23.05.2019 | Parlament

Gastbeitrag von Bundestagspräsident Dr. Wolfgang Schäuble zum 70. Geburtstag des Grundgesetzes: „Mehr Freiraum!“

erschienen am 23.05.2019 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung

Siebzig Jahre sind ein beachtliches Alter für einen Verfassungstext, der als Provisorium gedacht war. In der vergangenen Woche hat der Bundestag das Grundgesetz-Jubiläum in einer Debatte gewürdigt. Darin kam die fraktionsübergreifende Wertschätzung für eine Verfassung zum Ausdruck, die unserem Land einen stabilen Ordnungsrahmen setzt und sich gleichzeitig als ausreichend anpassungsfähig erwiesen hat – nicht zuletzt bei der Wiedervereinigung, mit der das Grundgesetz zur Verfassung für ganz Deutschland geworden ist.

Die kontrovers geführte Debatte unterstrich aber auch: Eine Verfassung kann bessere oder schlechtere Rahmenbedingungen schaffen, sie bleibt immer ein Rahmen, der von den Menschen getragen werden muss – und durch die Politik ausgefüllt. Das Jubiläum bietet insofern Gelegenheit zur selbstkritischen Betrachtung unseres Umgangs mit den verfassungsrechtlich gewährten Freiheiten einerseits und den gesetzten Regeln andererseits, ohne die eine offene Gesellschaft nicht funktionieren kann.

Es heißt, freiheitliche Verfassungen sollen notwendige Veränderungen ermöglichen, ohne sich selbst verändern zu müssen. Das ist das Ideal. Das Grundgesetz hat in der Vergangenheit eine Reihe von Eingriffen erfahren, die zwar nie die Gesamt-Statik verändern konnten, aber auch nicht belanglos waren. Dabei täten wir gut daran, auch künftig nicht alles, was man politisch gestalten möchte, im Grundgesetz festzuschreiben. Die Gestaltungsmöglichkeiten sollten sich vielmehr nach den Mehrheiten richten, über die der Wähler alle vier Jahre entscheidet. Dinge verfassungsrechtlich zu regeln, macht das Grundgesetz nicht zwingend besser – es engt aber zwangsläufig die politischen Handlungsspielräume erheblich ein.

Der Staatsrechtler Christoph Möllers hat bereits zum sechzigjährigen Geburtstag des Grundgesetzes mit dem Hinweis Wasser in den Jubiläumswein gegossen, die bisherigen Verfassungsänderungen würden im „sprachlichen Nachkriegsdenkmal“, welches das Grundgesetz eben auch darstelle, so verheerend wirken wie ein Parkhaus aus Beton in einem Bauhaus-Ensemble. Daran zu erinnern, passt in das laufende Bauhaus-Jahr, es ist vor allem aber noch immer gültig. Hier geht es um mehr als Verfassungsästhetik, wie Dieter Grimm in dieser Zeitung zurecht betont hat. Alles, so der frühere Verfassungsrichter, was auf der Verfassungsebene geregelt werde, sei dem demokratischen Prozess entzogen: „Es ist nicht mehr Thema, sondern Prämisse politischer Entscheidungen.“ Jede Politikänderung setze so eine vorgängige Verfassungsänderung voraus. Die Verfassung ermögliche dann nicht Flexibilität, sondern bewirke Immobilismus – und der werde in Zeiten hohen Problemdrucks als Politikversagen wahrgenommen.

Die Erfahrung zeigt: Ergänzungen des Grundgesetzes wecken zudem neue Bedürfnisse, nach dem Muster: Ist erstmal der Tierschutz verankert, müssen erst recht die Kinderrechte mindestens als Staatsziel aufgenommen werden. Dadurch wird eine Spirale in Gang gesetzt, die das Grundgesetz aufbläht mit der Folge, dass immer mehr Gestaltungsfragen durch Verfassungsrecht und -interpretationen dem demokratischen Gesetzgeber entzogen werden.

Der römische Leitsatz Summum ius – summa iniuria beweist sich auch heute noch. Je umfassender die rechtlichen Regelungen und je ausgeprägter die Neigung, in allen Bereichen immer noch genauer steuern, justieren und austarieren zu wollen, umso exzessiver und widersprüchlicher die Auslegung und umso enger die Handlungsräume, die das Recht doch eigentlich schützen soll.

Ob wir uns um Lärm- und Atemschutzregelungen drehen, die Trassenplanungen der europäischen Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie unterwerfen oder um Grenzwerte bei Feinstaub und Stickoxiden debattieren: In einem überbordenden, sich vielfach widersprechenden Gutachter- und Beraterwesen legt die immer weitere rechtliche Absicherung Deutschland nicht nur bei Großprojekten viel zu oft wie Gulliver in Fesseln. Wo es aber kaum mehr Gestaltungsmöglichkeiten gibt, wird es irgendwann auch am Gestaltungswillen fehlen.

Vom Drang nach immer perfekteren Regelungen ist auch die Verfassungsjurisdiktion nicht frei. Die überfällige und vergleichsweise klein scheinende Wahlrechtsreform ist durch die immer detailliertere Rechtsprechung der vergangenen Jahre zum Ausgleich von Überhangmandaten längst zur Quadratur des Kreises geworden – die zu erklären dann der Politik zufällt.

Die überbordendende Verrechtlichung ist also nicht allein das Ergebnis der Neigung des Gesetzgebers, manche Regelungen bis zum Exzess zu treiben. Sie wird auch durch die Hypertrophie der Rechtsprechung befördert. Schlagendes Beispiel ist die überzogene Detaillierung des Artikel 16a GG und die komplizierten Verrenkungen, die Anfang der 1990er Jahre notwendig waren, um in unserem Streben nach juristischer Perfektion das einst so schlicht wie schön formulierte Asylrecht auf das Schutzniveau der Genfer Flüchtlingskonvention zu präzisieren. Nur so konnte die Neufassung vor Gericht Bestand haben.

Wir sollten nicht zulassen, dass unsere Ordnungen durch unseren Hang zur Perfektion so erstarren, dass wir sie nicht mehr reformieren können. Wir müssen uns vielmehr wieder um stärkere Dynamik bemühen. Die Aufgabe politischer Führung ist es, diesem Prozess Form, Richtung, Nachhaltigkeit zu geben. Und immer auch wieder mal die Kraft dazu aufzubringen, mehr ändern zu wollen, als möglich erscheint.

Zumal wir Deutschen uns gerade in einem als perfekt erweisen: Zu erklären, warum etwas nicht funktionieren kann. Auch in anderen Demokratien sehen wir, wie schwer es geworden ist, politische Mehrheiten für etwas zu gewinnen. Mehrheiten bilden sich vor allem gegen etwas – die Brexit-Abstimmungen im britischen Parlament sind das eindrücklichste Beispiel dafür. Wo es an Gestaltungsmehrheiten fehlt, gibt es keine echten Entscheidungen mehr, also das, woran Politik gemessen wird. Wenn wir aber politisch nichts mehr gestaltet bekommen, wächst zwangsläufig der Unmut, schwindet das Vertrauen in die Politik, in Regierungen und Parlamente, und erodieren damit die Grundlagen der Demokratie. Wenn wir bei der Umsetzung politischer Ziele nicht erkennbar besser werden, droht ein Glaubwürdigkeitsverlust gegenüber anderen Modellen. Wir befinden uns mit der EU doch längst in einem globalen Wettbewerb mit autoritären Systemen, die mit einem ungefährdeten Effizienz- und Wohlstandsversprechen für sich werben – ohne freilich ihren Bürgern die Freiheiten zu gewähren, die uns viel zu selbstverständlich scheinen.

Die Geltung von Werten, Prinzipien und Regeln ist für die Stabilität einer demokratischen Ordnung nur das eine. Der ökonomische Erfolg das andere. Es braucht beides. Unsere Aufgabe ist, Freiheit, sozialen Ausgleich und auch ökologische Verantwortung zu verbinden mit Marktwirtschaft, Effizienz und Wachstum. Das sichert den gesellschaftlichen Frieden, das fördert den Zusammenhalt. Es muss uns auch zukünftig stets neu gelingen, hier die richtige Balance zu finden.

Das Grundgesetz stellt dafür den verlässlichen Rahmen. Es wurde von weitblickenden Menschen erdacht, die das Fundament für einen freiheitlichen, handlungsfähigen Staat schufen. Diesen Gedanken sollten wieder stärker frei legen, statt uns weiter einzumauern hinter immer neuen Regelungen, die immer weitere, noch detailliertere nach sich ziehen. Besinnen wir uns darauf, dass politische Gestaltung Freiräume braucht! Das Grundgesetz schützt uns alle. Aber es verdient, auch vor allzu großem Regulierungsdrang bewahrt zu werden.

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