28.02.2020 | Parlament

Rede von Bundestagspräsident Dr. Wolfgang Schäuble zur Wiedereröffnung der Sempergalerie in Dresden

[Es gilt das gesprochene Wort]

Anrede

Mit Lobeshymnen auf Dresden, auf seine Schönheit, seine einzigartigen Kunstschätze ließen sich ganze Bücher füllen. Heinrich von Kleist träumte sich in Paris sehnsuchtsvoll nach Dresden zurück. Herder huldigte dem „Deutschen Florenz“. Goethe dankte der Stadt seine wiederbelebte „Lust, an Kunst zu denken“. Erich Kästner schwelgte in Erinnerungen an die wunderbare Stadt seiner Kindheit, in der die Vergangenheit und die Gegenwart miteinander in Einklang lebten. 

Als Kästner ein kleiner Junge war, ahnte Dresden nicht, welche Kluft sich einst zwischen Gegenwart und Vergangenheit auftun würde, zwischen Ruinen und einstigem Glanz. Und auch nicht, dass einige noch 75 Jahre später versuchen würden, die Erinnerung und die Trauer um die zerstörte Stadt und ihre Toten zur Umdeutung der Geschichte zu nutzen. Dresden hat unmissverständlich gezeigt, was davon zu halten ist: Nichts.  

Es ist in der langen, altehrwürdigen Geschichte der Dresdner Gemäldegalerie nicht die erste Wiedereröffnung, die wir heute begehen. Und sie ist – mit Blick auf das Selbstverständnis der Stadt – wohl auch nicht die wichtigste: 1956, als Dresden seinen 750. Geburtstag feierte, öffnete die wieder aufgebaute Sempergalerie nach 17 Jahren erstmals ihre Pforten. Ein Großteil der nach Kriegsende in die Sowjetunion verbrachten Dresdner Kunstwerke waren infolge eines Beschlusses der Moskauer Regierung an ihren Platz zurückgekehrt. Eine Entscheidung, die – wie ein Dresdner Publizist später schrieb – gewirkt haben muss „wie die Rückkehr der verlorenen Seele“. 
Die Dresdner feierten die Rückkehr ihrer Kunstschätze – die DDR-Führung inszenierte einen propagandistischen Erfolg. Annähernd „hundert Pressevertreter aus ganz Deutschland und dem Ausland“ vermeldete damals das Neue Deutschland. Und DDR-Ministerpräsident Grotewohl hoffte, dass – Zitat –  die „Werktätigen [...] aus dem Anblick der Werke neue Kraft für das große Werk des Aufbaus des Sozialismus schöpfen“ würden. – Wie gut das funktioniert hat, wissen viele von Ihnen hier vermutlich besser als ich. –  Den bürgerlichen Widerstandsgeist bekamen man jedenfalls damals schon zu spüren: Die Dresdner, die beim Festumzug anlässlich des Stadtjubiläums das von seinen Fürsten geknechtete Volk darstellen sollten, erschienen einfach nicht.

Die Mauer war noch nicht gebaut. Und wie lange die deutsche Teilung andauern würde, war nicht absehbar. Ebenso wenig wie der Weg zu ihrer Überwindung. Durch Bürger, die Unterdrückung, Überwachung und Unwahrheiten nicht länger hinnehmen wollten. Die – so würde man heute vielleicht sagen – ihre Komfortzone verließen und etwas riskierten, weil sie so nicht weiter machen wollten. Etwa 30.000 Dresdner hatten am Ende einen Ausreiseantrag gestellt – fast 6 Prozent der Gesamtbevölkerung. Die gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Staatsgewalt, Demonstranten und Ausreisewilligen am 3. und 4. Oktober 1989 waren die größten Unruhen in der DDR seit 1953. Dann kam Leipzig.

Wir Deutschen feiern in diesem Jahr zum dreißigsten Mal unsere staatliche Einheit, friedlich vereint in einem gemeinsamen Europa. Ein Geschenk, das uns die Geschichte machte. Und doch scheint es sich für viele wie eine Last anzufühlen, eine politische Bürde. Auch ich bin überrascht, wie stark noch heute – oder eher gesagt: heute wieder – die Friktionen zwischen Ost und West sind. Die Schwierigkeiten, sich gegenseitig verständlich zu machen und den Anderen zu verstehen. Wir spüren eine Zerrissenheit, eine Polarisierung, die sich auch in Wahlergebnissen niederschlägt, besonders in den ostdeutschen Ländern. Das stellt nicht nur Parteien und Parlamente mit ihren eingeübten Verfahren vor Herausforderungen. Es stellt uns alle auch vor die Frage, wie wir unsere Streitkultur gegen Hass, Verachtung und Gewalt verteidigen. Denn über Politik muss man streiten. 

In Dresden zeigen sich die Zerreißlinien unserer Gesellschaft wie unter einem Brennglas. Dresden, „das bipolare Wesen“, sei in dieser Hinsicht vielleicht „die eigentliche Hauptstadt“, mutmaßt der in Dresden aufgewachsene Journalist Peter Richter. Oder ist es – mit Uwe Tellkamp gesprochen – „die süße Krankenheit Gestern“, die die Konflikte von heute hier so schärft?
Gerade in der sächsischen Hauptstadt zeigt sich aber auch, wie grob und unzulänglich die Kategorien von Ost und West sind, die wir in unseren Debatten oft gebrauchen. Als wäre unsere Gesellschaft nicht längst sehr viel differenzierter. Als würde sich die Vielfalt nicht auch in den Stadtgesellschaften Sachsens, Brandenburgs oder Thüringens spiegeln. Und als wäre eine ostdeutsche Herkunft der entscheidende Maßstab für Haltungsfragen.

Über Politik muss man streiten. Über Kunst kann man streiten. In Dresden sogar so leidenschaftlich und erbittert, dass es deutschlandweit Schlagzeilen macht. Die Staatlichen Kunstsammlungen Dresden haben damit ihre eigenen Erfahrungen gemacht, als es vor einiger Zeit um den Stellenwert der ostdeutschen Nachkriegskunst in den eigenen Ausstellungen ging. Ein eindrückliches Beispiel dafür, wie viel Kunst mit der eigenen Identität zu tun hat, mit Heimat. Kunst – oder mindestens der Umgang mit ihr – ist politisch. 

Dieser Einsicht folgt auch der Einigungsvertrag, den wir vor 30 Jahren verhandelten, und der einen eigenen Artikel zur Kultur enthält: Das Bekenntnis zum kulturellen Erbe in Ostdeutschland als unser gemeinsames Erbe und unsere gemeinsame Verantwortung.

Dresden besitzt eine Kunstsammlung von europäischem Rang. Die Stadt verdankt sie dem Kunstsinn ihrer kurfürstlichen Herrscher, deren Streben nach Reputation, nach alles überstrahlender höfischer Repräsentation. Dass August der Starke mit dem systematischen Sammeln von Kunstwerken begann, ist vermutlich kein Zufall: Er war, wie es heißt, der erste sächsische Kurfürst, der als Prinz die so genannte Grand Tour, die Kavalierstour durch Europa absolvierte, wie sie im europäischen Adel lange Zeit üblich war. Die Begegnung mit Kunst und Kultur in Italien prägte ihn ebenso wie die überwältigende Inszenierung königlicher Macht im Frankreich Ludwig des XIV.

Reisen öffnet die Augen. Und manchmal gewinnt man die besten Ansichten von sich selbst durch einen Fremden – so wie es Dresden mit Canaletto erging. Dem Sohn eines venezianischen Gutsverwalters, der mit Unterbrechungen zwei Jahrzehnte als Hofmaler unter August III. diente und mit seinen Ansichten der barocken Residenzstadt an der Elbe das Bild Dresdens bis heute prägt. 

Museen sind eine europäische Erfindung. „Die Quintessenz Europas“, wie man sie genannt hat. Die ersten entstanden um und nach der Epochenwende, die Renaissance und Humanismus einleiteten. Als das Bedürfnis wuchs, Welt und Natur aus der Anschauung heraus zu erkennen und sich untertan zu machen. Als sich die Macht zugunsten weltlicher Herrschaft verschob, die Kunst sich von ihren sakralen, religiösen Funktionen löste und begann, Kunst nach unserem heutigen Verständnis zu werden. Nicht zufällig geschah das parallel zur Herausbildung einer spezifischen europäischen Mentalitätsformation, die auf die menschliche Vernunft und die Idee vom Vorrang des Individuums setzte. Darin wurzeln bis heute unsere westlichen Werte: universelle Menschenrechte und bürgerliche Freiheiten, Trennung von Staat und Religion, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. 

Das „Bewahren von Werten und Werken“ – so hat Werner Schmalenbach, einst Direktor der Kunstsammlungen Nordrhein-Westfalen, die zentrale Aufgabe von Museen definiert. Es gehe nicht nur ums Konservieren, sondern darum, etwas unvergänglich zu machen. Insofern sind Museen immer auch in die Zukunft gerichtet. Gerade in Zeiten schnellen, beschleunigten Wandels kann das Bewahrte, das Alte als Orientierung dienen, zur Vergewisserung darüber, wo wir herkommen, wer wir sind und was uns verbindet. Es sind dieselben Schulen und Meister, die in den großen Kunstmuseen Europas ausgestellt sind, die dort bestaunt und verehrt werden. 

Wer in Dresden verzückt vor Raffaels Sixtinischer Madonna steht, wer sich in die Tafeln des Katharinenaltars von Lucas Cranach versenkt oder Vermeers Brieflesendes Mädchen bewundert – der mag, so er sich kunsthistorisch auskennt, die Unterschiede von italienischer, deutscher und holländischer Schule, von Hochrenaissance und Barock ausmachen. Vor allem aber steht er einem europäischen Kulturerbe gegenüber. Er sieht ein „Europa der Kultur“, das vom Mittelalter an zu einer kulturellen Identität fand – lange bevor es nach den Katastrophen des 20. Jahrhunderts zu jenem wirtschaftlichen und politischen Einigungsprojekt wurde, mit dem wir uns heute – zu unserem gemeinsamen Glück! – abmühen. Eine Einheit in Vielfalt, auch und gerade kulturell. 
Kunst und Kultur sind ein einigendes Band, hier liegen die gemeinsamen Wurzeln unserer vielfältigen europäischen Kulturen. Deswegen bemüht man bei Festtagsreden an dieser Stelle gelegentlich das Zitat: „Wenn ich noch mal beginnen könnte, würde ich mit der Kultur anfangen.“ Ein fälschlicherweise Jean Monnet zugeschriebener Satz. Er klingt schön und einleuchtend. Aber wie hätte das eigentlich von statten gehen sollen, das europäische Projekt mit der Kultur anzufangen? Wo ständen wir heute, wenn wir nach dem Krieg darauf gewartet hätten, dass Deutsche und Franzosen sich durch Städtepartnerschaften, durch Jugend- und Studentenaustausch so weit annähern, bis sich daraus wie von selbst ein politisches Zusammengehen ergibt? Um nicht missverstanden zu werden: Kulturelle Austauschprojekte sind wichtig und noch viel mehr vor allem junge Menschen sollten daran teilnehmen. 
Und doch: Ihre gemeinsame Kultur hat die Europäer nicht davon abgehalten, sich über Jahrhunderte gegenseitig zu bekriegen. Deswegen war die Gründung der Europäische Union – trotz all der Defizite, bei aller mehr oder minder berechtigen Kritik – ein entscheidender Schritt: Wir Europäer – Franzosen und Deutsche, Italiener und Niederländer, später Polen und Tschechen – haben uns damit die Institutionen geschaffen, die eine zivilisierte, friedliche Austragung von Konflikten ermöglichen, einen politischen Ausgleich von Interessen zwischen unseren Staaten, zwischen den europäischen Bürgern. Auf der Grundlage gemeinsamer Werte und in Verfolgung gemeinsamer Ziele. Wer glaubt, der Binnenmarkt sei ein Selbstzweck, irrt.

„Wie wird man Europäer?“, fragte sich einst der niederländische Schriftsteller Cees Nooteboom. Geburt allein reiche nicht, er selbst sei Europäer erst durch „harte Arbeit“ geworden. Durch das Wissen um die europäische Geschichte, durch die Begegnung mit anderen europäischen Literaturen und Kulturen, den Austausch mit anderen. Erst auf diesem Wege hat er sich in seiner „Eingestaltigkeit als Niederländer“ und in seiner „Vielgestaltigkeit als Europäer“ erkennen können.
Die oft vermisste europäische Identität hat mehr als eine Dimension. Und vor allem: man muss sie sich aneignen! Eine Sammlung wie die Dresdner Alten Meister und die sie begleitenden Skulpturen ist dafür ein guter Anfang. Ein Ort der Begegnung mit dem, was unsere europäischen Kulturen miteinander verbindet. Ein Ort, an dem man ein Stück weit ein Europäer werden kann. Hier in Dresden, mitten in Europa.

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