15.06.2020 | Parlament

Videobeitrag von Bundestagspräsident Dr. Wolfgang Schäuble „Bürger, Charisma und Politik - zur Aktualität Max Webers“ für die Veranstaltungsreihe „Die Moderne denken - Zum 100. Todestag Max Webers“ der Bayerischen Akademie der Wissenschaften

[Es gilt das gesprochene Wort]

Anrede,

eine Videobotschaft hätte Max Weber wohl als „zweckrationales Handeln“ interpretiert. Ich kann Ihnen versichern, dass ich die „Wertrationalität“ einer persönlichen Begegnung unbedingt vorziehen würde. Die Pandemie zwingt zu Vernunft und Vorsicht, so sind Sie vor mir geschützt, aber nicht vor meinen Worten.    

Sie haben das Zitat aus der Antrittsrede Max Webers in Freiburg eben gehört: „Wenn ich mich frage, ob das Bürgertum Deutschlands heute reif ist, die politisch leitende Klasse der Nation zu sein, so vermag ich heute nicht diese Frage zu bejahen.“

Max Weber war selbst in diesem Bürgertum, dem er politisch wenig zutraute, fest verwurzelt. Die taz bedachte ihn zu seinem 150. Geburtstag sogar mit dem Titel „Ikone der Bürgerlichkeit“!

Seine Thüringer Herkunft und sein eigener Lebensstil waren zutiefst bürgerlich – und davon können wir uns ein recht detailliertes Bild machen. Denn das Bürgertum übernahm seinerzeit nicht nur in Wirtschaft, Staat und Gesellschaft immer mehr Verantwortung – vor allem legte es eifrig, fast geschwätzig, davon Zeugnis ab. In Briefen. Dass wir so viel über den Sozialökonom wissen, liegt deshalb nicht allein an seinen umfangreichen wissenschaftlichen, bisweilen sperrigen Werken, sondern auch an der überlieferten Korrespondenz – Notizen über Alltag, Reisen, Krankheiten und natürlich über Begegnungen und Beziehungen. Die Kultur des Briefeschreibens, die Mitteilungsfreude über Erfolge und nächste Vorhaben waren Merkmal des Bürgerlichen im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert. Etwa so, wie unsere digitalisierte und globalisierte Welt heute durch Mitteilungen charakterisiert ist, die in unablässigen Strömen von Kurznachrichten auf dem Handy eingehen.

Das Bürgertum liebte zu Webers Zeiten auch die konzertante Hausmusik – Weber fand in der Musik eine „innerweltliche Erlösung vom Alltag“. Für seine Freundin Mina Tobler, deren Musik bei dieser außergewöhnlichen Ausstellungseröffnung zu Ehren kommt, schafften die Webers eigens ein Klavier an, damit das Vorspiel im Privaten möglich wurde. Dem Briefwechsel mit der Pianistin entspringt im Übrigen Max Webers Geständnis, dass die Politik seine „heimliche Liebe“ sei.

Doch als Gelehrter wusste er Wissenschaft und Politik zu trennen. Ausdrücklich verbat er sich politische Interventionen in den Vorlesungen, die der Analyse und Erklärung vorbehalten waren und frei von dem sein sollten, was wir Manipulation oder Agitation nennen. Die Verzahnung von Wissenschaft und Politik, die immense Bedeutung der wissenschaftlichen Expertise für politische Entscheidungen heute – angesichts der Pandemie – konnte Weber nicht erahnen. Doch seine Begriffe lassen die Möglichkeit zu, dass die Wissenschaft einflussreich, also machtvoll sein könne: Denn er hielt Macht als solche für „soziologisch amorph“ und definierte sie als Möglichkeit, als „Chance innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen dem Verhalten anderer aufzuzwingen“.

Dem gemeinen Bürgertum aber traute der Sozialökonom in seiner Antrittsrede in Freiburg mit Blick auf die politische Macht wenig zu. Webers Denken kreist bekanntlich um die Entwicklung der Moderne und des Kapitalismus – nicht allein in ökonomischer Hinsicht, vor allem in seinen historischen Herleitungen neuer Beziehungs- und Herrschaftsstrukturen wirkte das okzidentale Bürgertum wie ein Katalysator. Den Interessen dieser sich emanzipierenden gesellschaftlichen Gruppe entsprach die Rationalisierung des Rechts, die Rechtsverbindlichkeit von Kontrakten und die Ablösung traditionaler, dynastischer Strukturen – kurz: die Entstehung des modernen Staates und der neuen, demokratischen Ordnung.

 Max Weber war Skeptiker – im Einwand lag für den Erforscher der komplexen Zusammenhänge in Gesellschaft, Wirtschaft und Staat eine wissenschaftliche Methode: Der radikalste Zweifel sei der Vater der Erkenntnis, hat er einmal gesagt. Dass er 1895 an der politischen Reife des Bürgertums zweifelte, ist also nicht als grundsätzliche Ablehnung bürgerlicher Herrschaftskompetenz zu verstehen. Spätere Schriften zeigen: Wer sich in seinem Sinn als Führungsperson exponiert, muss bestimmte Kriterien erfüllen und seine Eignung fortwährend unter Beweis stellen. Auch aus heutiger Perspektive warnt Max Weber völlig zu recht vor politischen „Windbeuteln“, die der Welt, „wie sie wirklich ist“, nicht gewachsen seien.

Max Weber war kein Phantast, vielmehr beschrieb er mit genauen Begriffen der Theorie – die Realität. Wie tragfähig diese Begriffe sind, wie sinnvoll seine Abgrenzung der Verantwortungsethik von der Gesinnungsethik, zeigt sich derzeit besonders eindrücklich. Seine Feststellung, dass Verantwortungsethik einen Sinn für die Wirklichkeit verlange, ist aktueller denn je.

Am Ende seiner Rede vom Januar 1919 formulierte er den berühmt gewordenen Grundsatz aller verantwortlichen Politik: das „starke langsame Bohren von harten Brettern“. Er betonte die Mühsal politischer Gestaltungsprozesse, das Zähe, das Ausdauer Erfordernde eines Einsatzes für das Gemeinwohl. Dass sich Beharrlichkeit aber lohnt, Anstrengungen nicht vergebens sind: Das gehört zum optimistischen Grundton in seinem Denken. Zu jener unbedingten „Weltbejahung und Weltanpassung“, von der er schon in seiner Schrift über die protestantische Ethik und den Geist des Kapitalismus gesprochen hatte. Die einzigen Voraussetzungen für ein gutes Ende politischen Handelns seien, dass Entscheidungsträger bereit sein müssten, die Dinge realistisch zu betrachten, Fehlentwicklungen zu antizipieren und zu korrigieren – und dass sie zu jeder Zeit über drei Eigenschaften verfügten: „Leidenschaft – Verantwortungsgefühl – Augenmaß.“  

Eine Persönlichkeit, die diese Qualitäten mitbringt und dazu begabt ist, diese „außeralltäglichen, nicht jedem anderen zugänglichen Kräfte“ auch in der Gesellschaft zu entfalten, verfügt über Charisma. Diesen Begriff nutzt Weber als Etikett für Menschen, denen es gegeben ist, andere in ihren Bann zu ziehen und eine folgsame oder gehorsame Anhängerschaft zu formieren, die zur freiwilligen Unterwerfung bereit sei. Obgleich übrigens Webers eigene Ehefrau sich als Frauenrechtlerin und Rechtshistorikerin in Gesellschaft und Politik selbst einen Namen gemacht hat, beschrieb er nur Träger, nicht aber Trägerinnen von Charisma, die zur Herrschaft, zur Machtausübung im Guten wie im Schlechten berufen seien. Er blieb hier ganz Sohn seiner Zeit.

Charisma wirke gerade in Krisenzeiten, postulierte er – das sollte uns aufhorchen lassen. Ebenso wie Max Webers Beschreibung, dass es niemandem ewig anhafte. Der Träger des Charisma kann dieses einbüßen: Wenn er gegebene Versprechen nicht mehr einlöst, wenn „seine Führung kein Wohlergehen für die Beherrschten“ mehr garantiere, dann ist seine Sendung erloschen, schreibt Weber. Dann suche die Anhängerschaft nach neuer Ordnung und anderer Autorität.

Weber sieht durchaus ein Spannungsverhältnis zwischen den charismatischen und machthungrigen Persönlichkeiten – wir würden wohl Demagogen oder Populisten sagen – und der gewünschten Ordnung, die übergroße Machtgier bändigt. In der Demokratie kommt dem Parlament hier eine kontrollierende Rolle zu. Führungspersönlichkeiten mit charismatischen Eigenschaften im Weberschen Sinne braucht es trotzdem. In Politik und Wissenschaft. Und das von ihm beschriebene Staatsbewusstsein einer Gemeinschaft, die „durch eine Idee, den Glauben an tatsächlich geltende oder gelten sollende Normen und Herrschaftsverhältnisse von Menschen über Menschen“ zusammengehalten wird.  

Max Weber ist ein beachtlich vielseitiger Wissenschaftler gewesen, ein Prophet war er aber nicht. Dennoch liegt in seiner Analyse eine unbewusste Vorausschau auf die Abgründe des 20. Jahrhunderts. Er selbst musste sie nicht erleben. Die Spanische Grippe, an die dieser Tage öfter noch als an den zeitlebens gesundheitlich angeschlagenen Max Weber erinnert wird, fand in ihm ein Opfer. Sein Werk aber gibt auch hundert Jahre nach seinem Tod noch immer verlässlich Auskunft. Wie es bei Max Weber steht, wird im Idealfall auch heute „erfolgreiche Politik, gerade auch erfolgreiche demokratische Politik … mit dem Kopf gemacht“.

Marginalspalte