont, dass sich Identität nicht einfach wählen lasse: „Identitäten funktionieren nur, weil sie uns, wenn sie uns erst einmal im Griff haben, lenken … und weil auch andere, die etwas Bestimmtes in uns sehen, uns entsprechend ansprechen.“ Das gilt für das Individuum wie für Gemeinschaften. Sie dürfen nur nicht zu Gefängnissen werden. Denn Gruppenidentitäten ist immer die Ambivalenz eigen, Zusammengehörigkeit nach innen zu schaffen, indem sie die Abgrenzung nach außen schärfen. Das eine geht nicht ohne das andere. Davon erzählt nicht zuletzt die gewalttätige Geschichte der Nationen als eine der wirkmächtigsten Fiktionen von Zugehörigkeit. Der Mythen-Forscher Herfried Münkler hat gezeigt, wie die großen Erzählungen unsere nationale Identität geformt haben. Ihre nach Innen bindend wirkende, mobilisierende Kraft durch Ab- und Ausgrenzung – in dem sie dazu zwingt, sich anzupassen.
Identität, und mit ihr die Frage, wer eigentlich dazugehört, berührt damit das sensible Verhältnis von Mehrheit und gesellschaftlichen Minderheiten. Es braucht deshalb einen verantwortungsbewussten Umgang damit. Geht die Balance verloren, so wie im übersteigerten Nationalismus, sind die Folgen verheerend, nach innen wie nach außen. Wir Deutschen wissen das aus eigener Erfahrung nur zu gut.
Karl Carstens hat stets den verantwortungsvollen Umgang mit der Gesamtheit der Erfahrungen betont, die wir selbst gemacht haben oder aus denen uns als Nachgeborenen eine besondere Verantwortung erwächst. Mit der Geschichte als dem schicksalhaften Band, das uns als Nation verbindet. Die Teil unserer Identität ist. Carstens mahnte zugleich: „Wer sich nicht auch positiv identifizieren kann, wird wohl vergeblich nach Identität suchen.“ Das war auf dem Historikertag 1982 – wenige Jahre, bevor der Historikerstreit offenlegte, dass den Deutschen ein „geläutertes“, „unverkrampftes Verhältnis zur eigenen Vergangenheit“, wie es Carstens vorschwebte, wohl unmöglich bleiben würde. Unser Land wurde, was es heute ist, weil es den Mut fand, sich in teils quälenden Auseinandersetzungen seiner Vergangenheit zu stellen – eine Aufgabe, die keinen Schlussstrich kennt. Dazu mahnen Versuche in der letzten Zeit, sich aus der historischen Verantwortung stehlen zu wollen.
Gleichzeitig hat Carstens Gedanke, dass es neben unseres verantwortungsvollen Umgangs mit den Abgründen deutscher Schuld auch eine positive Identifikation mit der Gemeinschaft und dem Staat braucht, in dem wir leben, nichts an Aktualität eingebüßt. Im Gegenteil: Gerade in einem Land, das von Zuwanderung geprägt ist, braucht es solche Identifikationsangebote für diejenigen, die zu uns kommen und hier neuen Halt suchen – und das nicht selten aus Gemeinschaften mit starker eigener Identität. Sonst bestellen andere das Feld. Sasa Stanisic, der diesjährige Träger des Deutschen Buchpreises, erzählt in seinem autobiografischen Werk „Herkunft“ eindrücklich vom „Identitätsstress“ derer, die nicht mehr da leben dürfen oder wollen, wo sie geboren wurden. Davon, was einem Abstammung und Familienwurzeln geben, aber auch vorenthalten können.
Von Kwame Anthony Appiah stammt das schöne Bild, dass das Nationalgefühl kein Mineral sein muss, das man ausgräbt, sondern ein Stoff, den es zu weben gilt. Nationale Identität setze nicht voraus, dass wir alle bereits dieselben wären, also im Herder’schen Sinne von einem einheitsstiftenden ‚Volksgeist‘ beseelt. Es braucht aber eine gemeinsame Erzählung. Und eine Aufgabe. Unser Ziel muss sein, eine Basis des Zusammenlebens zu finden, auf der niemand seine eigene Identität, seine kulturellen Wurzeln aufgeben muss, wir andererseits aber offen genug sind, um uns aufeinander einzustellen und uns als Teil eines Gemeinwesens zu fühlen.
Erst Teilnahme ermöglicht schließlich auch Teilhabe: Jede demokratisch verfasste Gemeinschaft braucht Bürgerinnen und Bürger, die sich mit ihr identifizieren, die sich ihr zugehörig fühlen. Nur so vertrauen sie sich in Freiheit und in den rechtsstaatlichen Grenzen dem Mehrheitsentscheid an. Dazu sind gemeinsame Erfahrungen, Mythen oder Bedrohungen erforderlich. Aber ganz sicher sind dafür auch gemeinsame Öffentlichkeit und Kommunikation eine – wenn nicht hinreichende, so doch zumindest notwendige – Bedingung.
Für jedes demokratische Gemeinwesen wird deshalb die Zersplitterung ihrer Öffentlichkeit zu einer Herausforderung. Und deshalb heißt es inzwischen auch in Deutschland, das Allgemeine müsse wieder neu austariert werden gegenüber dem Besonderen, nach dem so viele in unseren Gesellschaften streben. Aber wie, wenn sich in der „Gesellschaft der Singularitäten“, von der der Soziologe Andreas Reckwitz spricht, doch gerade ein gemeinsamer Erfahrungs- und Diskursraum aufzulösen scheint?
Was eine plural verfasste Gesellschaft zusammenhält und in der Vielfalt ein Gefühl des Miteinanders entstehen lässt, hat auch damit zu tun, Konflikte auszuhalten und darauf vorbereitet zu sein; es hat mit Bindekräften wie Toleranz, Respekt, Vertrauen und Empathie zu tun.
Stattdessen erleben wir, dass die politischen Debatten rigider geführt werden, als wir es lange gewohnt waren, und zunehmend unversöhnlich – bis hin zu offener, mörderischer Gewalt.
70 Jahre nach Verabschiedung des Grundgesetzes führen wir tatsächlich gegenwärtig eine Debatte über Meinungsfreiheit – nicht etwa weil irgendjemand Artikel 5 GG antasten wollte. Sondern weil die Prozesse der Meinungsbildung unter den Bedingungen der Digitalisierung ungleich komplexer geworden sind. Die ZEIT stellte unlängst fest, mit der „Vergesellschaftung der Produktionsmittel der Kommunikation“ seien die Erwartungen an das, was man sagen dürfe, gestiegen. Die grenzenlosen Möglichkeiten der Kommunikation im Netz ließen die früher ausgehandelten Barrieren, was zu sagen noch sozial akzeptiert sei, als „Beschneidung der individuellen Entfaltung“ erscheinen.
Dass sich hier zwei Spiralen verschlingen, wurde bereits zuvor an gleicher Stelle konstatiert: eine „Schweige“- und eine „Schreispirale“. Zwar kann in diesem Land alles frei gesagt werden und in bislang nicht gekanntem Ausmaß wird davon Gebrauch gemacht – gerade in den Sozialen Medien oftmals auf unsägliche Weise. Andererseits fühlen sich immer mehr Bürger und unter ihnen auffallend viele junge Menschen in ihrer Freiheit eingeengt, ihre Meinung offen zu äußern. Weil sie fürchten, sozial geächtet zu werden. Manchmal womöglich auch zu Recht.
Auch in akademischen Kreisen erleben wir Tendenzen, die wir bislang vor allem aus den USA kannten: In moralisierender und rechthaberischer Abkehr von Toleranz wird die Freiheit des Arguments eingeschränkt. Werden im Schutze eigener Anonymität öffentliche Attacken gegen politisch missliebige Lehrende gefahren und diese persönlich verächtlich gemacht – um zu bestimmen, worüber diskutiert und was gesagt werden darf. Und es wird inzwischen auch hier darüber diskutiert, Studierende vor selbst empfundenen Zumutungen oder auch nur möglichen Kränkungen einer modernen, komplexen und pluralen Welt beschützen zu wollen.
Um dieser Entwicklung noch rechtzeitig zu begegnen, sollten wir ernst nehmen, wovor bedeutende angelsächsische Denker warnen. Der Politikwissenschaftler Mark Lilla etwa konstatiert, in Umkehrung des alten Slogans „Das Private ist politisch“ werde das Politische heute zum bloßen Teil privater Identität. Mit der fatalen Folge, dass die Bereitschaft sinke, sich mit politischen Themen zu beschäftigen, die nicht die eigenen Interessen und die eigene Identität berühren. Die emanzipative Frage „In welcher Welt wollen wir leben?“ sei hinter die Frage „Wer sind wir?“ zurückgetreten, heißt es. Auch Lillas Kollege Francis Fukuyama sieht die politische Debatte heute quer zu den überkommenen ideologischen Gräben identitätspolitisch aufgeladen. Die kleinteiligen Identitätsgruppen zielten nicht mehr wie die sozialen Bewegungen, als Karl Carstens noch Politik machte, primär auf Chancengerechtigkeit oder rechtliche und ökonomische Gleichheit. Ihnen ginge es vor allem darum, einer breiten Vielfalt benachteiligter Minderheiten gesellschaftliche Anerkennung zu verschaffen, für sie seitens der Mehrheit nicht nur Respekt einzufordern, sondern Zustimmung zu erwarten.
Der Aufmerksamkeits-Haushalt einer Gesellschaft ist jedoch begrenzt, der Terraingewinn des einen bedeutet folglich das Zurückdrängen des anderen und produziert dadurch neue Kränkungen – mit der Folge einer fast schon grotesken Umkehrung, dass sich Mehrheiten durch lautstarke Minderheiten bedroht glauben. Am Ende geht es auch hier wieder darum, nicht zu übertreiben. Der Erfolg Donald Trumps oder der Ausgang des Brexit-Referendums zeigen eindrücklich, dass sich auch Opfer-Gefühle des viel zitierten alten weißen Mannes instrumentalisieren lassen. Selbst wenn immer wieder darauf verwiesen wird, linke Identitätspolitik gelte der Minderheit, rechte dagegen der Sicherung von Mehrheitsansprüchen: Indem es vor allem darum geht, Menschen über erlittene Kränkungen zu mobilisieren, verschwimmt bei dieser Form der Identitätspolitik der Unterschied zwischen rechts und links.
Zu Recht wird darauf hingewiesen, dass man zwar einen schlechten Charakter haben könne, aber keine schlechte Identität. Letztere verpflichte deshalb die anderen als solche schon zur Akzeptanz. Wer sich auf seine Identität beruft, entzieht sich der gesellschaftlichen Auseinandersetzung, dem kritischen Austausch miteinander. Probleme vorrangig als kulturell bedingt zu betrachten, engt vor allem den politischen Handlungsspielraum ein. Größere Verteilungsgerechtigkeit ließe sich aushandeln, im politischen Kompromiss, lautet der Einwand. Kulturell begründete Identität hingegen erzeuge Gefühle, auf die politisch viel schwerer reagiert werden könne. Zumal es oftmals nicht mehr drauf ankommt, was gesagt wird, sondern nur noch wer es sagt, wie Mariam Lau es auf den Punkt gebracht hat. Nur wer selbst Teil der Gruppe ist, sei dann legitimiert, über sie nachzudenken, zu forschen, zu sprechen; also nur Schwarze über Sklaverei, Frauen über Sexismus – oder eben Ostdeutsche über die DDR.
Dem politischen Diskurs, der gesellschaftlichen Debattenfähigkeit und letztlich der demokratischen Meinungsbildung leistet diese Form der Identitätspolitik einen Bärendienst. Es entsteht ein gesellschaftliches Klima, in dem es nicht mehr um den Wettstreit sachlicher Argumente geht, sondern nur noch um Meinungsführerschaft, darum, Recht zu haben. In dem lautstark und mit größter moralischer Unbedingtheit das Recht auf eine andere Meinung bestritten wird.
Im demokratischen Streit ist die Auseinandersetzung zwischen Menschen mit verschiedenen Wertvorstellungen aber normal. Gesinnung ist legitim. Und Kritik am Bestehenden zulässig. Mehr noch: Sie ist notwendig. Jede Seite muss sich dabei gefallen lassen, dass ihre Argumente immer auch am moralischen Anspruch gemessen werden. Aber wer sich vom Standpunkt des vermeintlich moralisch Erhabenen gesinnungsethisch den Luxus einer aufs eigene Ideal gerichteten Absolutheit leistet, verzichtet auf seine politische Gestaltungsfähigkeit. Denn in der Komplexität der modernen Welt geraten wir moralisch ständig in ein Dilemma. Das muss eine offene Gesellschaft aushalten – und jeder von uns einen inneren Kompromiss finden. Um Wirklichkeit und Ideal zusammenzubringen. Um die Bedingungen, unter denen wir in einer sich immer weiter verändernden Welt zukünftig leben wollen, selbstverantwortlich zu gestalten. Das ist keine Anleitung zum Zynismus – und keine Aufforderung, unmoralisches Handeln unwidersprochen zu lassen. Aber überfordern wir den Menschen auch nicht moralisch. Zweifel sind erlaubt, Gelassenheit und ein realistisches Bild vom Menschen in seiner Unzulänglichkeit und Fehlbarkeit. So ist der Mensch, so ist die menschliche Gesellschaft.
Vor allem müssen wir uns die Fähigkeit erhalten, andere, womöglich sogar abwegige Meinungen auszuhalten, mit ihnen fair umzugehen und in einen sachorientierten, produktiven Streit zu treten. Dazu braucht es Selbstvertrauen, aber nicht die Selbstgerechtigkeit eines geschlossenen Weltbildes. Joachim Gauck hat Recht, wenn er fordert, weniger auszugrenzen und mehr zu streiten. Nicht jeder mit einer anderen Meinung sei gleich ein Antidemokrat, sagt unser früherer Bundespräsident – und richtet seinen Blick auf linksliberale Kreise, die pauschal alles ablehnen, was rechts von der politischen Mitte ist. Aber nicht alles, was der Mainstream nicht akzeptiert, so Gauck weiter, sei deshalb gleich verfassungsfeindlich, sondern vielleicht nur altmodisch, konservativ, vielleicht sogar reaktionär – aber deshalb doch noch lange keine Straftat oder moralisch so verwerflich, dass es aus dem Diskurs verbannt werden müsste.
Wer wie Joachim Gauck mehr Toleranz einfordert, redet keinem Werte-Relativismus das Wort. Nicht alles ist verhandelbar. Ohne Haltung geht es nicht, es braucht einen klaren Standpunkt, an dem wir uns orientieren und unser Handeln ausrichten. Die notwendige Unterscheidung zwischen dem Sagbaren und dem Unsäglichen folgt einer gesellschaftlichen Übereinkunft, ungeschriebenen Regeln des Anstands – und einer rechtlichen Grenze. Diese Grenze ist nicht einfach zu ziehen, das zeigen die umstrittenen Urteile deutscher Gerichte in letzter Zeit. Aber es gibt sie – und darauf müssen wir bestehen. Die offene Gesellschaft muss hier stets neu die richtige Balance finden, das ist ihre conditio sine qua non. Der Auftrag lautet noch immer in den Worten Karl Poppers: „Uneingeschränkte Toleranz führt mit Notwendigkeit zum Verschwinden der Toleranz. Denn wenn wir die uneingeschränkte Toleranz sogar auf die Intoleranten ausdehnen, wenn wir nicht bereit sind, eine tolerante Gesellschaftsordnung gegen die Angriffe der Intoleranz zu verteidigen, dann werden die Toleranten vernichtet werden und die Toleranz mit ihnen.“
Anstelle immer kleinteiligerer Gruppenidentitäten braucht es nach Auffassung von Mark Lilla die Rückbesinnung auf „etwas, was wir alle teilen, was aber nichts mit unseren Identitäten zu tun hat“. Für einen Linken wie Lilla ist das die staatsbürgerschaftliche Gleichheit.
Also doch bloß Verfassungspatriotismus? Es bleibt wohl komplizierter, denn am Ende hat alle Politik eine identitätspolitische Dimension. Entscheidend ist, ob sie Mittel zum Zweck ist, also der Durchsetzung ebenso berechtigter wie anfechtbarer politischer Anliegen dient. Oder ob sie das Ziel selbst ist. Wir sollten jedenfalls nicht dem Trugschluss erliegen, allein mit den Mitteln sozialer Verteilungsgerechtigkeit alle Probleme lösen zu können. Wohlstand und auch Armut sind sehr relative Begriffe, so wie das Glück. Wir spüren doch, wie inmitten unseres Wohlstands Verunsicherung wächst. Verantwortungsvolle Politik muss deshalb immer auch im Blick haben, dass man sein Leben so führen kann, dass man mit sich im Einklang ist. Dass man sich verwurzelt fühlt, geborgen ist, dass man Halt hat, ein zu Hause. Kurz: Dass das Bedürfnis nach Zugehörigkeit befriedigt wird, der Drang, sich zu identifizieren mit etwas. Bindungen, aus denen – nochmal – demokratische Teilhabe erwächst.
Mich fasziniert in diesem Zusammenhang seit Jahren eine These des Entwicklungsökonomen Dani Rodrik. Er nennt sie das „fundamentale Trilemma“ der Weltwirtschaft: Nationalstaat, Demokratie und grenzenlose Globalisierung seien demnach unvereinbar, so Rodrik. Wir könnten nicht gleichzeitig Demokratie, nationale Selbstbestimmung und wirtschaftliche Globalisierung betreiben, bei der es den globalen Märkten an Begrenzung durch Regeln einer demokratisch legitimierten Weltregierung fehlt.
Wir können eben nicht alles haben. In der globalisierten Welt sehen wir uns zwar zunehmend vor Menschheitsaufgaben gestellt, nicht zuletzt mit der Bewahrung der eigenen Lebensgrundlagen. Die Vorstellung einer Welt-Identität ist aber unrealistisch. Demokratie, also die Teilhabe der Menschen daran, wie die Herausforderungen zu bewältigen sind, werden wir deshalb auch weiterhin nur in kleineren Einheiten schaffen können. Für Francis Fukuyama, der stärker als Lilla das politische Potenzial von Gefühlen betont, gewinnt deshalb gerade die Nation neu an Gewicht: Größere und einheitlichere nationale Identitäten, die gleichzeitig aber „die Mannigfaltigkeit liberaler demokratischer Gesellschaften berücksichtigen.“ Und die sich als fähig erweisen müssen, bei der Bewältigung der großen globalen Aufgaben miteinander statt gegeneinander zu agieren.
Nationalstaaten gehören jedenfalls weiter zur politischen Realität – und zur europäischen Wirklichkeit. Deshalb wird, wer die europäische Einigung als historisch beispiellosen Versuch eines Nationenübergreifenden Miteinanders gegen das Bedürfnis der Menschen nach nationaler Identität auszuspielen versucht, Europa auch nicht stärken, sondern im Ergebnis schwächen. Umso wichtiger wird allerdings, das zentrale Verständnis dafür zu stärken, dass kein europäisches Land ohne Europa noch eine Zukunft hat. Identitäten sind formbar, sie können sich verändern, deshalb müssen wir daran arbeiten, dass sich eine europäische Identität herausbildet. Ein Gemeinschaftsgefühl, das sich aus den historischen Wurzeln und kulturellen Grundlagen speist. Das aber auch der Überzeugung folgt, dass wir die globalen Ordnungsfragen im europäischen Sinne nur wirkungsvoll beantworten können, wenn wir es als Europäer gemeinsam tun. Indem wir diese Welt in Bewegung mit unseren Werten und Überzeugungen gestalten. Eine solche „Bekenntnisidentität“ beruht darauf, Verschiedenheit zu akzeptieren, die Vielfalt legitimer Interessen, Blickwinkel und Meinungen anzuerkennen und die eigenen Vorstellungen nicht zum Maß aller Dinge zu erklären – als der gedankliche Schlüssel, um ein Mehr an Gemeinsamkeit zu schaffen.
In den Vorstellungen Karl Carstens stand das geeinte Europa über den Nationen. Aber innerhalb Gesamteuropas sollten die Deutschen das Bewusstsein ihrer Zusammengehörigkeit bewahren, so wie es alle anderen europäischen Völker auch tun. Am Ende geht es eben innerhalb wie zwischen den europäischen Gesellschaften um das Spannungsverhältnis von Einheit und Vielfalt. Um die Frage, wie beides möglich ist: der Vielfalt Raum zu geben und dennoch einen Fokus auf das Gemeinsame zu ermöglichen. Den unterschiedlichen Erfahrungen, dem Eigenen, Nationalen, den Traditionen und kulturellen Prägungen der Vergangenheit gerecht zu werden, weil sie Teil unserer bindungsgebenden Identität sind, und den Blick immer wieder auf die Verantwortung für eine gemeinsame Zukunft zu lenken, die in der globalisierten Welt nur europäisch sein kann. Beides muss sein. Der wichtigere Teil ist aus meiner Sicht die gemeinsame Verantwortung für die Zukunft.
Das wieder klarer zu sehen, statt uns rückwärtsgewandt nur um uns selbst zu drehen, dazu helfen die immensen Herausforderungen, vor die wir uns gegenwärtig gestellt sehen. Frieden, Sicherheit, Nachhaltigkeit, Migration, Digitalisierung, ökonomische Stabilität. Aber über Aufgaben gewinnen wir die Zukunft. Wenn wir in ihnen die Chancen sehen, die in uns steckende Energie zu mobilisieren und das Vertrauen in uns zu stärken, gemeinsam Großes leisten zu können, statt uns kleinteilig und introvertiert an das Bestehende zu klammern, weil wir fürchten, den Veränderungen nicht gewachsen zu sein.
So wird sich auch die europäische Schicksalsgemeinschaft herausbilden, und so können wir Europa als identitätsstiftendes Gemeinschaftsprojekt sichtbar und begreifbar machen. Mit Zuversicht und dem Mut, sich den Zukunftsaufgaben zu stellen. Ich bin davon überzeugt, dass diese Zukunft von eine Generation gestaltet werden wird, die europäischer und kosmopolitischer ist als alle vorherigen, die sich aber immer auch der eigenen Identität bewusst sein sollte.