22.01.2020 | Parlament

Rede von Bundestagspräsident Dr. Wolfgang Schäuble im Deutschen Historischen Museum zur Eröffnung der Ausstellung „Deportiert nach Auschwitz - Sheindi Miller-Ehrenwalds Aufzeichnungen“

[Es gilt das gesprochene Wort]

Anrede

„Wie habe ich es nur gemacht?“ 
Diese Frage stellen Sie, verehrte Frau Miller-Ehrenwald in dem Film, dessen Premiere wir gleich erleben. 
Und jeder, der Ihre Lebens- und Leidensgeschichte kennt – 
von der Entrechtung und Ghettoisierung in Ihrer Heimatstadt Galánta, über die Deportation in Viehwaggons nach Auschwitz, die Ermordung Ihrer Familie, die Zwangsarbeit in der Waffenfabrik Karl Diehls in Peterswaldau bis zur Befreiung durch die Rote Armee am 8. Mai 1945, 
jeder, der davon hört, fragt sich auch: Wie haben Sie es nur gemacht? 
Ein Tagebuch zu führen, als es ums nackte Überleben ging. Heimlich. In einer für uns heute nicht vorstellbaren existenziellen Not. Unter ständiger Lebensgefahr. Woher nahmen Sie – ein 14-jähriges Mädchen – die Kraft und den Mut dazu? Als Todgeweihte unter Todgeweihten. „Um überleben zu können, musste man durch die Hölle gehen“, sagte einmal Imre Kertész, der wie Sie als 14-Jähriger nach Auschwitz deportiert wurde.

Heute ist jede Ihrer dichtbeschriebenen Zeilen auf den vergilbten Laufkarten der Waffenfabrik ein einmaliges Dokument für nachfolgende Generationen – 54 Seiten von unschätzbarem historischem Wert. Von emotionaler Wucht. Und ein Vermächtnis gegen das Vergessen. Im Film sagen Sie: „Ich will nicht, dass man die Menschen vergisst, die alle ermordet worden sind. Es wäre ein schlimmes Gefühl, dass die Erinnerungen an jene für immer ausgelöscht werden.“

Dazu braucht es Wissen. 
Kenntnisse, die wir aus den Akten der Täter gewinnen, und aus den Zeugnissen der Opfer. Den erzählten und aufgeschriebenen – und den gemalten. Der israelische Künstler Jehuda Bacon etwa, dessen Werke der Deutsche Bundestag 2018 öffentlich zeigte, hat als Jugendlicher in den Konzentrationslagern begonnen zu zeichnen – so wie David Olère. Ihm widmet das Parlament ab der kommenden Woche eine Ausstellung anlässlich des 75. Jahrestages der Befreiung von Auschwitz. Olère wurde als Mitglied des Sonderkommandos von der SS gezwungen, in den Krematorien zu arbeiten. Seine Werke konfrontieren uns auf beklemmende Weise mit dem industrialisierten Massenmord.
Das Ziel der Täter war überall gleich: Die Juden Europas zu töten. Aber der rassenideologische Vernichtungskrieg hatte in den Ländern, die von Deutschland okkupiert wurden, verschiedene Ausprägungen, unterschiedliche Verläufe. Ungarn, zu dem Ihre Heimatstadt, Frau Miller-Ehrenwald, damals gehörte, war im Zweiten Weltkrieg zwar Verbündeter des Deutschen Reiches, und es erließ ab 1938 mehrere antisemitische Gesetze. Dennoch blieben die ungarischen Juden bis 1944 vom systematischen Massenmord verschont. Die Lage spitzte sich erst dann schlagartig zu, als Mitte März 1944 deutsche Truppen, begleitet von SS und Gestapo, in Ungarn einmarschierten. 

In Ihrem Tagebuch beschreiben Sie, Frau Miller-Ehrenwald, wie Ihre Familie aus ihrer Wohnung vertrieben wurde. Und Sie halten die Worte Ihres Vaters fest: „Weint nicht. Seid stark. Bald kommt die Zeit, da wir alle zurückkommen werden.“ Ihre Familie teilte das Schicksal von rund 424.000 ungarischen Juden, die in Ghettos verbracht und anschließend nach Auschwitz deportiert wurden – innerhalb von nur 56 Tagen. Zurückgekommen sind die wenigsten von ihnen. Von Ihrer Großfamilie überlebten die Shoah nur Sie, Ihre Schwester Yitti und Ihr Bruder Yezekiel.

Es braucht Wissen über das, was geschehen ist. Über das Schicksal der Opfer, über die Täter und ihre Motive  – und auch über diejenigen, die sich in unmenschlicher Zeit ihre Menschlichkeit bewahrt haben. So wie der schwedische Diplomat Raoul Wallenberg, der in einer beispiellosen Rettungsaktion rund 100.000 ungarischen Juden half, der Deportation zu entkommen. Er und seine Mitstreiter bewiesen mit ihrem Mut, dass es auch in einem Terrorsystem Handlungsspielräume für Widerstand gegeben hat. Dass es möglich war zu helfen.

„Zahlen und Ziffern können nicht genügen“, hat der Mitstreiter für die Errichtung des Holocaust-Mahnmals in Berlin, der Historiker Eberhard Jäckel, einmal betont. Neben Wissen über Orte, Daten, Fakten braucht es im Umgang mit der NS-Vergangenheit Empathie. Unsere Erinnerungskultur lebt von diesem Spannungsverhältnis aus Wissen und emotionaler Betroffenheit, von nüchterner Objektivierung, die allenfalls angestrebt werden kann, und Emotion, wie sie die Berichte der Zeitzeugen unweigerlich wecken. Weil es Empathie braucht, um mehr wissen zu wollen. Beides ist notwendig und bedingt sich wechselseitig. 

Es sind die persönlichen Geschichten, die uns berühren und einen Zugang dazu eröffnen, sich mit ‚der‘ Geschichte zu beschäftigen. In den vergangenen Wochen strömten viele, gerade junge Deutsche in die Kinos, um die Verfilmung des autobiographischen Romans von Judith Kerr zu sehen – „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“. Häufig begleiteten dabei Eltern ihre Kinder. Bei einigen werden Erinnerungen an die eigene Leseerfahrung des bald fünfzig Jahre alten Buches geweckt worden sein, an die Gefühle bei der Lektüre über ein 9-jähriges Mädchen und ihre jüdische Familie, die 1933 vor der Verfolgung durch die Nationalsozialisten aus Berlin flieht, deren Odyssee über Prag, die Schweiz und Paris bis nach London führt. Es ist die Geschichte über den Verlust von Heimat, über die Angst, die Entbehrungen auf der Flucht – und es ist eine Geschichte vom Überleben, weil die Gefahr rechtzeitig erkannt wurde. Zu Beginn der Verfolgung und Entrechtung, die in den europaweiten Vernichtungskrieg führte.
Davon erzählt die amerikanische Serie „Holocaust“, die 1979, übrigens auch an einem 22. Januar, im bundesdeutschen Fernsehen startete und den Völkermord an den europäischen Juden in die Wohnzimmer der Westdeutschen holte. Als hochemotionales Fernsehereignis bot sie Stoff für Diskussionen in den Familien, unter Arbeitskollegen, in der Politik; sie gilt deshalb als ein wesentlicher Impuls für die intensivierte Auseinandersetzung mit der deutschen Schuld. Die Serie stellte die Erfahrungsgeschichte der Opfer in den Mittelpunkt und zeichnete das Einzelschicksal der Mitglieder einer Familie nach. Sie stellte damit auch die Frage nach der Mit-Verantwortung: Wie war es möglich, dass Hunderttausende Menschen vor den Augen der Öffentlichkeit aus ihren Wohnungen und Häusern vertrieben wurden? Es war nicht ein anonymer Apparat, der die Nachbarn verschwinden ließ. Es waren Menschen, die mitmachten, es waren Kollegen, die wegschauten, und andere, die sich sogar daran bereicherten. Die bundesweit an vielen Orten vor Wohnhäusern im Gehsteig eingelassenen „Stolpersteine“ geben ja nicht allein den zu Nummern degradierten NS-Opfern ihre Namen zurück und bringen sie so an die Orte ihres Lebens zurück. Wer einmal ganze Straßenzüge entlang über diese Hinweise auf die Deportierten gestolpert ist, kann der Frage gar nicht mehr ausweichen, was man damals wissen konnte, hätte man hingeschaut.

Die Bereitschaft, sich dieser Vergangenheit zu stellen, ist bei uns Deutschen erst allmählich gewachsen. Aber auch viele Opfer konnten lange darüber nicht reden. Zu entsetzlich war das, was geschehen ist. Es brauchte zeitlichen Abstand. Sie, Frau Miller-Ehrenwald, hüteten Ihre Aufzeichnungen fast ein Dreivierteljahrhundert, bevor Sie über Ihre traumatischen Erlebnisse öffentlich reden konnten. Umso dankbarer sind wir, dass Sie Ihre Erinnerungen und Ihre kostbaren Aufzeichnungen mit uns teilen und dass Sie zu uns gekommen sind! Ihr Tagebuch ist ein einzigartiges Dokument der Zeitgeschichte. Dem Film, der auf Ihren Aufzeichnungen basiert – „Sheindi’s Diary“ –, gelingt als eigene Kunstform beides: er verbindet Wissen und Emotion. In einer Collage aus Dokumentarbildern und tief bewegenden Interviewausschnitten ist dieser Film ein Beispiel für eine gelungene Form der Geschichtsvermittlung. 

Das ist heute wichtiger denn je, weil die direkte Erinnerung an die Shoah mit der Zeit verblasst. Immer weniger Menschen können aus eigenem Erleben über diese Zeit berichten. Das Erinnern wandelt sich. Wo es weniger Zeitzeugen gibt, wird die Bedeutung der authentischen Orte, der Stätten der Entrechtung und Vernichtung, der Planung und Umsetzung, aber auch des Widerstands – umso wichtiger. Und die der Museen auch, deren Verantwortung es ist – so wie in dieser Ausstellung und mit diesem Film – Zeugnisse der Opfer künftigen Generationen nahezubringen. Die Aufgabe bleibt die gleiche: Jede Generation muss ihren eigenen Zugang zur Vergangenheit finden, nach neuen Formen und Wegen der Vermittlung suchen. 
Die Erinnerung sollte dabei in die Zukunft gerichtet sein. Weil Geschichte die Voraussetzung der Gegenwart ist und der Umgang mit der Vergangenheit die Grundlage für die Zukunft jeder Gesellschaft. Schuld wie Leid sind konkret – persönlich. Die nachfolgenden Generationen sind nicht schuld an dem, was geschehen ist. Die Gestaltung der Gegenwart liegt aber in ihrer Verantwortung. Dazu gehört, Lehren aus der Geschichte zu ziehen. Immer wieder aufs Neue.
Wie – im Wortsinne – not-wendig das ist, zeigt der gesellschaftliche Alltag in unserem Land. Der Pianist Igor Levit berichtete jüngst in einem aufrüttelnden Zeitungsartikel über antisemitisch motivierte Morddrohungen, die er erhalte. Er schreibt: „Antisemitismus, Rassismus, Antifeminismus, Menschenverachtung: Sie alle haben in unserem Land Platz – leider! Das ist ein Faktum. Sie hatten ihn schon immer. Und heute machen sie sich wieder breit und breiter.“ Was der Pianist, der in der kommenden Woche anlässlich der Ausstellungseröffnung im Bundestag spielen wird, hier schildert, ist die Erfahrung vieler in unserem Land.
Ich selbst glaubte lange, dass es in Deutschland nie wieder Raum für Antisemitismus geben wird. Wir erleben gerade das Gegenteil. Der Anblick von Polizeiwachen vor allen jüdischen Einrichtungen gehört zum Alltag im Straßenbild deutscher Städte. Dass der Polizeischutz notwendig ist, wissen wir nicht erst seit dem Anschlag in Halle, der im vergangenen Sommer das bedrohliche Ausmaß von Hass und rechtsextremer Gewaltbereitschaft in unserer Gesellschaft offenbart hat. Es gehört zur Realität in unserem Land, dass Bürger jüdischen Glaubens Anfeindungen und tätlichen Angriffen ausgesetzt sind, dass sie auf das Tragen der Kippa in der Öffentlichkeit verzichten, weil sie lieber unerkannt bleiben wollen. Dass jüdische Kinder in der Schule angepöbelt und gemobbt, dass Synagogen und Friedhöfe geschändet werden. Es ist beschämend für unser Land – und es schmerzt, dass deutsche Juden wieder mit dem Gedanken spielen auszuwandern. 
Haben wir nichts aus der Geschichte gelernt? 
Aus der Erfahrung des Holocaust leitet sich die Selbstver¬pflichtung unserer Republik ab, die Würde jedes einzelnen Menschen zu wahren und zu schützen. Sie bildet das Fundament unserer freiheitlichen Rechtsordnung, es ist der Grundkonsens unserer Gesellschaft. Wer sich dagegen stellt, steht außerhalb – und hat dies mit voller Wucht zu erfahren, durch einen konsequent agierenden Rechtsstaat und durch eine Zivilgesellschaft, die ihre selbst gesetzten Grenzen des Tolerablen selbstbewusst verteidigt. In Deutschland haben Diskriminierung, Rassismus und Antisemitismus nichts zu suchen – nicht der Antisemitismus im alten Gewand, nicht der zugewanderte, nicht der als Israel-Kritik getarnte. Vor dem Hintergrund einer sich wandelnden Zuwanderungsgesellschaft mit vielen Menschen, deren Vorfahren einen anderen Geschichts- und Traditionshintergrund haben, braucht es verstärkt Wissensvermittlung, Aufklärung, Information, Austausch. 
Diese Ausstellung kann dazu beitragen. Ich danke herzlich den Initiatoren und allen, die dabei mitgewirkt haben. Vor allem danke ich Ihnen, Frau Miller-Ehrenwald! Und ich wünsche dieser Ausstellung viele interessierte Besucherinnen und Besucher – damit Ihr Vermächtnis, das Vermächtnis des 14-jährigen Mädchens aus Galánta, immer lebendig bleibt! 

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