Rede von Bundestagspräsident Dr. Wolfgang Schäuble zum Thema „30-Jahre jüdische Zuwanderung Erfolge und Herausforderungen“ im Rahmen von „1.700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“
[Es gilt das gesprochene Wort.]
[Anrede]
30 Jahre jüdische Zuwanderung – das ist ein Grund zum Feiern! Dankbar zu sein und auch ein bisschen stolz zurückzublicken, was wir geschafft haben: die jüdischen Gemeinden, die deutsche Politik, vor allem aber die mehr als 200.000 Jüdinnen und Juden, die aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland kamen und die hier mit ihren Familien neue Wurzeln geschlagen haben.
Aber unbeschwert feiern lässt sich diese Erfolgsgeschichte nicht. Nicht nur wegen der mörderischen deutschen Vergangenheit, vor deren Hintergrund die Bundesrepublik vor 30 Jahren über die jüdische Zuwanderung entschieden hat. Sondern wegen der deutschen Gegenwart.
„Der Antisemitismus ist fast alles, was man vom Judentum in Deutschland kennt“, schrieb der Autor und Journalist Dmitrij Kapitelmann im Frühjahr wütend in einer großen deutschen Wochenzeitung. Er ist 1994 als Kind mit seiner Familie aus der Ukraine nach Deutschland gekommen und dass seine Wut begründet ist, wissen wir nicht erst seit den vergangenen Wochen, als Judenhass auf deutschen Straßen und Plätzen unverhohlen zur Schau gestellt wurde.
In dem Satz steckt aber noch ein weiterer Vorwurf: Dass wir, die deutsche Mehrheitsgesellschaft, jüdisches Leben nur in seiner Negation wahrnehmen. Durch den Hass seiner Feinde. Das ist sarkastisch zugespitzt formuliert. Aber dass viele von uns zu wenig von der Wirklichkeit jüdischen Lebens in Deutschland wissen, das trifft wohl leider zu.
Dabei hängt das eine mit dem anderen zusammen: Jüdisches Leben sei oft „unsichtbar“, weil es für Juden noch immer zu gefährlich sei, sichtbar zu sein, beklagte Marina Weisband, als sie bei der Gedenkveranstaltung am 27. Januar im Deutschen Bundestag sprach. „Wenn eine Alltäglichkeit wie ein jüdischer Stammtisch mit Bier und Witzen nur halb so viel Öffentlichkeit bekommen würde wie jede antisemitische Aussage, die von dahergelaufenen Provokateuren zwecks Medienzirkus in die Welt gespien wird“, dann wäre, so Weisband weiter, die Situation eine andere.
Die meisten nichtjüdischen Deutschen haben nie an einem jüdischen Stammtisch mit Bier und Witzen gesessen. Leider. Es wäre wohl nicht nur ein Plus im Kampf gegen antisemitische Vorurteile und im Bemühen um eine deutsch-jüdische Normalität, sondern womöglich auch dem deutschen Sinn für Humor zuträglich.
Antisemitismus ist und bleibt unerträglich. Er ist ein Problem, mit dem wir uns nicht abfinden dürfen. Wir, Politik und Gesellschaft, müssen ihm entschieden entgegentreten – ganz gleich, welche Formen er annimmt und aus welchen Quellen er sich speist. Mit allen rechtsstaatlichen Mitteln, mit öffentlicher Ächtung, mit verstärkten Anstrengungen zu Bildung und Aufklärung – nicht nur, aber gerade auch bei jungen Menschen aus arabisch- und türkischstämmigen Familien. Antisemitismus ist unser aller Problem, nicht nur das von Jüdinnen und Juden. Und keinesfalls nur das der Antisemitismusbeauftragten von Bund und Ländern.
Zugleich braucht es mehr Begegnungen, mehr Austausch zwischen Juden und Nichtjuden, damit Antisemitismus eben nicht alles bleibt, was man von den Juden in Deutschland kennt.
Ohne die jüdischen Zuwanderern und ihre Familien würden wir wohl mit sehr viel weniger Grund zur Freude an 1700 Jahre jüdischen Lebens in Deutschland erinnern.
Es ist kein Zufall, dass die größte jüdische Zuwanderungswelle der deutschen Nachkriegsgeschichte in den Jahren des historischen Epochenwechsels ihren Anfang nahm. Für sowjetische Juden wurde es im Zuge von Gorbatschows Reformkurs Ende der 1980er Jahre leichter auszuwandern. Vielen von ihnen erschien es angesichts der zunehmend unsicheren politischen Lage und der antijüdischen Stimmung auch immer dringlicher. Die meisten zog es in die USA oder nach Israel. Aber mit dem Fall der Mauer kam auch Deutschland für einige in Betracht, genauer gesagt: zunächst die DDR.
Die friedliche Revolution beendete auch die historische Lebenslüge der DDR, die als das vermeintlich bessere, antifaschistische Deutschland jegliche Mitverantwortung für den Völkermord an den europäischen Juden abgelehnt hatte. Anfang 1990 hatte sich der Zentrale Runde Tisch einstimmig dafür ausgesprochen, Juden aus der Sowjetunion aufzunehmen. Die erste freie gewählte Volkskammer bekannte sich wenige Wochen nach der Wahl zur Mitverantwortung für die Verbrechen am jüdischen Volk. Im Sommer 1990 – wenige Monate vor der Wiedervereinigung – beschloss die letzte DDR-Regierung unter Lothar de Maizière, jüdischen Einwanderern aus der Sowjetunion ein Bleiberecht zu gewähren.
Die Bundesregierung hat diese Entscheidung unterstützt und begleitet. Kurz nach meiner Ernennung zum Bundesinnenminister war Heinz Galinski, der damalige Präsident des Zentralrats der Juden, in dieser Sache an mich herangetreten. Für mich stand fest, dass wir dem Wunsch von Juden, die in Deutschland leben wollten, nicht entgegenstehen werden. Es war ein unverhofftes Geschenk, gerade angesichts der deutschen Geschichte – und das empfinde ich noch heute so, wie auch die Mehrheit der Menschen in diesem Land. Ich entgegnete das auch dem israelischen Botschafter, der damals Einspruch erhob: Schließlich hätten Juden eine Heimat in Israel und müssten kein Asyl suchen. Aber sollte ausgerechnet Deutschland Juden zurückweisen, die hierher kommen wollen? Unvorstellbar!
Es ging also von Anfang an nicht um das Ob, sondern um das Wie. Und das war auch die Haltung im Deutschen Bundestag. Bei einer Debatte im Parlament, wenige Wochen nach der deutschen Einheit, waren sich Vertreter sämtlicher Fraktionen – von der Union bis zur PDS – einig, dass Deutschland die jüdische Zuwanderung ermöglichen soll. Ein seltener Fall fraktionsübergreifender Einmütigkeit!
Vor 30 Jahren beschlossen die Regierungschefs von Bund und Länder einvernehmlich die Aufnahme über das Kontingentflüchtlingsgesetz. Nur dass es für jüdische Kontingentflüchtlinge kein Kontingent gab und sie im engeren Sinne auch keine Flüchtlinge waren. Bund und Länder haben damals eine zügige, pragmatische administrative Lösung für ein spezifisches politisches Problem gefunden. Das ist möglich, auch mit der deutschen Bürokratie und unter den Bedingungen des bundesdeutschen Föderalismus – wenn man es will und wenn man sich einig ist.
Es war eine politisch gewollte, gut begründete Vorzugsbehandlung gegenüber anderen Asylsuchenden und Bürgerkriegsflüchtlingen, die Anfang der 1990er Jahre zu Hunderttausenden in Deutschland Zuflucht suchten.
Nicht absehbar war, wie viele Jüdinnen und Juden tatsächlich nach Deutschland kommen würden. Wer hätte gedacht, dass Deutschland drei Jahrzehnte später die drittgrößte jüdische Gemeinschaft in Europa beheimatet? Dass zwischenzeitlich mehr Juden nach Deutschland auswanderten als nach Israel? Dass es heute eine jüdische Gemeinschaft bei uns gibt, die so vital und vielfältig ist?
Ohne die jüdischen Zuwanderer und ihre Familien gäbe es heute nur noch eine Handvoll jüdischer Gemeinden in diesem Land. Ihr Zuzug war ein Segen. Aber er verlangte den Gemeinden auch einiges ab: Die Mitgliederzahl vervielfachte sich rapide – von knapp 30.000 auf über 100.000. Es braucht schon angesichts dieser Zahlen nicht allzu viel Phantasie, um sich die Größe der Herausforderung vorzustellen. Die Alteingesessenen wurden zur Minderheit, die eine Mehrheit zu integrieren hatte. Menschen, die aus anderen Ländern und Kulturen kamen, die kaum oder nur wenig deutsch sprachen, die ihre eigenen Geschichten mitbrachten und die häufig ihr Jüdischsein anders verstanden. Durch die besonders rigide, jahrzehntelange Unterdrückung der Religionsausübung in der Sowjetunion waren die Bande zum Glauben gekappt. Umso bemerkenswerter ist, dass nicht wenige hier wieder einen Zugang zum Judentum gefunden haben, zu jüdischen Traditionen, zur jüdischen Kultur und auch zur jüdischen Religion.
Andere konnten von den Gemeinden nicht aufgenommen werden, weil sie nach den jüdischen Religionsgesetzen nicht als jüdisch galten – obgleich sie in ihren Herkunftsländern als Juden galten und als solche auch behandelt worden waren. Sie erlebten Kränkungen und Verletzungen, die sicherlich auch die Integration in die deutsche Gesellschaft belastet haben. Das ist auch einer der Gründe, warum die Zuwanderung heute an die Aufnahmebereitschaft einer jüdischen Gemeinde geknüpft ist.
Es gibt viele unterschiedliche, auch individuelle Gründe, ob Integration gelingt oder nicht. Gerade viele der älteren Zuwanderer fanden trotz der intensiven sozialen Unterstützung seitens der Gemeinden nur schwer den Weg in den Arbeitsmarkt. Sie lernten die Sprache nur schlecht, fanden kaum Kontakt zu Deutschen und zogen sich teils resigniert in die russischsprachige Community zurück. Sie blieben fremd – und manche sind es vielleicht bis heute geblieben.
Dabei waren die Zuwanderer überdurchschnittlich gebildet. Lehrer, Ärzte, Wissenschaftler, Ingenieure. Sie hatten ihrer Heimat „nicht aus Liebe zu Deutschland“ den Rücken gekehrt – wie die Schriftstellerin Lena Gorelik über ihre Familie sagt – sondern waren ausgereist in der Erwartung, hier ein neues, ein besseres Leben anzufangen. Sie hatten sich Deutschland als den „goldenen Westen“ ausgemalt – und erlebten hier angekommen sozialen Abstieg, weil ihre beruflichen Qualifikationen nicht anerkannt wurden.
Deutschland hat es den Neuankömmlingen nicht immer einfach gemacht. Sie kamen in ein Land, das damals per definitionem kein Einwanderungsland war – und auch keines sein wollte. Und das mit Arbeitslosigkeit, den Folgen der Wiedervereinigung und einem großen Zustrom von Flüchtlingen zu kämpfen hatte. Fremdenfeindliche, rassistische Ausschreitungen häuften sich.
Zur Wahrheit gehört, dass die Zuwanderung forderte und stellenweise auch überforderte – die Zuwanderer und die deutsche Gesellschaft. Umso erfreulicher ist es, dass die zweite und dritte Generation – jene, die als Kinder und Enkel mit ihren Familien einwanderten – so erfolgreich angekommen ist. Sie sind ein selbstverständlicher Teil dieser Gesellschaft geworden. Einige von ihnen melden sich als Schriftsteller und Journalisten öffentlich zu Wort, auch heute hier bei dieser Veranstaltung. Sie erzählen von ihren „verstreuten Zugehörigkeiten“ und lehnen aus gutem Grund ab, vorrangig als Migranten adressiert und als „brave Vorzeigeausländerin“ für ihr Deutsch gelobt zu werden. Sie stellen Fragen nach Zugehörigkeit, Akzeptanz und Offenheit. Nach Fremdzuschreibungen und Selbstbestimmung. Fragen, die in jeder freien, vielfältigen Gesellschaft verhandelt werden – und die umso schwerer zu klären sind, wenn angesichts einer komplexer werdenden Welt zugleich die Sehnsucht nach Eindeutigkeit steigt. Wenn versucht wird, mit Identität Politik zu machen oder eine Minderheit gar dem Trugbild einer homogenen Gesellschaft nachhängt. In völliger Abkehr der Lehren, die die deutsche Geschichte uns bereithält.
Je vielfältiger unsere Gesellschaft wird, desto virulenter wird die Frage, was uns über alle kulturellen, religiösen, ethnischen Unterschiede hinweg eint. Wie gelingt eine Zugehörigkeit, die Raum für die eigene Identität lässt und doch das Gefühl einschließt, Teil eines Ganzen zu sein? Das ist die Gestaltungsaufgabe, die uns gestellt ist – und sie wird in der globalisierten Welt mit ihrer digitalisierten Öffentlichkeit nicht leichter. Ich glaube nicht, dass der Verfassungspatriotismus dafür ausreicht. Ein guter Anfang wäre er aber. Das sage ich ausdrücklich nicht mit Blick auf die Gruppe der jüdischen Zuwanderer.
Auch die jüdische Gemeinschaft ist in den vergangenen drei Jahrzehnten religiös und kulturell vielfältiger geworden. Durch die jüdischen Zuwanderer aus den postsowjetischen Staaten, aber auch durch viele Israelis, die es nach Deutschland und vor allem in seine Hauptstadt zieht. Es gibt eine lebendige jüdische Zivilgesellschaft, mit Kindergärten, Altenheimen, Schulen, Sportgemeinschaften, Theatern, Vereinen. Jüdisches Leben findet mehr und mehr auch außerhalb der Gemeinden statt. Gerade die jüngere Generation der Juden versteht sich mehrheitlich als liberal und säkular. Über ein Drittel gehört keiner Gemeinde an. Eine Entwicklung, die die jüdischen Gemeinden mit den beiden großen Kirchen gemein haben und die sie erneut vor demografische Herausforderungen stellt.
Jüdisches Selbstverständnis hat sich auch hinsichtlich des Verhältnisses zur Vergangenheit pluralisiert. Für viele der Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion steht das Trauma des Holocaust nicht im Kern ihrer jüdischen Identität. Zumal einige überhaupt erst in Deutschland davon gehört haben. Zu ihren eigenen, vielschichtigen Erinnerungen zählt auch die sowjetischen Wirklichkeit mit ihrem virulenten Antisemitismus und den erlittenen Benachteiligungen – oder eben der Sieg über die Deutschen im Zweiten Weltkrieg. Hundertausende Juden sollen in der Roten Armee kämpften haben. Es ist ein für uns ungewohnter Blickwinkel auf die deutsch-jüdische Geschichte.
Geschichte kommt immer im Plural daher. Geschichten sind voller Facetten und in der Regel nicht frei von Widersprüchen und Ambivalenzen. Sie können unseren Blick weiten – wenn wir uns einlassen, uns gegenseitig zuhören und immer wieder unsere Sicht erklären. Nur so kann Verständnis füreinander entstehen, können sich Akzeptanz und Empathie entwickeln, die Vorurteilen und Stereotypen entgegenwirken.
Vor mehr als 15 Jahren hat Salomon Korn, damals Vizepräsident des Zentralrats der Juden, sein Wunschbild einer deutsch-jüdischen Normalität gezeichnet. Eine Normalität, in der Juden und Nichtjuden sich vorrangig als Individuen, nicht aber als Vertreter von Kollektiven begegneten. In der das Wort Jude ohne Beklommenheit ausgesprochen und ihm nichts Herabsetzendes mehr anhaften würde. In der Juden nicht für die Politik Israels und jüdischer Organisationen haftbar gemacht würden. Und in der Juden wie Nichtjuden die Würde des Unterschiedes gleichermaßen anerkennen.
Jüdisch zu sein wäre dann etwas mehr oder minder Bestimmtes, aber nichts Besonderes mehr. Vor allem wären Juden nicht mehr besonders gefährdet und bräuchten keinen besonderen Schutz. Sie könnten „einfach nur Mensch sein“, wie Marina Weisbands Großvater bei seiner Ausreise nach Deutschland gehofft hatte.
Das Bemühen um diese „neue Normalität“ dürfen Juden wie Nichtjuden, Zugewanderte und Alteingesessene nicht aufgeben.