29.01.2020 | Parlament

Gastbeitrag von Bundestagspräsident Dr. Wolfgang Schäuble: „Musik, die trösten kann“

erschienen am 29. Januar 2020 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (Begegnungen mit Beethoven)

Wenige Tage nach dem Terroranschlag vom 11. September 2001 war ich zusammen mit meiner Tochter in der Berliner Philharmonie. Gespielt wurde Beethovens 4. Klavierkonzert in G-Dur, am Klavier der legendäre Alfred Brendel. Die Atmosphäre im Saal war eine sehr besondere: dichte, gespannte Stille – und dann die ersten Takte des Klaviers, bevor das Orchester einsetzt. Sie schienen wie komponiert für diesen Augenblick. Ich glaube, es gab niemanden im Publikum, der in diesem Moment nicht mit seinen Gedanken in New York war, die Bilder dieser menschlichen Tragödie vor Augen.

Beethoven für einen der größten Komponisten aller Zeiten zu halten, ist nicht sonderlich originell. Seine Werke haben Jahrhunderte überdauert und gehören noch immer zu den meist gespielten weltweit. Weshalb das so ist, hat mir dieses Konzert im September 2001 einmal mehr offenbart. Dass große Musik das Hier und Jetzt zu transzendieren vermag, dass sie universell ist und dass sie trösten, erheben – vor allem: Menschen miteinander verbinden kann, hat an diesem Tag in der Berliner Philharmonie wohl jeder der Anwesenden gespürt.

„Wirkliche Meisterwerke sind unerschöpflich und ewig sprudelnde Energiequellen für den Künstler“, hat Alfred Brendel am Ende seiner Pianistenkarriere gesagt. Ich denke, das gilt auch für den Zuhörer, der sie immer wieder anders, immer wieder neu hört, abhängig auch von der eigenen Verfassung. Denn Musik findet im Augenblick statt. Sie entsteht erst durch die Kommunikation zwischen Musizierenden und Zuhörern. Sie lebt vom Unmittelbaren, das auch im digitalen Zeitalter durch nichts zu ersetzen ist.

Beethovens Musik ist heute ubiquitär. Die „Ode an die Freude“ ist seit 1985 offiziell Europas Hymne. Rund um die Welt wird das neue Jahr mit seiner 9. Sinfonie begrüßt. Beethoven erklingt an nationalen Feiertagen, bei staatlichen Trauerakten und nicht zuletzt im Deutschen Bundestag, der seine erste Sitzung vor 70 Jahren in der einstigen Turnhalle der Pädagogischen Akademie in Bonn mit der Ouvertüre „Weihe des Hauses“ eröffnete und mit dem letzten Satz der 5. Sinfonie beschloss. Sogar in den Weiten des Universums sind Beethoven-Stücke unterwegs, auf den Golden Records der interstellaren Voyager-Raumsonden.

Es ist uns heute kaum mehr bewusst, wie revolutionär vieles war, was Beethoven komponiert hat. Als das 4. Klavierkonzert 1807 in Wien erstmals aufgeführt wurde, hörte das Publikum etwas „Unerhörtes“: Nie zuvor hatte ein Klavierkonzert mit einem Solo des Pianos begonnen. Beethoven brach mit Regeln und Konventionen, um seine Ideen zu verwirklichen. Er war ein musikalischer Neuerer. Und dennoch genoss er bereits zu Lebzeiten Erfolg und Popularität. Das Neue hatte etwas unmittelbar Zugängliches.

Dass Beethovens Musik sich noch heute so großer Beliebtheit und Bewunderung erfreut, hängt nicht nur mit ihrer Qualität zusammen. Es sagt auch etwas über unsere Zeit aus. Bei Konzerten die größten Erfolge mit Stücken zu feiern, die 100 Jahre und älter sind, wäre zu seiner Zeit jedenfalls undenkbar gewesen. Ich frage mich oft, warum wir in der klassischen Musik bei dem gestrigen und vorgestrigen verharren. Warum es zeitgenössische Kompositionen so schwer haben, auch bei mir selbst, wie ich gestehe. Erschöpfende Antworten habe ich nicht. Vielleicht hat es damit zu tun, dass es in der Kunst keine Regeln mehr gibt, die zu brechen wären, und keine allgemein akzeptierten Autoritäten, gegen die es aufzubegehren lohnt. Vielleicht liegt es daran, dass gerade in der Musik als der emotional unmittelbarsten aller Künste mit den Werken der großen Klassiker das Absolute, das Perfekte erreicht scheint.

Beethoven selbst hätte das wohl anders gesehen. Seine Kunst blieb ihm immer nur die Annäherung an „den besseren Genius“. Zufrieden war er selten mit sich. Selbstbewusst war er gleichwohl. 1806 schrieb er seinem Gönner Fürst Lichnowsky: „Was Sie sind, sind Sie durch Zufall und Geburt; was ich bin, bin ich durch mich. Fürsten hat es und wird es noch tausende geben; Beethoven gibt’s nur einen.“ Bis auf weiteres hat er damit Recht behalten.

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