Rede von Bundestagspräsident Dr. Wolfgang Schäuble anlässlich der Restaurierung der Kapelle der Begegnung/Chapelle de la Rencontre in Straßburg
[Es gilt das gesprochene Wort.]
„O Straßburg, o Straßburg / du wunderschöne Stadt,
darinnen liegt begraben so mannicher Soldat.“
So beginnt ein bekanntes Volkslied. Es wurde bereits im 18. Jahrhundert gesungen und erzählt vom Schicksal eines jungen Mannes, dessen Eltern ihn vor dem sicheren Tod im Krieg bewahren wollen.
Diese Zeiten sind gottlob vorbei. Frieden und ein grenzenloses Europa scheinen oft selbstverständlich. In meiner Jugend waren die furchtbaren Kriegserfahrungen aber noch lebendig. Als Schüler habe ich gar nicht so weit von hier auf einem deutsch-französischen Soldatenfriedhof gearbeitet. In den Südvogesen. Es waren Gräber von Gefallenen aus dem Ersten Weltkrieg – der „Ur-Katastrophe“ des 20. Jahrhunderts. Diese Jugenderfahrung war für mich sehr bewegend. Deswegen kann ich die Mahnung von Jean-Claude Juncker gut nachvollziehen: „Wer an Europa zweifelt, wer an Europa verzweifelt, der sollte Soldatenfriedhöfe besuchen!“
Von Straßburg aus lässt sich in der Rückschau besonders gut ermessen, was der Wert der europäischen Einigung ist: Über Jahrhunderte war die Region zwischen unseren beiden Ländern umkämpft. Die Elsässer haben mehrfach Besatzung und Krieg erlebt, standen mal auf deutscher, mal auf französischer Seite. Das macht ihre elsässische Identität aus. Straßburg war einst das Symbol der deutsch-französischen Erbfeindschaft. Heute steht es als die wahre „Hauptstadt Europas“ für die Versöhnung zwischen unseren Völkern. Es ist kein Zufall, dass das geeinte Europa hier nach dem Krieg seine erste Heimstatt fand – mit dem Europarat. Und ebenso wenig zufällig hat das Europäische Parlament hier seinen Sitz – auch wenn das immer wieder mal in Frage gestellt wird. Das Elsass ist – wie Brigitte Klinkert es bezeichnet hat – „Frankreichs Laboratorium für Europa“. Davon profitieren wir alle.
An den Grenzen waren die gewaltsamen Verwerfungen der europäischen Geschichte besonders leidvoll zu spüren. Vermutlich stammen deshalb viele „Europäer der ersten Stunde“ selbst aus Grenzregionen: Robert Schuman, Konrad Adenauer, Paul-Henri Spaak, Alcide De Gasperi. Und auch Pierre Pflimlin, der fast ein Vierteljahrhundert lang Bürgermeister von Straßburg war und später Präsident des Europäischen Parlaments.
„Ich bin Europäer, weil ich Elsässer bin“, pflegte Pierre Pflimlin zu sagen. Der Freund und Weggefährte Robert Schumans wurde zwar nicht im Elsass geboren, wuchs aber in Mühlhausen auf, wo sein Vater eine Textilfabrik betrieb. Pflimlin hat sein politisches Wirken der Aussöhnung zwischen Deutschen und Franzosen und dem Aufbau des gemeinsamen Europas gewidmet. Mir war er ein väterlicher Freund, mit dem mich politisch vieles verband und dem ich auch persönlich viel zu verdanken habe.
„Ich neige dazu, an Wunder zu glauben“, sagte Pflimlin in der eindrucksvollen Rede, die er an seinem 90. Geburtstag hielt; nicht weit von hier, im Palais de l’Europe. Und er sagte dies nicht mit Blick auf seinen katholischen Glauben.
Er meinte politische Wunder. Wie die Bewegung für die Einheit Europas – nur wenige Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Er selbst habe zuerst gedacht, es würden vermutlich „Generationen vergehen müssen, bevor wir von Versöhnung oder gar Freundschaft sprechen können“.
Dieses Wunder der Begegnung und Annäherung zwischen Menschen, die noch vor wenigen Jahren gegeneinander gekämpft hatten – oder kämpfen mussten – konnte nur geschehen, weil es weitsichtige und weitherzige Menschen gab. Wie Pierre Pflimlin.
Menschen, die ihren christlichen Glauben ernst nahmen und danach handelten. Die Europa nicht nur als Wirtschaftsgemeinschaft verstanden haben, sondern vor allem als Wertegemeinschaft – als christliche Wertegemeinschaft. Dies darf nicht vergessen werden und unzweifelhaft gehört es zu den Aufgaben der Kirchen, auf die gemeinsamen jüdisch-christlichen Wurzeln des europäischen Erbes hinzuweisen.
Auch diese „Kapelle der Begegnung“, die nach Jahrzehnten endlich restauriert wird, wurde als ein Projekt der Versöhnung erbaut.
Bereits 1948!
Was uns heute selbstverständlich vorkommt, war damals bahnbrechend. Aus dem kollektiven Bewusstsein schwindet die Tatsache, dass die Versöhnung auf den Trümmern des Krieges ohne die verbindende Kraft des Glaubens, ohne die friedenstiftende Arbeit der Kirchen nicht möglich gewesen wäre. Nicht nur in unserer gemeinsamen Heimat am Oberrhein. Ich denke an den mutigen Brief der polnischen Bischöfe, die bereits 1965 den Deutschen die Hand zur Versöhnung ausstreckten.
Der Glaube macht an Grenzen nicht halt. Das Christentum ohnehin nicht – begründet es doch die universelle Würde eines jeden Menschen, der von Gott nach seinem Bilde geschaffen wurde. Es gibt – wie Paulus an die Galater schreibt – „nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht Mann und Frau“. Vor Gott sind alle Menschen gleich – oder in Luthers Übersetzung: „Es ist kein Ansehen der Person vor Gott.“
Das muss auch unser Anspruch sein. Die Wirklichkeit ist natürlich komplexer. Wir alle wissen, dass der Friede zwischen Menschen wie zwischen Staaten und Völkern eine dauernde Aufgabe ist. Und eine Herausforderung. Nichts ist so sicher, dass es nicht gefährdet werden könnte. Auch nicht im friedensverwöhnten Europa. Die ursprüngliche Begründung der europäischen Integration als Friedensdividende ist ja nicht obsolet geworden. Das zeigte der Bosnienkrieg, das beweist der Krieg im Osten der Ukraine.
Umso mehr können wir das schätzen, was wir am Oberrhein erreicht haben. Hier ist die immer währende Erfahrung Europas als politischer und kultureller Raum, als Schicksalsgemeinschaft auf dem Weg zur politischen Einheit und Einigkeit in „versöhnter Vielfalt“ spürbar. Auch dieser Begriff aus der Geschichte des ökumenischen Ringens beinhaltet wertvollen Denkstoff für das politische Handeln in Europa und darüber hinaus in der globalisierten, vernetzten Welt.
Wir sind Nachbarn in einer Region, die Menschen diesseits und jenseits des Rheins verbindet. Wer hier lebt und arbeitet, erlebt das zusammenwachsende Europa fast beiläufig – trotz mancher Ärgerlichkeiten und Hindernisse im Dickicht der unterschiedlichen Rechtssysteme, Gewohnheiten und Herangehensweisen bei der Lösung von Problemen. Wie sehr wir inzwischen aufeinander angewiesen sind, wie eng unsere alltäglichen wirtschaftlichen, kulturellen, sozialen Beziehungen geworden sind, haben wir in der Pandemie erfahren. Die Schließung der Grenze im vergangenen Jahr war wie ein Schock für die Menschen beiderseits der kaum noch sichtbaren Grenze. Und ein Fehler, der sich nicht wiederholen darf. Vielleicht war er immerhin heilsam.
Ohne die deutsch-französische Versöhnung wäre die Einigung Europas nicht möglich gewesen. Und auch heute ist Europa auf den deutsch-französischen Motor angewiesen, auf die deutsch-französische Führung. Deswegen freut es mich besonders, dass es uns gelungen ist, eine gemeinsame binationale parlamentarische Versammlung zu schaffen, die einzigartig ist – in den internationalen Beziehungen und erst recht in der historischen Rückschau. Gerade in der Pandemie hat die parlamentarische Zusammenarbeit unserer Länder ihren Wert bewiesen. Sie kann sich auch konkrete praktische Erfolge zuschreiben. Das gilt auch für die Grenzregionen, auf die es beim Zusammenwachsen des vereinten Europas besonders ankommt. Sie bilden Brücken zwischen Menschen und Völkern. Im Alltag, beim Feiern, im gemeinschaftlichen Gottesdienst.
Daher freue ich mich außerordentlich, dass diese Kapelle bald im neuen Glanz erstrahlen wird – als Ort der Begegnung von Menschen verschiedener Nationen und Religionen. In bereichernder Vielfalt. Im wunderschönen Straßburg.