25.11.2019 | Parlament

Rede von Bundestagspräsident Dr. Wolfgang Schäuble zum BDI-Jubiläum: „100 Jahre Dachverband der gesamten deutschen Industrie“

[Es gilt das gesprochene Wort]

2019 ist ein Jahr der besonderen Jubiläen. Das Grundgesetz wurde 70, der Mauerfall jährte sich zum 30. Mal. Und die Mondlandung feierte mit dem 50. Jahrestag ein rundes Jubiläum – doppelt so lang liegt die Gründung der Interessenvertretung der deutschen Industrie zurück. Ob diese Koinzidenz Herrn Kempf zu dem Vorschlag angeregt hat, Deutschland sollte mit einem Weltraumbahnhof ausgerüstet werden? Vielleicht möchten Sie Politiker auch einfach auf den Mond schießen können.

100 Jahre Dachverband der deutschen Industrie ist jedenfalls ein guter, irdischer Grund zu feiern. Der BDI steht nicht für sich. Sondern für Unternehmen mit Erfindergeist, gelebte Sozialpartnerschaft und – nicht unwesentlich in diesem Jubiläumsjahr – für unternehmerischen Wagemut. Dem Gegenwind zum Trotz.

An den sind Sie seit den Anfängen Ihres Verbandes im Jahr 1919 gewöhnt. Immerhin hat in dem Gründungsjahr der damalige deutsche Außenminister Ulrich von Brockdorff-Rantzau festgestellt: „Ein riesiger Teil der deutschen Industrie ist […] unweigerlich zum Untergang verurteilt.“ Als Unterhändler bei den Verhandlungen zum Versailler Vertrag war Brockdorff-Rantzau mit der wirtschaftlichen Lage gut vertraut. Die Beschränkungen, die Deutschland nach dem Krieg auferlegt bekommen hatte, erschienen ihm bedrohlich. Die Industrie lag – gerade einmal 10 Monate nach Ende des Ersten Weltkriegs – am Boden, die Stimmung war trüb. Aufbauhilfe zu leisten, logistisch, materiell und beim Formulieren und Vertreten gemeinsamer Unternehmerinteressen: das bildete einen der Anstöße für die Gründung Ihres Dachverbands.

Rettung erwartete man vor allem von den „Entrepreneuren“, wie John Maynard Keynes Unternehmer mit Zuversicht, Verantwortungsgefühl und Augenmaß nannte. In ihnen sah der britische Ökonom das „aktive und konstruktive Element im Gesamtkapitalismus“. Auch der neue Reichsverband der Deutschen Industrie – der Vorläufer des BDI – erhoffte sich vom Engagement der Unternehmer neue Dynamik nach den Kriegsjahren. So beschreiben es in der soeben erschienenen Verbandsgeschichte der beiden Historiker Johannes Bähr und Christopher Kopper.

Lobend erwähnen sie Robert Bosch als fortschrittliches Verbandsmitglied. Er zeigte sich offen für sozialpolitische Neuerungen wie dem Betriebsrätegesetz, in dem er eine Chance für die Zusammenarbeit zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern sah. Auch andere Industrielle wie Hugo Stinnes und der spätere Reichsverbands-Vorsitzende Carl Duisberg zeigten staatspolitische Verantwortung, als sie sich dem rechtsradikalen Kapp-Putsch entgegenstellten. Damit trugen sie zur Stabilisierung der ihnen aber nicht zukunftstauglich erscheinenden Weimarer Republik bei – gerettet haben sie die Demokratie nicht.

Bähr und Kopper zeigen, dass Ihr Vorläuferverband immerhin mithalf, viele materielle wie immaterielle Begrenzungen der Weimarer Zeit zu überwinden. Er unterstützte Unternehmer bei der Einführung neuer Produkte, nachdem viele der bisherigen als rüstungsrelevant verboten worden waren. Besonders kreativ zeigte sich Krupp, der später ebenfalls Verbandsvorsitzender wurde. Er stellte seine Fabrikanlagen um und fertigte Motorroller. Statt Stahl für Kanonen nun ein ziviles Produkt für den Individualverkehr – eines, das heute in der Variante E-Scooter ein Revival erlebt. Krupp war seiner Zeit voraus und stärkte den Ruf von Gütern „made in Germany“.

Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg brachten eine gravierende Zäsur – Fehlverhalten, Günstlingswirtschaft, den Verlust an Humanität, Elitenversagen. Die moralische Last der Verstrickung vieler Industriebetriebe in das NS-System der Kriegsproduktion und Zwangsarbeit wiegt schwer. Ihr Verband bedurfte eines kompletten Neustarts nach 1945 und achtete bei der Neugründung darauf, keinem Funktionär aus der NS-Zeit eine Führungsrolle zu geben. Dennoch: Viele Protagonisten der deutschen Wirtschaft wurden lange nach ihren Erfolgen in Zeiten des Wirtschaftswunders von ihrer Geschichte und ihrer Verantwortungslosigkeit eingeholt.

Die Frage der Verantwortung für das Gemeinwohl stellt sich unter gänzlich anderen Bedingungen auch heute. Auch Ihrem Verband: Welchen Einfluss kann ein Dachverband von mehr als 100.000 Unternehmen im demokratischen Rechtsstaat nehmen? Agiert er in Zeiten der Globalisierung und Digitalisierung schnell genug? Hat er die Kraft, die Wirtschaft 4.0 zu gestalten?

Auf Lorbeeren der Vergangenheit darf er sich jedenfalls nicht ausruhen. Der internationale Wettbewerb ist schärfer denn je. Und die Gefahr nicht gebannt, dass die Mitgliedsunternehmen im BDI im Bemühen um „cost cutting“ die sozialen Belange der Mitarbeiter vernachlässigen. Mitarbeiterzufriedenheit ist eine unverzichtbare Voraussetzung für nachhaltigen Erfolg eines Unternehmens. Und zufriedene Mitarbeiter finden sich eher in Betrieben, deren Vorstände dem Stakeholder Value mehr Aufmerksamkeit widmen als nur dem Shareholder Value. Das ist bei Mittelständlern oft noch selbstverständlich. Bei Aktiengesellschaften braucht es Gedächtnishilfen, die Ihr Verband liefern muss. Klar ist: Börsennotierungen sind wichtig – und Dividenden eine notwendige Rendite für Investoren. Insofern muss eine Aktiengesellschaft ihre Kapitalgeber bei Laune halten. Aber kein Unternehmen lebt vom Aktienkurs allein. Es braucht immer verantwortlich handelnde Menschen in den Vorständen, genauso wie in den Büros, Lagerhallen und an den Werkbänken. Fairness, Ehrlichkeit und Fleiß sollten oberste Prinzipien der Firmenpolitik, Unternehmenspraxis und Ihrer Verbandsstrategie sein. Sie prägten die Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik ebenso wie die vor 70 Jahren eingeführte Tarifautonomie in Deutschland – eine für den gesellschaftlichen Zusammenhalt wertvolle Errungenschaft unseres Landes.

Ich möchte Ihnen nicht die Feierlaune verderben, aber leider sind die genannten Werte inzwischen nicht mehr selbstverständlich. Die außertarifliche Beschäftigung nimmt zu. Gemeinwohlüberlegungen geraten aus dem Blick. Beispiele von unternehmerischem Fehlverhalten machen Schlagzeilen. Sie haben das alles schon auf dem Parlamentarischen Abend der Arbeitgeberverbände gehört.

Und damit Sie nicht denken, ich würde nur auf die Fehler anderer schauen – auch der legislative Output der letzten Jahre bietet durchaus Luft nach oben: Gesetzliche Regeln sind nicht immer so schlüssig ausgefallen, wie sie sein müssten, um den Missbrauchsanreiz so gering wie möglich zu halten. Wir brauchen realistische Abgasnormen, die neben ökologischen Notwendigkeiten auch Effizienzkriterien und die Perspektive der Produzenten berücksichtigen. Etwa, wenn wie beim Diesel die Zielsetzung für niedrigere Grenzwerte bei CO 2 und Stickoxiden in Konkurrenz zueinander stehen. Regeln müssen gut sein, denn sind sie erst einmal Gesetz, müssen sie eingehalten werden – und der Staat muss darüber wachen, Verstöße ahnden. Es ist wie beim Fußball: Solange alle fair spielen, hält sich der Schiedsrichter zurück. Bei Fouls geht es dann bis zum Platzverweis.

Und, um im Bild zu bleiben, wenn die deutsche Wirtschaft weiter in der Champions-League antreten will, müssen wir – Politik, Wirtschaft und Verbände – auf die sich eintrübende Konjunktur reagieren. Die Stimmung ist längst nicht mehr so rosig ist wie in den vergangenen Jahren. Wirtschaftsexperten schließen eine Rezession nicht mehr aus, auch wenn das letzte Quartal wieder positive Wachstumsraten aufwies. Was ist zu tun? Die schwarze Null auf den Prüfstand stellen, wie es führende Vertreter Ihres Verbandes gerade gefordert haben – in seltener Einmütigkeit mit dem DGB? Der Finanzminister hat dem wiederholt eine Absage erteilt – und wer würde da schon einem Sozialdemokraten widersprechen. Die Schwarze Null ist kein Heiligtum oder Fetisch, aber der Grundgedanke der Neuverschuldungsgrenze ist und bleibt ordnungspolitisch sinnvoll. An der Wachstumsschwäche werden wir jedenfalls allein mit finanz- oder geldpolitischen Maßnahmen nichts ändern können. Unser Hauptproblem ist ja nicht Geldmangel. Viele Finanzmittel, die schon im Haushalt eingestellt sind, fließen doch gar nicht ab – weil sie nicht abgerufen werden.

Seit vielen Jahren sehen wir, dass die Summe der Investitionen niedriger ist als die der Abschreibungen. Aber angesichts der rasanten und disruptiven Veränderungen, die mit den Entwicklungen in der Informations- und Kommunikationstechnologie einhergehen, kann es heute längst nicht mehr allein um klassische Investitionen gehen, ob in veraltete Maschinen, Anlagen oder Infrastruktur. Es braucht eine völlig andere Grundeinstellung gegenüber der Veränderbarkeit unserer Zukunft. Damit die deutsche Wirtschaft nicht bloß Zaungast der digitalen Revolution bleibt, brauchen wir Unternehmen mit originellen eigenen, mit neuen Ideen. Mit größtmöglichen Freiräumen für die kreativsten Köpfe, um deren innovativen Potenziale wirksam auszuschöpfen. Mit dem Anspruch, nicht nur nach profitabler Verwertbarkeit dessen zu streben, was im Silicon Valley oder anderswo entwickelt wurde. Sondern auf der Suche nach der intelligenteren Lösung selbst die digitale Zukunft zu antizipieren. So wie uns dies im Bereich der Industrie-4.0 Produktionsanlagen offenkundig gelingt. Wenn deutsche Unternehmen selbst dem unaufhaltsamen Wandel durch eigene Kreativität, durch eigenen unternehmerischen Wagemut und mit eigenen technologischen Innovationen eine Richtung geben, werden sie sich ihre Wettbewerbsfähigkeit in der global und digital vernetzten Welt erhalten. Und nur so wird nachhaltiges Wachstum entstehen.

Dass die bereitstehenden Mittel nicht abfließen, Investitionen verzögert oder sogar unmöglich werden, hat im Übrigen auch wesentlich damit zu tun, dass wir uns mit zum Teil abwegigen rechtlichen und bürokratischen Hürden selbst in Fesseln gelegt haben. Wie Gulliver! Für das Gelingen der Energiewende ist etwa der Ausbau von Windrädern unverzichtbar, aber die Firmen scheuen die Flut von Anträgen und Behördengängen – und sie fürchten Einsprüche und Klagen von Verbänden und Bürgern, die den Ausbau der Windenergie zum Scheitern bringen. Das Gleiche gilt bei Stromtrassen, die Windenergie von der Küste ins Binnenland bringen sollen. Dieter Kempf hat kürzlich zu Recht darauf hingewiesen, dass von den 7700 Kilometern benötigter Übertragungsleitungen gerade mal 1100 gebaut, mehr als 20 Prozent noch nicht einmal geplant sind. Ein anderes von Ihnen aufgebrachtes Beispiel, Herr Kempf, ist an Absurdität kaum zu überbieten: Die Blockade der Schnellbahnstrecke zwischen Duisburg und Düsseldorf. Sie wird von einer Bürgerinitiative mit dem Argument verhindert, die Ursprungsstrecke sei illegal, es habe nie eine behördliche Genehmigung gegeben. Befahren wird sie aber seit 1843!

Die Kunst heute, angesichts rasanter Entwicklungen, wird sein: Wachstum unbürokratisch zu fördern und mit der Bewahrung unserer natürlichen Lebensgrundlagen zu verbinden. Diese gesellschaftliche Mammutaufgabe hat das Potential, uns aus einer gewissen Starre und Saturiertheit zu lösen, in die wir durch Jahrzehnte stetig wachsenden Wohlstands geraten sind. Das ist eine gemeinschaftliche Aufgabe, die den Kräften des Marktes eine Richtung geben kann, im besten Fall mobilisiert sie die in uns steckende Energie und stärkt das Vertrauen. Wir können Großes leisten und müssen und nicht an das Bestehende klammern!

Wenn wir uns heute umschauen, sehen wir – als ein Highlight der Stiftung Olbricht – die „Wunderkammer“ mit kuriosen mechanischen Apparaten, spielerischen Exponaten und unorthodoxen Fundstücken. Das ist ein guter Fingerzeig: Wirtschaft, Politik und Gesellschaft sind kein „Dinner for one“, bei dem „the same procedure as every year“ ausreicht. Wir müssen die Augen aufmachen, Neues wagen, Experimente eingehen – den Wandel als Chance begreifen.

Ihr Verband zeigt, dass er offen für Neues ist – sonst würde er nicht in einem modernen Ambiente wie dem Collectors Room der Stiftung Olbricht feiern. Außerdem wäre er nie 100 Jahre alt geworden. Zwar attestiert ihm Johannes Bähr ein Imageproblem, weil viele ihn für einflussreicher halten, als er ist. Von einem exklusiven Zugang zum Kanzleramt könne keine Rede sein und auch in die Regierungsbildung habe der BDI, anders als sein Weimarer Vorläufer, nicht eingegriffen. Ohnmächtig ist Ihr Verband deshalb nicht. Der BDI vertritt seine Interessen deutlich und unüberhörbar. Ich bin sicher, dass er das auch künftig tun wird. Wenn es gelingt, sich erfolgreich dem Wandel der Zeit und der Marktsituation anzupassen. Auch in Zukunft. Es muss ja nicht gleich der Weltraum sein.

In diesem Sinne gratuliere ich Ihnen zu Ihrem Verbandsjubiläum und wünsche Ihnen alles Gute für die nächsten 100 Jahre.

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