09.09.2020 | Parlament

Worte von Bundestagspräsident Dr. Wolfgang Schäuble vor Eintritt in die Tagesordnung zum Gedenken an die Opfer des NSU am Jahrestag des ersten Anschlags am 9. September 2000

[Es gilt das gesprochene Wort]

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

der 9. September vor 20 Jahren war in der Wahrnehmung der meisten Menschen ein Spätsommer-Tag wie viele andere.

Heute wissen wir: der Tag bedeutete eine Zäsur für unser Land.

Am 9. September 2000 trafen Enver Şimşek an einem seiner Blumenstände in Nürnberg mehrere Schüsse. Zwei Tage später erlag er seinen schweren Verletzungen.

Es war der erste Mord in der Anschlagsserie des selbst ernannten „Nationalsozialistischen Untergrunds“.

Acht weitere Männer, die einzig ihr Migrationshintergrund einte, und eine junge Polizistin wurden in den Folgejahren kaltblütig ermordet.

Viel zu lange blieben die Hintergründe unaufgeklärt –

weil nicht sein durfte, was sich manche womöglich nicht vorstellen wollten oder sich viele, ich bekenne das offen, auch einfach nicht vorstellen konnten:

Eine Mordserie aus rassistischen Motiven, aus blankem Hass. Mitten unter uns.

Die schweren Versäumnisse und Fehler der Ermittlungsbehörden bedeuteten für die Hinterbliebenen über den schmerzvollen Verlust ihres Nächsten hinaus weiteres Leid: durch die quälende Ungewissheit, und weil sie Vorurteilen, Verdächtigungen und Verleumdung ausgesetzt waren.

Seitdem haben wir viele neue Erkenntnisse gewonnen, auch dank mehrerer parlamentarischer Untersuchungsausschüsse. Vor dem Ausmaß an rechtsextremer Bedrohung kann niemand mehr die Augen verschließen.

Gebannt ist die Gefahr auch heute nicht.

Im Gegenteil – das zeigen die Anschläge von Hanau und Halle, der Mord an Walter Lübcke.

Für viele Bürger ist die rechtsextreme Bedrohung eine unerträgliche Alltagserfahrung. Dazu zählt die Serie an Briefen und Mails, die mit direktem Verweis auf die NSU-Morde Angst verbreiten. Bedroht werden Menschen – vor allem Frauen –, die sich für unser Land engagieren, darunter die Anwältin der Familie Şimşek.

Journalisten, Künstler, Autoren, Vertreter der Justiz und von Religionsgemeinschaften, auch Politiker, Abgeordnete: Sie werden angegriffen, weil sie öffentlich für eine weltoffene Gesellschaft eintreten. Für unsere Demokratie.

Wir dürfen das nicht hinnehmen!

Dass Spuren zu den Ermittlungsbehörden selbst führen, ist ein ungeheuerlicher Vorgang, der umfassend aufgeklärt gehört. Um die Betroffenen zu schützen und um das Vertrauen in den Rechtsstaat zu stärken.

Auf einen starken Rechtsstaat kommt es an, um mit der gebotenen Härte den Rechtsextremismus zu bekämpfen.

Und auf uns alle. Denn es liegt in unserer Verantwortung, den ewig Gestrigen, den gewaltbereiten Chaoten und militanten Neonazis keinen Millimeter öffentlichen Raum zu geben.

Das Demonstrationsrecht ist ein hohes Gut – es zu bewahren und zu schützen, fordert aber, es verantwortlich zu nutzen.

Alles hat eine rechtliche Grenze.

Jeder politischen Seite muss klar sein: Die Gewaltfreiheit steht in der Demokratie über allen Meinungsverschiedenheiten.

Kein politisches Anliegen rechtfertigt das Gewaltmonopol des Staates und die Durchsetzung des Rechts in Frage zu stellen – so wie das bei den Ausschreitungen in Leipzig vermummte Linksextremisten mit Angriffen auf die Polizei getan haben.

Und dass am Rande der Demonstration gegen die Corona-Maßnahmen in Berlin eine gewaltbereite, erkennbar rechtsradikale Minderheit Absperrungen der Polizei überwand und versuchte, wie vorab angedroht in den Deutschen Bundestag vorzudringen, ist inakzeptabel.

Die Symbole der Demokratieverachtung ausgerechnet vor unserer Volksvertretung sind eine Schande –

wer das versucht zu relativieren, beweist nur, welch Geistes Kind er ist.

Dass nicht Schlimmeres passiert ist, haben die Berliner Landespolizei und die Bundestagspolizei verhindert.

Dafür danke ich im Namen des ganzen Hauses den am Einsatz Beteiligten, und ich begrüße neben dem Berliner Innensenator Andreas Geisel als ihrem Dienstherr auf der Tribüne die Beamten, die sich den Randalierern entgegengestellt haben, gemeinsam mit weiteren Kollegen und stellvertretend für alle Sicherheitskräfte.

Wir erleben immer wieder Auswüchse einer wachsenden gesellschaftlichen Verrohung: Gewalt gegen Rettungskräfte und Feuerwehrleute, gegen Mitarbeiter in Ämtern und Behörden.

Gerade Polizisten sind Ziel von Übergriffen.

Viel zu oft gerät außer Acht, dass sie in unser aller Namen die Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung sichern, ohne die keine freiheitliche Gesellschaft existieren kann.

Pauschalurteile, die zuletzt so schnell bei der Hand waren, werden dem schwierigen Polizeidienst nicht gerecht.

Die Polizei braucht unsere Unterstützung. Und sie verdient sie.

So erregt manche Auseinandersetzung inzwischen geführt wird: als Abgeordnete haben wir die Aufgabe, unser Handeln immer wieder zu erklären. Anders geht es nicht.

Dabei braucht es manchmal auch klare Ansagen. Aber niemand ist gezwungen, im Wettbewerb um die schrillste Botschaft auch noch in einen Wettlauf um die schnellste Kommentierung einzutreten. Denn dabei geht zuerst verloren, was es im aufgeheizten Klima mehr denn je braucht:

Die Fähigkeit zu differenzieren.

Es reicht eben nicht, sich zu empören.

Wir müssen uns berechtigten Sorgen, auch Kritik und lautstarkem Protest, sofern er friedlich bleibt, offen stellen.

Aber genauso sollte nach den Szenen am Reichstagsgebäude der Letzte verstanden haben, dass es nicht nur rechtliche Beschränkungen des Demonstrationsrechts gibt. Es gibt auch Grenzen des Anstands, wie weit man mitträgt, wer mit einem mitläuft.

Der Verantwortung, sich nicht von Extremisten instrumentalisieren zu lassen, kann sich niemand entziehen.

Bund und Land stehen in der gemeinsamen Pflicht: Sie müssen sicherstellen, dass sich Szenen wie vor anderthalb Wochen nicht wiederholen.

Es geht um Fragen der Sicherheit.

Und um die Würde dieses Hauses.

Das Reichstagsgebäude steht für Deutschlands parlamentarische Tradition genauso wie sein Brand für die Zerstörung der Demokratie.

Es ist heute Sitz des Bundestages und damit das Symbol unserer freiheitlichen Demokratie –

das macht es sakrosankt.

Wir dürfen deshalb nicht zulassen, dass es als bloße Kulisse missbraucht wird. Und das gilt ausnahmslos für alle Versuche, das Haus plakativ zu instrumentalisieren, ob mit Fahnen, Flugschriften oder Transparenten. Daran gibt es keine Abstriche.

Wer hier nach Inhalten unterscheiden will, macht sich unglaubwürdig – und das schadet am Ende allen.

Der Deutsche Bundestag ist ein befriedeter Raum und ein Ort des Streits.

Ohne unterschiedliche Meinungen keine Freiheit.

Ohne Streit keine Demokratie.

Wir haben angesichts der Corona-Pandemie gegenwärtig besonders weitreichende Entscheidungen zu treffen – mit Auswirkungen auf die Gesundheit, die Wirtschaft, das Zusammenleben und den Zusammenhalt in unserem Land.

Darüber darf und darüber muss gestritten werden. Mit Respekt und nach Regeln,

in Rede und Gegenrede, mit sachlichen Argumenten und mit Leidenschaft.

Damit für die Bürgerinnen und Bürger die schwierigen Abwägungsprozesse verständlich und die Unwägbarkeiten nachvollziehbar bleiben.

Damit die am Ende mehrheitlich getroffenen Entscheidungen gesellschaftliche Akzeptanz finden.

Gelingt uns das, kann dies in der erhitzen gesellschaftlichen Debatte Vorbild sein.

Das ist unsere Verantwortung.

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