Rede von Bundestagspräsident Dr. Wolfgang Schäuble zur Eröffnung der Aktion Grenzenlose Menschlichkeit in Offenburg
[Es gilt das gesprochene Wort.]
„Ich bin ein Fremder gewesen, und ihr habt mich aufgenommen“ (Mt 25,35): Der Maßstab der Gerechtigkeit ist für Jesus nicht das Predigen, sondern das Tun. In seiner eschatologischen Rede auf dem Ölberg nennt er konkret, worauf es in zwischenmenschlichen Beziehungen ankommt. Was wirklich zählt. In der Not. Bei Hunger, Durst, Krankheit, bei Einsamkeit, Verlassenheit, Obdachlosigkeit. In der Fremde. Unsere Humanität zeigt sich daran, wie wir mit Menschen umgehen, die auf Hilfe angewiesen sind, ohne dass wir dafür eine Gegenleistung erwarten könnten.
Albert Schweitzer hat es nicht als Verdienst, sondern als Chance begriffen: „Du darfst am Guten in der Welt mitarbeiten.“ Darum geht es auch in der Aktion, die wir heute eröffnen. Sie ist konkret und sie ist radikal: „Man lässt keine Menschen ertrinken. Punkt.“
Und dennoch: Menschen ertrinken bei dem Versuch, in das vermeintliche Paradies nach Europa zu kommen. Die Würde des Menschen ist zwar unantastbar. Angetastet wird sie trotzdem. Tagtäglich. Allein in den ersten Monaten dieses Jahres sind mindestens 620 Menschen während der Flucht über das Mittelmeer gestorben. Die meisten durch Ertrinken.
Nehmen wir das eigentlich wahr? In der Pandemie ist die Migration aus dem Fokus der breiten medialen Öffentlichkeit gerückt – die Erfahrung eigener Verwundbarkeit hat den Blick auf uns selbst gerichtet. So ist der Mensch. Die weltweiten Fluchtbewegungen haben aber nichts an Brisanz verloren. Im Gegenteil. Die jüngsten Zahlen des UN-Flüchtlingswerks zeigen dies auf drastische Weise: Weit über 82 Millionen Menschen – das ist die Bevölkerungszahl Deutschlands! – sind aktuell weltweit auf der Flucht. Vor Kriegen, gewalttätigen Konflikten, Terror, aus Hunger oder wegen Auswirkungen des Klimawandels. Das sind 82 Millionen Namen, Gesichter – Schicksale.
Dabei ist Europa vom weltweiten Migrationsdruck besonders betroffen – vor unseren Türen spielen sich seit Jahren Tragödien ab. Und auch wenn viele die Augen davor verschließen: Es trifft Europa insgesamt. Die unmittelbare Last tragen allerdings nur wenige Staaten. Es ist aus meiner Sicht nicht hinnehmbar, dass Spanien, Italien, Griechenland, Zypern und Malta mit den Menschen allein gelassen werden, die dort die Grenze in die Europäische Union überschreiten. Es geht um unser Selbstverständnis und unsere Glaubwürdigkeit als Wertegemeinschaft, die von jedem einzelnen Ertrunkenen im Mittelmeer herausgefordert wird.
Gleichzeitig müssen wir feststellen: Es geht auch um die Stabilität unserer Gesellschaften. Wenn wir Toleranz und Aufnahmebereitschaft nicht bewahren können, scheitern wir auch. Die Gewährleistung innerer Sicherheit erwarten die Menschen vom freiheitlichen Rechtsstaat und von der Europäischen Union.
„Man lässt keine Menschen ertrinken. Punkt.“ Wer wollte, wer könnte widersprechen? Aber hier, bei der Zusammenschau komplexer Zusammenhänge, in einem schwierigen Abwägungsprozess von Verpflichtungen, Interessen, Befindlichkeiten beginnt Politik. Und hier gilt das, was Helmut Schmidt nach der Ermordung von Hanns-Martin Schleyer beklemmend nüchtern gesagt hat: Wer politisch handelt, wird schuldig.
Die Konsequenz ist eindeutig: Europa muss sich aus ureigenem Interesse mehr engagieren. Vor allem in den Regionen, die uns umgeben – im Nahen und Mittleren Osten und in Afrika. Nur wenn sich die Lebensbedingungen vor Ort bessern, nur wenn die Menschen eine echte Perspektive in ihrer Heimat sehen, werden sie sich nicht weiter auf den lebensgefährlichen Weg nach Europa machen. Mit dem Marshallplan mit Afrika oder der Investitionsinitiative Compact with Africa gibt es Ansätze. Wir müssen diese Anstrengungen deutlich intensivieren. Unseren eigenen Beitrag dazu leisten, Entwicklung überhaupt erst zu ermöglichen. Durch stabilere Verhältnisse. Dass wir uns bei der Frage, wie wir das schaffen können, nicht darum drücken dürfen, auch über die Notwendigkeit militärischer Interventionen zumindest zu diskutieren, ist zwar kein Thema für einen feierlichen Gottesdienst. Es gehört aber zu den Aufgaben, die der britische Entwicklungsökonom Paul Collier, der beileibe kein rechter Falke ist, bereits vor Jahren nachdrücklich angemahnt hat. Eine Frage jedenfalls, die sich auch und gerade uns Deutschen stellt.
Zur Wahrheit gehört: Es gibt keine einfachen Lösungen, und auch keine optimalen. Die Welt ist komplex und die Antworten auf die Herausforderungen in dieser Welt können entsprechend auch nur komplex sein. Klar aber ist – wir müssen als Europäer gemeinsam handeln. Wir brauchen ein gemeinsames europäisches Asylrecht mit einheitlichen Standards und praktikablen Anerkennungsverfahren und dazu die Einsicht, dass sich die Spannungen in der Flüchtlingspolitik nicht allein rechtlich lösen lassen. Gemeinschaftliche Initiativen benötigen wir vor allem beim Schutz der europäischen Außengrenzen und der Menschen beiderseits dieser Grenzen, wenn wir unsere Grundwerte nicht gänzlich aufgeben wollen. Dazu gehört das viel gescholtene EU-Türkei-Abkommen; dazu könnte auch eine „Koalition der Aufnahmewilligen“ zählen, damit nicht jedes Mal neu um die Verteilung von Flüchtlingen gefeilscht werden muss. Und wer aus welchen Gründen auch immer weniger Flüchtlinge als andere aufnehmen mag, der hat an anderer Stelle seinen Beitrag zu leisten. Die europäischen Staaten werden sich über praktikable Anerkennungsverfahren verständigen müssen. Und auch – so unpopulär das scheinen mag – über die Einrichtung von Rettungs- und Asylzentren außerhalb der Europäischen Union.
Es braucht das Eingeständnis, dass wir angesichts der großen Wanderungsbewegungen vor Dilemmata stehen, aus denen es keinen „moralisch sauberen“ Ausweg geben kann. Dass wir auch auf die Zusammenarbeit mit zweifelhaften Kräften und Regimen in Transit- und Herkunftsregionen angewiesen sind, um praktikable Verfahren zu finden. Dass wir unserer humanitären Verantwortung gerecht werden und zugleich die Kontrolle aufrechterhalten müssen. Und eben auch, dass die Rettung von Menschen aus Seenot, zu der wir als Christen, als Menschen verpflichtet sind, und ihr Transport in europäische Häfen zugleich einem zynischen Schlepperwesen in die Hände spielt. Auch das gehört zur Wahrheit, in der im konkreten Handeln aus einem Punkt ein Fragezeichen wird – und ein Ausrufezeichen hinter dem politischen Auftrag, nach tragfähigen Lösungen für dieses Dilemma zu suchen. Danach, wie wir menschenwürdig und wirksam die Anreize unterbinden, den lebensgefährlichen Weg über das Mittelmeer zu suchen.
Was ethisch geboten erscheint, kann in der Praxis schlicht nicht umsetzbar sein. Werte, Interessen und Möglichkeiten sind nicht immer in Deckung zu bringen. Wir werden mit der Welt konfrontiert, wie sie ist – erlösungsbedürftig, wie wir Christen glauben. Man kann das als eine Zumutung begreifen. Resignieren dürfen wir trotzdem nicht. Als politisch Verantwortliche nicht – und als Christen ohnehin nicht. Was wir brauchen, ist eine „Balance aus Nüchternheit und Nächstenliebe“, wie der Kulturbeauftragte der EKD, Johann Hinrich Claussen, in seinem Werk über die Bibel als „Buch der Flucht“ postuliert. Für die Politik bedeutet es, harte Bretter bohren und das Machbare im Blick behalten. Was aber nicht heißt, unsere Werte zur Disposition zu stellen.
Aktionen wie die „Grenzenlose Menschlichkeit“ sind in ihrer Klarheit und Eindeutigkeit eine Herausforderung für die Politik. „Ein Stachel im Fleisch“ für die ganze Gesellschaft. Wir brauchen dieses Engagement – als Zeichen der Solidarität, als Mahnung, nicht beim Klein-Klein unserer Wohlstandsprobleme stehenzubleiben. Als Hinweis auf die globalen Zusammenhänge zwischen unserer Art zu leben und Armut, Ausbeutung und Elend in anderen Teilen der Welt. Als Appell an alle, Verantwortung zu übernehmen – jeder und jede in seinem Umfeld, nach seinen Möglichkeiten. Aus Ehrfurcht vor dem Leben – wie sie Albert und Helene Schweitzer konkret umgesetzt hatten.
Hermann Gmeiner, Gründer der SOS-Kinderdörfer, hat einmal gesagt: „Alle Wunder dieser Welt entstehen dadurch, dass einer mehr tut, als er tun muss.“ Das trifft auf die Aktion, die wir heute in Offenburg starten, zu. Ich danke deshalb allen Beteiligten für ihren Einsatz für eine grenzenlose Menschlichkeit!