Rede von Bundestagspräsident Dr. Wolfgang Schäuble bei der Konrad Adenauer Stiftung: „Hommage à Christo“
[Es gilt das gesprochene Wort]
Anrede,
es ist mir eine Freude, Sie, geehrter Christo, in diesem festlichen Rahmen würdigen zu dürfen. Das geschichtsträchtige Reichstagsgebäude, der Sitz des Deutschen Bundestages, ist mein Arbeitsplatz. Ich verbringe jeden Tag in einer Umgebung, die Rohstoff für eines Ihrer spektakulärsten Werke war. Von der schimmernden Hülle aus dem Jahr 1995 ist nichts mehr zu sehen. Aber sie hat sich in unser Gedächtnis eingebrannt. Und sie ist innig verbunden mit der Geschichte des Ortes: Die Verhüllung des Reichstags und das große Fest des Staunens, das fünf Millionen Betrachter damals spontan zusammenbrachte. Das Reichstagsgebäude nimmt einen festen Platz in der Geschichte der deutschen Demokratie ein. Jeanne-Claude und Ihnen verdankt es zudem seinen Platz in der Kunstgeschichte.
„Schönheit ist politisch.“
Dieser Satz stammt von Herta Müller, Literaturnobelpreisträgerin – und nicht zu vergessen: bereits zuvor Literaturpreisträgerin der Adenauer-Stiftung. Über ihre Kindheit in den fünfziger und sechziger Jahren im kommunistischen Rumänien schrieb sie: „Alles war hässlich.“ Und weiter „Ich bin überzeugt davon, dass die Hässlichkeit zum Programm der Diktatur gehörte. Es war ein Unterdrückungsmechanismus…. Man wird durch das Auge, durch den Blick, durch die Trostlosigkeit entmündigt, weil man daran nichts ändern kann.“
Diesen Zusammenhang konnte Herta Müller als Kind nicht in Worte fassen. Aber das kleine Mädchen, das sie war, reagierte unbewusst auf die erdrückende und unterdrückende Hässlichkeit. Sie sammelte schöne Dinge. Entdeckte in der Schule die Schönheit der Sprache. Und sie spürte, wie diese für sie zum Lebenselixier wurde. Die Wirklichkeit konnte eine andere Farbe annehmen. Sie verfälschte ihre Umwelt nicht, sah nicht alles durch eine rosarote Brille. Sondern lernte, ihren Blick auf das Außergewöhnliche zu lenken, um das Gewöhnliche zu ertragen. Sie entwickelte ein Sensorium für Ästhetik, das ihr in der Ceausescu-Diktatur Standfestigkeit verlieh.
Als Herta Müller geboren wurde, nahmen Sie, Christo, gerade Ihr Studium auf. In Ihrem Heimatland Bulgarien, an der Akademie der Künste in Sofia. Sie gingen in diesen Jahren einer ungewöhnlichen Tätigkeit nach: An den Wochenenden fuhren Sie aufs Land und strichen gemeinsam mit anderen Kunststudenten verfallene Häuser an. Bauernhöfe entlang der Bahnstrecke, die vom Orientexpress befahren wurde. Die den Gleisen zugewandten Fassaden sollten den Reisenden, zumeist Diplomaten oder Geschäftsleute aus dem kapitalistischen Ausland, ein schönes Bild bieten. Es war Camouflage. Verhüllung. Es entstanden Potemkinsche Dörfer. Schönheit ist politisch.
Auch Sie verdanken Ihre Existenz als Künstler der Tatsache, dass die Welt geteilt war. Sie haben einmal gesagt: „Hätte es den Kalten Krieg nicht gegeben, wäre ich nicht in den Westen gegangen und würde etwas ganz anderes machen.“
Das kann ich mir kaum vorstellen. Aber was ich mir vorstellen kann, sind die tiefen Prägungen durch die Wirren der Geschichte des 20. Jahrhunderts, die Sie, Jeanne-Claude und Ihre Familien in sich tragen. Die Flucht Ihrer Mutter 1913 vor dem Balkankrieg aus Mazedonien nach Bulgarien, die Weltkriege, die Unterdrückung, die Teilung der Welt – schließlich Ihre eigene Flucht in den Westen. Die Begegnung mit Ihrer Frau, die zwar am selben Tag wie Sie geboren wurde, aber in Casablanca zur Welt gekommen war.
Sie haben Ihre Wurzeln gekappt. Sie schnürten 1956 Ihr Bündel und verließen Ihre Heimat. Für einen Künstler nicht ungewöhnlich. Und ein Schicksal, das wir in unzähligen Varianten über die Jahrtausende als Konstante der Menschheitsgeschichte kennen. Flucht und Migration brechen wir in der Politik oft zur statistischen Größe herunter, um darauf reagieren zu können. In Wahrheit ist es für jeden einzelnen Menschen ein gravierender Einschnitt im Leben.
Über Prag und Wien gelangten Sie nach Paris. Sie selbst sehen in der nomadischen Gewohnheit, die Sie angenommen haben, eine Parallele zum unsteten Charakter Ihrer Werke. Die das Bestehende quasi im Vorübergehen streifen, dann wieder verschwinden und doch etwas Bleibendes hinterlassen. Bei Ihrer Flucht war nicht absehbar, dass der Eiserne Vorhang einmal fallen würde. Sie verinnerlichten das Motiv des Verhängens. Und begannen, die Dinge zu verhüllten. Sie verbargen das Gewöhnliche und machten so Außergewöhnliches sichtbar.
Und Sie bezogen sich dabei immer wieder auch auf die politische Spaltung der Welt. Bereits 1962 initiierten Sie ein Projekt in der Rue Visconti in Paris. Dort errichteten Sie eine Mauer. Aus Ölfässern. Es war Ihre „poetische Geste“ als Reaktion auf den Mauerbau im Jahr zuvor. Auch das Projekt Running fence bezog sich auf die Teilung der Welt in Ost und West.
Mich hatten diese Werke beeindruckt: der nach einer zehnjährigen Vorbereitung sandsteinfarben eingepackte Pont Neuf, die von rosafarbenen Kunststoffbahnen umschlossenen Inseln in Florida, die Schirmlandschaften oder Schirmparaden in Japan und Kalifornien, der riesige Vorhang, der ein Tal in Colorado teilte. Die Idee der Verfremdung. Anderes sichtbar machen. Sie verfälschen nicht, sie lenken den Blick. Und sie vertrauen dem Betrachter, denn Sie haben immer betont: Wir sind frei, in Ihren Werken zu sehen, was wir darin sehen wollen. „Der verhüllte Reichstag hat die Bedeutung, die Sie ihm geben.“ Das haben Sie, Christo, gesagt. Diese Freiheit haben Sie uns – mich persönlich – gelehrt.
Es ist kein Geheimnis: Als der Deutsche Bundestag 1994 – noch in Bonn – als Hausherr über Ihr lange vorbereitetes Projekt zu befinden hatte, war ich ausdrücklich gegen den Plan, das geschichtsträchtige Gebäude an der gottlob nicht mehr bestehenden Mauer zu einem Kunstwerk zu machen. Die Idee – ursprünglich von Michael Cullen angeregt – konnte mich damals nicht überzeugen. Sie erschien mir wie ein Frevel: Der Ort, an dem der Versuch, in Deutschland eine Demokratie zu errichten, buchstäblich in Flammen aufgegangen war, schien mir keine geeignete Spielwiese für ein Kunstprojekt. Ich sah die Würde des symbolträchtigen Parlamentsgebäudes bedroht. Das Experimentelle des Projektes schien mir unpassend für das Reichstagsgebäude, das eben kein Haus wie jedes andere ist.
Meine Ablehnung war ein Irrtum. Und eines Besseren belehrt hat mich nicht die euphorische Reaktion der fünf Millionen Besucher, die nach Berlin kamen, um den legenden- und stoffumwobenen Reichstag mit eigenen Augen zu sehen. Auch die wortgewaltigen Reaktionen in der Presse, in den Feuilletons, die sich an Superlativen und beachtlichen Sprachbildern fast verschluckten, haben mich nicht umgestimmt. Nicht einmal die begeisterten Reaktionen im Ausland, aus denen deutlich herauszulesen war, dass man uns, den gerade wiedervereinigten Deutschen, soviel Kunstfreude und Leichtigkeit gar nicht zugetraut hätte. Obgleich es mich freute, in der New York Times zu lesen, dass der verhüllte Reichstag ein ideales Symbol des neuen Deutschland sei.
Überzeugt hat mich der Eindruck, den Ihr Werk hinterließ: Es war eben auch ein ästhetisches Vergnügen.
Und so eindrucksvoll das Werk – so eindrücklich auch die Begegnungen mit seinen beiden Schöpfern. Jeanne-Claude und Christo – ein Paar, das die Euphorie verkörperte, die Ihr gemeinsames Monumentalwerk auslöste.
Verehrter Christo, wir alle und Sie am allerbesten wissen: Auch diese Hommage gilt Ihnen beiden, Ihrer verstorbenen Frau Jeanne-Claude und Ihnen. Sie haben gemeinsam gearbeitet. Viele ästhetische Entscheidungen gemeinsam getroffen. Sie war Ihnen Gefährtin – die Kunstwerke sind Ihrer beider Schöpfung. Die Zeichnungen fertigten Sie, haben Sie in einem Interview einmal erklärt. Und Jeanne-Claude warf daraufhin ein, sie unterzeichne dafür Schecks und Steuererklärungen. Auch der Humor war Ihnen offenkundig gemeinsam. Symbiotisch jedenfalls war Ihre gemeinsame Arbeit an den großen Projekten.
Diese zeichnen sich durch ihre Vergänglichkeit aus. Ohne dass Sie demonstrativ an die Tradition der Vanitas in der Kunst appellierten. Sie haben einmal gesagt, der temporäre Charakter Ihrer Werke sei „eine Kampfansage an den naiven Hochmut der Menschen, die glauben, man könne Unsterbliches schaffen.“ Ja, ihre Verfremdungen und Verhüllungen haben eine menschliche Eigenschaft, die zentrale menschliche Eigenschaft: sie sind sterblich. Sie entfernen die Verhüllung wieder und am Ende, wie Sie betonen, bleiben nicht einmal finanzielle Löcher, die im Nachhinein gestopft werden müssten. Verzeihen Sie, dass mir das als früherer Finanzminister auch erwähnenswert und löblich erscheint.
Das Temporäre ist Kennzeichen Ihrer Kunst: Sie verhüllen. Und nehmen die Hüllen wieder ab. Befreien die Inseln von ihren leuchtenden Umrahmungen. Klappen die Schirme wieder zusammen. Lösen die Pontonbrücken. Das Werk bleibt in materieller Hinsicht allenfalls als Fotografie oder Zeichnung. Doch was viel mehr zählt: Es bleibt im Kopf.
Das macht auch das Hinschauen besonders: Es wird ein bewusstes Festhalten, weil es keine Chance gibt, das Werk nach Ablauf der Projektzeit noch einmal in der Realität zu sehen. Entweder der Betrachter erlebt es direkt selbst mit – oder er ist auf Abbilder verwiesen.
Gerade dieses Momentum passt vorzüglich zum Reichstagsgebäude. Und zu unserer Geschichte, wie sie sich in diesem Parlamentsbau widerspiegelt: Unser Land diskutiert intensiv über die Bedeutung von Zeitzeugen. Wer war noch dabei, als der Reichstag brannte und in Wahrheit die Demokratie in Flammen aufging? Wer erinnert sich noch an die Kämpfe um Berlin und an die Befreiung 1945? Wie haben wir den freudigen Moment unserer Geschichte, den Mauerfall vor 30 Jahren, erlebt?
Die Fragen erkunden das Dabeigewesensein. Den historischen Moment selbst erfahren zu haben, nicht auf Beschreibungen angewiesen zu sein, sondern die eigene Erinnerung befragen zu können, ist ein Wert an sich. Das authentische Erleben prägt.
Ihre Werke trainieren uns als Zeitzeugen. Sie schärfen unsere Sinne: Wir sehen, riechen, fühlen, hören, betasten oder betreten Ihre Kunst. Wir speichern unsere Eindrücke im Gedächtnis. Das ist eine besondere Kulturtechnik. Und sie ist deshalb so besonders, weil Ihr Werk nach Ablauf der Projektzeit einerseits nirgendwo existiert außer im Kopf der Betrachter – das aber andererseits dann gleich millionenfach.
Und so hat Ihr Werk nicht nur einen Bezug zum Diktum von der Schönheit, der Herta Müller einen politischen Charakter zuschreibt. Es beteiligt uns alle, verbindet Ästhetik, Geschichte und Demokratie. Schöner und freier kann Kunst nicht wirken.