Namensbeitrag von Bundestagspräsident Dr. Wolfgang Schäuble anlässlich des 70. Geburtstags von Herfried Münkler
erschienen am 14. August 2021 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
Ob Herfried Münkler bei der Fußball-EM und den Olympischen Spielen nicht nur mitgefiebert, sondern auch wieder gelitten hat? Wenn die Sportler nach dem Wettkampf die offenbar unvermeidliche Reporter-Frage beantworten sollten: „Und wie fühlen sie sich jetzt?“ Der Wissenschaftler hat daraus vor einiger Zeit ein gesellschaftliches Phänomen abgeleitet: Heute zähle viel weniger, was ist, als bloße Gefühligkeit. Wen wundert‘s, dass dieser Zeitgeist dem kühlen Analytiker ordentlich auf den Nerv geht. Was am Spielfeldrand vielleicht noch zu ertragen ist, wird im politischen Raum zum Problem. Dagegen schreibt Herfried Münkler an – auch, um unser strategisches Denken außerhalb von Dreier- oder Viererkette zu schulen.
Mit ihm gibt es keine „routinierte Langeweile“, das schätze ich an seinen Büchern und das spürt man im Gespräch. Münkler macht auf unkonventionelle Art komplexe Zusammenhänge anschaulich, wo es die Wissenschaftsprosa gerne umgekehrt hält. Ein Beitrag über internationale Beziehungen wird bei ihm leichthändig zum Ausflug in die „politische Zoologie“: Europa, heißt es dann, solle weniger Hasenfüßigkeit und mehr „füchsische Schläue“ zeigen, um sich gegenüber dem „löwenhaften Auftreten“ der USA zu behaupten.
In unserer immer komplexeren, immens beschleunigten Welt wächst die Verunsicherung, das Bedürfnis nach haltgebenden Erklärungen. Münkler leuchtet Ungewissheiten aus, um sie beherrschbar zu machen, er durchdringt die Probleme, bevor er alternative Handlungsoptionen aufzeigt. Seine Auseinandersetzung mit dem Dreißigjährigen Krieg verstand er als „Übung zur Desillusionierung“ eingespielter Überzeugungen. Er zeigt in seinem monumentalen Buch, dass die Fixierung auf das Recht gerade nicht half, Konflikte zu bewältigen und strategische Kompromisse zu finden. Und wie die unbedingte Wertbindung einen Friedensschluss erschwert hat.
Dass dieser abgeklärte Blick gerade auf dem aus nachvollziehbaren Gründen hierzulande moralisch aufgeladenen Feld der Außen- und Sicherheitspolitik nicht ohne Widerspruch bleibt, überrascht nicht. Mancher fühlt sich provoziert. Das erfuhr der umtriebige Hochschullehrer, als ein Teil seiner Studenten anonym und mit moralinsaurem Furor jedes Wort seiner Vorlesungen sezierte. Ihn ärgerte das – aber er ließ sich nicht beirren.
Auch vereinnahmen lässt sich Münkler nicht, er ist politisch unabhängig – so wie er als Wissenschaftler eine Eigenständigkeit im Denken kultiviert. Die Politik profitiert davon. Ungezählt die Reden, die ihn zitieren, weil er neue Begriffe prägt – oder verschüttet geglaubte ausgräbt, wie das „Imperium“, das ihm zur zentralen Analysekategorie der neuen Weltordnung wurde. Der Rede von der asymmetrischen Kriegsführung gab er nach dem 11. September ein zeitgemäßes Profil und damit der politischen Debatte über den Terror eine neue Wendung.
Trotz imponierender thematischer Bandbreite seiner Studien: Der Krieg zieht sich wie ein roter Faden hindurch. Mich fasziniert besonders, wie Münkler dabei aktuelle Fragen mit geschichtlichen Konstellationen zusammenbringt. Dadurch gewinnt er seinem historischen Untersuchungsgegenstand bislang Unerkanntes ab und er verhilft uns Lesern gleichzeitig zu neuen Einsichten in die gegenwärtigen Verhältnisse.
Das gilt nicht zuletzt für seine facettenreiche Analyse politischer Mythen. Das Buch ist mir auch deshalb in Erinnerung geblieben, weil wenige Jahre danach der Brite Neil McGregor mit den Mitteln des Ausstellungsmachers die in mythische Erzählungen verdichtete deutsche Geschichte geradezu kongenial präsentierte. Münklers Fokussierung auf den Mythos machte die Arbeiten zur Erinnerungskultur politisch anschlussfähig. Vielleicht war sein Buch deshalb so erfolgreich, weil er damit die Frage nach der großen Erzählung des wiedervereinigten Landes aufwarf? Erdrückt von der Übermacht historischer Erinnerungen und der Größe neuer Herausforderungen in der globalisierten Welt verlangt es auch heute nach einem leitenden Narrativ.
So selbstverständlich Münkler in Großräumen denkt, in denen sich zwangsläufig nicht mehr allein die Nationen, sondern Europa bewähren muss: Den Nationalstaat hält er dennoch nicht für überholt. Im Band „Die neuen Deutschen“ stellte er zusammen mit seiner Frau, der Literaturwissenschaftlerin Marina Münkler, ein modernes Verständnis der Nation zur Diskussion. Unter den Bedingungen der Globalisierung und der großen Migrationsbewegungen sei die Nation nicht mehr ethnisch ausgrenzend zu begründen. Aber beide beharren darauf, dass sie bis heute den geeigneten politischen Rahmen setze, um Solidarität und Gemeinsinn in einer vielfältigen Gesellschaft zu mobilisieren.
Münkler findet Gehör, er ist vielgefragter Ratgeber, längst nicht nur, aber gerade in der Politik. Kurz bevor die Pandemie das spannungsreiche Verhältnis von Wissenschaft und Politik grell ausleuchtete, widmete sich Münkler in einem anregenden Text der Politikberatung. Der Typus des Wissenschaftlers „mit uneingeschränktem Anspruch auf überlegenes Wissen“ und der Erwartung, dass seinen Einsichten und Vorschlägen von der Politik unbedingt zu folgen sei, kommt dabei nicht allzu gut weg. Auch noch so relevante wissenschaftliche Ratschläge könnten eben, so Münkler, mit dem demokratischen Mehrheitswillen konkurrieren. Statt der Verwissenschaftlichung der Politik ist für ihn deshalb der „Umweg über die Gesellschaftsberatung“ der Pfad, der am besten der Demokratie entspricht.
Münkler nimmt nicht nur die Wissenschaft in die Pflicht, sondern fordert uns alle – indem er sich für die deliberative Demokratie stark macht. In dem er auf den öffentlichen Prozess des Nachdenkens und Abwägens pocht. Indem er den Bürgern zumutet, sich zu informieren, zu lernen und die eigene Urteilskraft zu entwickeln – auch aus Sorge, dass die Demokratie sonst von ihren Wurzeln her austrocknen könne. Der Wissenschaftler argumentiert als verantwortungsbewusster Citoyen, der die besonderen Herausforderungen der Deutschen in ihrer geografischen Mittellage im Blick hat – noch so ein Begriff, den der Wissenschaftler im öffentlichen Diskurs wieder fruchtbar gemacht hat. Denn sie, so Münkler, erfordere eine „kluge Bürgerschaft“. Es zeichnet ihn aus, dass er selbst dazu seit Jahren einen Beitrag leistet.
So emotionsgeladen seine Themen sind: Alarmismus ist ihm fremd. Was Herfried Münkler mit seiner Frau vor einigen Jahren über die Bildungspolitik schrieb, klingt wie ein Kommentar zum aktuellen Wahlkampf: „Fast scheint es, man wolle sich aufregen, damit man nichts zu ändern braucht.“ Münkler setzt dagegen als public intellectual auf nüchterne Analyse und strategische Weitsicht. Selbst in Zeiten der Pandemie antwortete er auf die Frage nach seiner Geistesverfassung, sie sei von „gelassener Heiterkeit“. Die wünsche ich ihm auch, wenn er morgen seinen 70. Geburtstag feiert – hoffentlich im kleinen Kreis lieber Menschen und nicht nur umgeben von Marx, Wagner und Nietzsche. Ihnen widmet er sein neuestes, passend zum Geburtstag heute erscheinendes Werk. Ein Geschenk des Jubilars an seine Leser.