09.05.2020 | Parlament

Gemeinsamer Namensbeitrag von Bundestagspräsident Dr. Wolfgang Schäuble mit den Parlamentspräsidenten Richard Ferrand, Robert Fico und Mertixell Batet zum Kriegsende und zum Europatag: „Die Unterschiede nicht einebnen“

erschienen am 9. Mai 2020 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung

[Es gilt das gesprochene Wort]

Der Sieg von Freiheit und Demokratie über den Totalitarismus vor 75 Jahren bedeutete Zäsur und Neuanfang in Europa. Heute steht dieser Sieg – auch wenn jeder auf seine eigene Weise daran erinnert – für die Bereitschaft zur Versöhnung unter den Völkern Europas. Sie stand am Beginn eines Weges der Zusammenarbeit, der in unserer Geschichte ohne Beispiel ist.

Wenn wir den heutigen „Europatag“ feiern, stärkt dies unser Zutrauen in die eigene Befähigung zur Krisenbewältigung. Wir erinnern damit an den visionären Plan Robert Schumans – nur fünf Jahre nach Kriegsende und in ungleich düsterer Lage als heute. Die europäische Integration ermöglichte nach der verheerendsten Krise, die jemals unseren Kontinent heimgesucht hatte, den Wiederaufbau und die längste Periode von Frieden und Wohlstand. Mit Überwindung des Eisernen Vorhangs vor dreißig Jahren ist sie zu einem Projekt für ganz Europa geworden. Dessen Zukunft und die der Eurozone wird sich daran entscheiden, ob und wie erfolgreich es uns gelingt, die aktuellen Herausforderungen gemeinsam zu meistern – allen voran, ob wir einen europäischen Weg finden, die weitere Ausbreitung des Coronavirus schnell und verantwortungsvoll zu stoppen und dessen Folgen zu bekämpfen sowie dafür zu sorgen, dass die notwendigen Ressourcen mobilisiert werden, um allen Mitgliedstaaten zu ermöglichen, den Weg der gemeinsamen wirtschaftlichen Erholung zu beschreiten.

Zu dieser neuen Aufgabe des Wiederaufbaus und der Reform brauchen wir jetzt die Initiative in der Europäischen Union, um solidarisch und in enger Zusammenarbeit den massiven Auswirkungen auf Wirtschaft und Gesellschaft zu begegnen. Um durch kreative Ideen in der Bewältigung dieser Krise eine neue Dynamik zu entfachen, die es Europa ermöglicht, sich im globalen Wettbewerb durch eigene Stärke zu behaupten.

Die EU entwickelt sich in Krisenzeiten weiter. Jede Krise der Vergangenheit hat zu Vereinbarungen über eine intensivere Zusammenarbeit und verstärkte gemeinsame Maßnahmen geführt. Jeder Wiederaufbauplan ist zugleich auch ein Reformplan. Wir wollen nicht zum Ausgangspunkt zurückkehren, sondern uns auf die Ziele zubewegen, die wir uns gemeinsam gesteckt haben. Dazu brauchen wir Einigkeit über die gemeinsame Zielsetzung und einen Reformplan, mit dem wir uns den Herausforderungen unserer Zeit besser stellen können – den bekannten und denen, die die aktuelle Krise mit sich bringt. Die Corona-Pandemie, unter der wir nach wie vor leiden, zeigt die Notwendigkeit, die Mängel und Fehlentwicklungen zu bekämpfen, die Folge ungezügelter Globalisierung sind. Diese erfordert strukturelle politische, wirtschaftliche, soziale und ökologische Veränderungen, die nur mit vereinten Kräften erreicht werden können, um die Rechte und die Versorgung der Bürgerinnen und Bürger zu garantieren. Die Antwort auf die Gesundheitskrise hat deutlich gemacht, wie vielfältig die Möglichkeiten sind, die sich mit der zunehmenden Digitalisierung unserer Lebenswirklichkeit eröffnen, aber auch welche Risiken damit einhergehen, und dass der Staat dafür sorgen muss, mögliche Folgen wie Ausgrenzung und Diskriminierung abzuwenden und die Freiheit des Einzelnen zu wahren, die in unserem politischen Gemeinwesen von so grundsätzlicher Bedeutung ist.

Beim Wiederaufbau unserer Wirtschaftssysteme müssen wir besonderes Gewicht auf deren soziale und ökologische Nachhaltigkeit legen. Wir dürfen uns nicht erneut unserer Verantwortung im Kampf gegen den Klimawandel und für den Erhalt der biologischen Vielfalt entziehen, und wir dürfen auch nicht die Erkenntnisse der Wissenschaft geringschätzen. Als Europäer kommt uns darüber hinaus eine gemeinsame Verantwortung für die Stabilität und Entwicklung unserer unmittelbaren Nachbarländer zu, insbesondere der afrikanischen Staaten – nicht zuletzt wegen der ungelösten Probleme durch die globale Migration.

Die Solidarität, die zur Gründung der Europäischen Union führte, unterschied nicht nach Geschichte, Entwicklung oder Verantwortung eines Landes. Sie forderte lediglich demokratische Legitimität, Bereitschaft und Engagement sowie das Bekenntnis zu gemeinsamen Werten und die Einhaltung der vereinbarten Regeln. Sie war nicht der Vergangenheit, sondern der Zukunft zugewandt. Sie steht vielmehr für das Bewusstsein, die Herausforderungen unserer Zeit gemeinsam besser zu bewältigen. Sie steht für die Überzeugung, dass eine abgestimmte Antwort aller auf die Probleme jedes einzelnen Mitglieds angesichts der Beziehungen und Interessen, die uns einen, stets die beste Antwort für ganz Europa und jeden Mitgliedstaat ist.

Trotzdem verschaffen sich in vielen Mitgliedstaaten diejenigen stärker Gehör, die den Sinn des europäischen Integrationsprozesses bezweifeln. Sie nutzen die Corona-Krise, um die Konfrontation zwischen den Völkern zu schüren und Spaltungstendenzen zu vertiefen. Sie machen das schwierige und zwangsläufig schwerfällige Bemühen um Konsens und Kooperation verächtlich und nutzen es, um die Legitimation der Institutionen selbst in Frage zu stellen. Dabei handeln in der Krise die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten längst solidarisch, logistisch wie finanziell.

Heute geht es, wenn wir uns gemeinsam neue Ziele stecken, nicht mehr vorrangig um die Grundsatzfrage, ob wir mehr oder weniger Europa wollen, sondern pragmatisch darum, wie wir möglichst schnell die Union der 27 Mitgliedstaaten besser und stärker machen. Handlungsfähiger. Denn auch in der durch Corona gründlich veränderten globalisierten Welt wird keine europäische Nation für sich alleine bestehen. Europa bleibt unser bestes Instrument, um uns mit der Bündelung unserer Fähigkeiten effektiv zu behaupten und so die Wirklichkeit nach unseren Wertvorstellungen mitgestalten zu können.

Wirklichkeit ändert sich – und mit ihr Identitäten. Die EU will weder Staaten ersetzen noch nationale Unterschiede einebnen. Die Bürgerinnen und Bürger Europas spüren allerdings längst viel mehr Gemeinsamkeiten als Trennendes. Dies gilt zweifellos für die gemeinsamen Herausforderungen, aber auch für die geteilten Werte von Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie sowie das Streben nach Fortschritt und Solidarität. Wir nehmen das philosophische, soziale und kulturelle Erbe jedes einzelnen Landes an und erkennen uns in den Schöpfungen und Träumen unserer europäischen Mitbürgerinnen und Mitbürger vielfach wieder, ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit. Darauf kann eine eigene europäische Identität wachsen, als Grundlage für die weitergehende Demokratisierung des europäischen Projekts.

In den nationalen Parlamenten spiegelt sich der gesellschaftliche Pluralismus, hier sind wir gewohnt, Interessenunterschiede auszutragen und durch Kompromiss oder Mehrheit zur Entscheidung zu bringen. Vielfalt kennzeichnet auch Europa. Der Integrationsprozess fordert deshalb, uns immer auch in die Lage des anderen zu versetzen, seine Perspektive einzunehmen. Nur so können wir – ob in Nord und Süd, West und Ost – alle Standpunkte berücksichtigen und am Ende zu gemeinsamem Handeln kommen. Am „Europatag“ 75 Jahre nach Kriegsende und angesichts der größten Herausforderung der letzten Jahrzehnte bekennen sich die nationalen Parlamente zu ihrer gemeinsamen Verantwortung, als Scharnier zwischen der Bevölkerung und den europäischen Institutionen daran mitzuwirken, die europäische Idee weiter zu stärken und ein bürgernahes Europa neu zu beleben, das sich seiner Verantwortung in und für die Welt bewusst ist. Ein solidarisches und demokratisches Europa, das untereinander streiten kann, sich aber nie wieder spalten lässt.

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