26.08.2021 | Parlament

Rede von Bundestagspräsident Dr. Wolfgang Schäuble anlässlich der Gedenkveranstaltung zum 100. Jahrestag der Ermordung von Reichsfinanzminister a.D. Matthias Erzberger

[Es gilt das gesprochene Wort.]

(O-Ton Tochter steht voran)
[Anrede]

Die Nachricht von der Ermordung Matthias Erzbergers war ein Schock: für seine Familie – wir haben es eben gehört –, für seine politischen Freunde, nicht zuletzt für die junge Weimarer Republik. Es war nicht der erste politische Mord in den turbulenten Anfangsjahren, aber es traf erstmals einen herausragenden Repräsentanten der Republik. Die Angst vor einem neuen Ausbruch zügelloser Gewalt ging um, vor bürgerkriegsähnlichen Zuständen in einer zutiefst gespaltenen, polarisierten Gesellschaft im Umbruch. Überraschend kam der Anschlag auf Erzberger nicht. Es hatte zuvor unzählige Bedrohungen und eine Reihe von Attentaten gegen den als „Novemberverbrecher“ und „Vaterlandsverräter“ Verfemten gegeben. Matthias Erzberger war, so heißt es oft, der „meist gehasste Politiker“ seiner Zeit. 

Aber es gab auch die andere Seite: Am Tag von Erzbergers Beisetzung kam es im ganzen Land zu Demonstrationen und Unterstützungskundgebungen. 40.000 Bürger strömten in Hamburg zusammen, 100.000 in Hannover, 500.000 in Berlin. In vielen weiteren Städten gingen die Menschen „Für die Republik!“ und „Für Freiheit und Recht“ auf die Straße. Die liberale Vossische Zeitung sprach „Vom Aufmarsch der Millionen“ und „einer noch nie dagewesenen Beteiligung“. Ein starkes Zeichen der Weimarer Demokraten! 

Wir neigen dazu, die Weimarer Republik wegen ihres tragischen Scheiterns nur als Verfallsgeschichte zu lesen. Das ist angesichts dessen, was folgte, verständlich. Der Mord an Matthias Erzberger heute vor 100 Jahren erscheint in diesem Licht als ein frühes, gewaltsames Menetekel für den Pfad, den ein Jahrzehnt später die erste deutsche Demokratie einschlagen sollte. Aber ihr Scheitern war nicht zwangsläufig. Wenn wir uns ein differenziertes Bild von der deutschen Demokratiegeschichte machen wollen, wenn wir die großen Linien erkennen wollen, die aus diesen Zeiten bis zu uns hinüberreichen, sollten wir gelegentlich die Perspektive wechseln und fragen: Wie gelang unter den denkbar widrigsten Bedingungen – trotz der gigantischen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Hypothek von Krieg und Niederlage – der Übergang zu einer Demokratie, die sich über ein Jahrzehnt gegen alle ihre Gegner behauptet hat? Wer dieser Frage nachgeht, kommt um den Zentrumsabgeordneten, Verständigungspolitiker und Reichsfinanzminister Matthias Erzberger nicht herum. 

Bei seiner Beisetzung hier in Biberach sagte Paul Löbe, der sozialdemokratische Reichstagspräsident: „Wir gehen von diesem Grabe in der Überzeugung, dass die Geschichte ihm das geben wird, was vieler seiner Zeitgenossen ihm nicht gegeben haben.“ Die bittere Wahrheit lautet: Diese Erwartung blieb lange uneingelöst. Von den Nazis verachtet und aus dem kollektiven Gedächtnis getilgt, blieb Erzberger auch in der Bundesrepublik ein „Stiefkind der Erinnerungskultur“. Ein Historiker hat einmal nachgezählt: Es gibt heute in Deutschland 235 Straßen, Wege und Plätze, die nach Rosa Luxemburg benannt sind. Den Namen Erzbergers tragen 105 – davon übrigens noch immer keine einzige in Berlin, dem zentralen Ort seines politischen Wirkens. Der Bundestag wirkt dieser Erinnerungslücke inzwischen dadurch entgegen, dass eines seiner prominenten Gebäude nach ihm benannt ist. Wer heute Unter den Linden entlangflaniert, stößt dort auf eine Büste mit dem Charakterkopf Erzbergers.
Trotzdem braucht es auch weiterhin das Engagement der vielen Bürgerinnen und Bürgern hier in Matthias Erzbergers Heimat, von Bürgermeistern, Landräten, Initiativen und Gedenkstätten, die die Erinnerung an ihn wachhalten. Unser Bundespräsident hat in der vergangenen Woche diesen Einsatz zum Gedenken an den „Wegbereiter der Demokratie“ als Pionierleistung gewürdigt – und es ist zu wünschen, dass sein Appell, neben den Orten „auch den Protagonisten unserer Demokratiegeschichte mehr Aufmerksamkeit, mehr Herzblut und auch mehr finanzielle Mittel“ zukommen zu lassen, nicht verhallt.

Man hat Matthias Erzberger als einen Märtyrer bezeichnet, als „Opfergänger der Demokratie“. Das klingt merkwürdig überhöht; unsere Gesellschaft tut sich schwer mit Opfertum und Heldenmut. Tatsächlich taugt Matthias Erzberger nicht zum strahlenden Helden. Er hat – wie jeder noch so ehrbare Politiker vor und nach ihm – Fehler gemacht. Er vertrat Ansichten, die nicht ins Heute passen – die aber dennoch nur denjenigen dazu verleiten kann, vom hohen moralischen Ross herab den Stab zu brechen, der geschichtslos denkt und Menschen außerhalb ihrer Zeit beurteilt. 
Erzberger war nicht frei von menschlichen Schwächen. Viele, die den umtriebigen Abgeordneten und Minister erlebt haben, beschreiben ihn als wenig sympathisch. Ein Eindruck, der möglicherweise besonders in den tonangebenden Kreisen der preußischen Hauptstadt verbreitet war und dem sozialen Aufsteiger aus Süddeutschland galt: ein katholischer Kleinbürger mit schwäbischen Akzent, ohne akademischen Grad und bar jeder weltläufigen Eleganz, der sich noch dazu ziemlich viel herausnahm.

Aber fest steht: Matthias Erzberger zählt zu den herausragenden Persönlichkeiten der deutschen Demokratiegeschichte und zu den großen Staatsmännern der jungen Weimarer Republik. Er hat den Übergang vom Kaiserreich zur Republik, vom Krieg zum Frieden entscheidend geprägt. Er zahlte mit seinem Ruf und schließlich mit seinem Leben für seinen Einsatz aus Überzeugung. Dafür, dass er am 11. November 1918 mit seiner Unterschrift unter den Waffenstillstand von Compiègne im entscheidenden historischen Moment die Verantwortung übernahm – als niemand anderes dafür bereit stand. Dafür, dass er vehement für die Unterzeichnung des Versailler Vertrages plädierte, dessen Annahme ihm – wie man heute sagen würde – alternativlos erschien. Oder korrekter: als die weniger schlechte Alternative verglichen mit der Wiederaufnahme der Kriegshandlungen, dem drohenden Einmarsch der Alliierten und der möglichen Aufteilung des Reichs. Matthias Erzberger hat entscheidend dazu beigetragen, dass die Nationalversammlung nach heftigen, erbitterten Debatten ihr Plazet gab. Im Kabinett war er zunächst der einzige gewesen, der sich für die Annahme ausgesprochen hatte – obwohl auch er die Bedingungen des Vertrages für ungeheuerlich und unerfüllbar hielt. Aber anders als andere akzeptierte Erzberger die Niederlage als Niederlage – und er sah den beschränkten Handlungsspielraum der deutschen Politik. Erst so hatte die junge Republik überhaupt eine Chance. Man kann das durchaus heldenhaft nennen. Nur werden Politiker erfahrungsgemäß selten dafür gefeiert, dass sie den Mut haben, zwischen Pest und Cholera eine Wahl zu treffen. Zumal sich oft erst im Rückblick sicher sagen lässt, was die bessere Entscheidung gewesen wäre. Politische Entscheidungen sind fast immer ein Spiel mit Unbekannten – besonders dann, wenn die Situation ohne Beispiel und gesichertes Wissen rar ist. Heute wissen wir, dass Matthias Erzberger richtig lag.

Der Verständigungspolitiker Erzberger war keinesfalls von Anfang an ein überzeugter Pazifist. Im Gegenteil, wie so viele Deutsche hatte er den Krieg euphorisch begrüßt und sogar selbst ausführliche Pläne für die zu erobernden Gebiete ausgearbeitet. Aber er besaß einen klaren Sinn für die Wirklichkeit, der sich von Wunschdenken und Trugbildern nicht täuschen ließ. Nachdem er Einblick in die tatsächliche politische und militärische Lage zwei Jahre nach Kriegsbeginn gewonnen hatte, wurde ihm klar, dass der Krieg nicht zu gewinnen war. Mit dieser Einsicht hielt er nicht hinterm Berg. Nicht im Parlament, wo er den Kollegen im Juli 1917 in einer aufsehenerregende Rede die Augen öffnete und die Friedensresolution des Reichstags initiierte. Nicht in der Öffentlichkeit, wo er unermüdlich für einen Verständigungsfrieden unter Verzicht auf Gebietseroberungen warb. Für Erzberger war es kaum vorstellbar, dass man sich in Kenntnis der Tatsachen dieser Einsicht verschließen konnte. Vernünftige Zweifel an dem, was er für richtig und schlüssig erkannt hatte, konnte es nicht geben. Auch deshalb hat er die Widerstände und Angriffe wohl unterschätzt, die ihm entgegenschlugen. Schon damals begann in Teilen von Presse und Öffentlichkeit die Hetze. Die konservative preußische Kreuzzeitung nannte ihn einen „Hochverräter“, die nationalistische Deutsche Zeitung rief nach „Richter Lynch“.

Das preußische Kriegsministerium und das Reichsmarineamt bezichtigten ihn des Landesverrats wegen einer öffentlichen Rede, die er am 16. September 1917 vor seinen Wählern in Biberach gehalten hatte. Erzberger hatte darin die Situation nach drei Jahren Krieg bilanziert und gegen seine Kritiker für die schnelle Aufnahme von Friedensverhandlungen argumentiert. Das Reichsjustizministerium konnte die Klage gerade noch verhindern. 

„Politik macht man nicht mit dem Herzen. Politik macht man mit dem Verstand“, sagte Matthias Erzberger damals nicht weit von hier im Kronensaal. Das bedeutete für ihn auch, Politik wenn nötig zu revidieren und veränderten Gegebenheiten anzupassen. Nur wenige waren dazu allerdings so umstandslos, so konsequent in der Lage wie er. „Das sind die wahren Weisen, die vom Irrtum zur Wahrheit reisen, und das sind die Narren, die im Irrtum verharren,“ konterte er Kritik an seinem Gesinnungswandel. 
In seinen grundlegenden Maximen war Matthias Erzberger dagegen alles andere als beliebig: Er ließ sich von seinem Patriotismus leiten, von seinem Glauben und seinem Wunsch nach sozialer Gerechtigkeit.
Gleichwohl ist ihm sein Haltungswechsel oft als Opportunimus angekreidet worden. „Ein wilder Weltannexionist […], dann, als es schief ging, Pazifist“, dichtete etwa Kurt Tucholsky in einem Spottgedicht über den „guten Mond aus Buttenhausen“, wenige Tage nach der Unterzeichnung des Versailler Vertrages. Tucholsky änderte später seine Meinung über Erzberger, wie wir noch hören werden. Auch er erwies sich als lernfähig. 

Von Politikern wird heute zu Recht erwartet, veränderten Realitäten ins Auge zu sehen, aus Fehlern zu lernen und gegebenenfalls die eigene Haltung zu korrigieren. Weil das an der Wahlurne bekanntlich nicht immer honoriert wird, ist die offene Kurskorrektur nach wie vor nicht sehr verbreitet. Damals war jemand wie Matthias Erzberger eine Ausnahmeerscheinung in der Politik. Er war in der Lage, sich schnell auf neue Situationen einzustellen. Er verbiss sich nicht in Konflikte von gestern, sondern richtete seine Energie aufs Hier und Jetzt und seinen Blick nach vorn. Erzberger war – vor allem anderen – ein Pragmatiker und Realpolitiker. Oder mit den Worten seines Zeitgenossen, des Soziologen Max Weber, gesprochen: ein Verantwortungsethiker, dem es nicht um die reine Gesinnung ging, sondern um die konkreten Folgen politischen Handelns bzw. Unterlassens. Vermutlich hängt damit seine ausgeprägte Bereitschaft zusammen, in außergewöhnlichen, schwierigen Situationen Verantwortung zu übernehmen. Und ein bisschen wohl auch mit Eitelkeit und einem Selbstvertrauen, das beinahe so groß gewesen sein muss wie sein Vertrauen in Gott.

Die Friedensresolution des Reichstages vom 19. Juli 1917 scheiterte bekanntlich in der Sache. Sie hatte trotzdem nachhaltige Folgen: Die Abgeordneten forderten Mitsprache ein, wo sie damals nichts zu sagen hatten: in der Außenpolitik und bei der Regierungsbildung. Angestoßen und angetrieben von Matthias Erzberger formulierte eine Parlamentsmehrheit erstmals eine Alternative zur Regierungspolitik. Der Reichstag ermächtigte sich selbst. Und das wirkte nach.

Zentrum, Sozialdemokraten und Linksliberale fanden über die Arbeit an der Friedensresolution zu einer informellen Koalition zusammen, die zwar nach der geltenden Verfassung nicht viel ausrichten konnte. Aber sie bildete die Basis für die parlamentarische Zusammenarbeit über das Ende der Monarchie und die Wirren der Revolution hinaus bis in die Anfangsjahre der Republik. Für die Parteien waren das wichtige, prägende Lehrmonate in Sachen parlamentarischer Demokratie. Weil sie für die Regierung bis dato nicht verantwortlich gewesen waren, waren sie untereinander auch nicht auf Zusammenarbeit und Kompromiss angewiesen. Der zeitgenössische Historiker und spätere Reichstagsabgeordnete Arthur Rosenberg hat mit Blick auf die Formierung der „Weimarer Koalition“ von einer „revolutionären Tat“ gesprochen.  
Sie ist nicht das alleinige Verdienst Matthias Erzbergers. Aber ohne ihn wäre diese Koalition kaum zustande gekommen und hätte wohl auch nicht gehalten. Erzberger baute Brücken zwischen den politischen Lagern und leistete enorm viel Überzeugungsarbeit – gerade gegenüber seiner eigenen Partei. Ein großer Teil des Zentrums scheute die Sozialdemokraten wie der sprichwörtliche Teufel das Weihwasser. Viele haderten noch mit dem Ende der Monarchie. Vor allem aber galt jeder politische Kompromiss als Verrat an der eigenen Gesinnung – und nicht als Möglichkeit, Politik zu gestalten. Diese Haltung war im Zentrum so verbreitet wie in weiten Teilen der Gesellschaft.

Der Politikwissenschaftler Ernst Fraenkel hat den Deutschen noch in den 1960er Jahren ins Stammbuch geschrieben: „Solange in der deutschen Umgangssprache bei der Verwendung des Substantivs ‚Kompromiss‘ sich automatisch die Assoziation mit dem Adjektiv ‚faul‘ einstellt, ist etwas faul im Staate Bundesrepublik.“ 
Kompromisse sind die Grundbedingung des Erfolgs unserer parlamentarischen Demokratie! Sie hängt an der Fähigkeit und Bereitschaft der politischen Parteien zu Ausgleich und Zusammenarbeit über Differenzen hinweg. Wähler und Gewählte sollten das mit Blick auf die Regierungsbildung nach der Wahl im Auge behalten.

Matthias Erzbergers Wirken reicht noch auf einem anderen Gebiet bis in unsere heutige Zeit: Sein Name steht für eine grundlegende Neuordnung des deutschen Steuer- und Finanzsystems. Sie hat die deutsche Finanzverfassung nachhaltig geprägt. Im Juni 1919 übernahm Erzberger das Amt als Reichsfinanzminister, im März 1920 passierte das letzte von insgesamt 16 Reformgesetzen die Nationalversammlung – nur neun Monate später! Das Reich löste sich aus der finanziellen Abhängigkeit der Länder und verfügte nun praktisch vollständig über die Finanzhoheit. Die Länder erhielten zum Ausgleich einen Anteil am Steueraufkommen des Reichs. Das Verhältnis zwischen Reich und Ländern hatte sich umgekehrt. Erzberger vereinheitliche, zentralisierte und modernisierte das Steuersystem. Er führte eine reichseigene Steuerverwaltung ein, die auf Basis der Reichsabgabenordnung Steuern erhoben. Im Zentrum stand die neue, einheitliche Einkommensteuer, wie wir sie noch heute in ihren Grundprinzipien kennen: ein progressiv gestaffelter Steuertarif, ein steuerfreies Existenzminimum und die Berücksichtigung außergewöhnlicher Belastungen. 

Matthias Erzberger ging es bei seiner Finanzreform nicht nur darum, den drohenden Staatsbankrott zu verhindern und das Reich finanziell auf die Füße zu stellen. Es ging ihm auch um Gerechtigkeit. Starke Schultern sollten mehr tragen als schwache. Jeder sollte nach seiner Leistungsfähigkeit beitragen. Das entsprach seinem Selbstverständnis als Anwalt der kleinen Leute und seiner Überzeugung, dass die Zukunft der noch jungen Demokratie davon abhing, das „verletzte Gerechtigkeitsgefühl der Volksmassen“ zu mindern. In seiner Antrittsrede als Finanzminister forderte er, bei der Konsolidierung der Reichsfinanzen die ungerechte Lastenverteilung der Kriegsjahre auszugleichen. Während dieser Kriegsjahre habe man zwar die mittleren und unteren Schichten durch die Wehrpflicht belastet, die wohlhabenderen aber nicht annähernd vergleichbar durch Abgaben an den Lasten der Kriegsführung beteiligt. Erzberger fand Worte von ungeheurer Wucht: „Nur das Blut, nicht auch das Gut verlangte man freiwillig und ohne Zinsen für das Vaterland“, rief er den Abgeordneten auf der rechten Seite des Plenums zu. Dass Erzberger zu allem anderen nun auch noch Hand an ihr Einkommen und Vermögen legen wollte, brachte die Rechtsnationalen nur noch mehr gegen ihn auf. 

Das Erzbergersche Reformwerk war ein Kraftakt, das weiß insbesondere ein ehemaliger Finanzminister. Nicht ohne Grund heißt der Große Saal im Bundesfinanzministerium seit 10 Jahren Matthias-Erzberger-Saal. Auch wenn die Finanzreform zunächst nicht so erfolgreich war wie erhofft, gilt sie zu Recht als Jahrhundertreform. Sie ist überdies ein Meisterwerk entschlossener Führung und politischer Durchsetzungskraft. Erzberger hatte nicht nur seine Behörde im Griff. Der erfahrene Parlamentarier und Haushälter ließ sich von den Abgeordneten nicht die Zügel aus der Hand nehmen. „Ich habe den Mut, Ihnen Vorlagen zu unterbreiten, die auf die Sanierung der Reichsfinanzen hinzielen, und ich habe die Energie, die Schwierigkeiten zu beseitigen“, kündigte er den Reichstagsmitgliedern an – und hielt Wort. Überliefert ist der Bericht eines Mitglieds im Finanzausschuss, der sich im Sommer 1919 gerade in die Parlamentsferien versabschieden wollte, als plötzlich Erzberger erschien: „... er bittet sogleich um das Wort und hat in fünf Minuten den eben noch vertagungsreifen, müden Ausschuss windelweich geknetet. Der ganze korpulente, freundliche Herr ist jetzt verkörperte Energie, und es strahlt von ihm eine derart faszinierende Wirkung aus, dass sich kein ernstlicher Widerspruch regt. Er verlangt unbedingt die Durchberatung zum mindesten noch des einen Steuergesetzentwurfes; resigniert und etwas eingeschüchtert lässt alles die Köpfe hängen, hat aber nach dieser Rede innerlich schon ja gesagt. Und der Vorsitzende […] kann auch nicht mehr tun, als diesem `Ja´ nun ein `Amen´ zu sagen.“

Das würde sich heute kaum ein Bundestagsausschuss bieten lassen; auch der Stil und die Art politischer Führung haben sich in den letzten 100 Jahren verändert. Aber das „Wagnis der Unpopularität“ gehört weiterhin dazu. Matthias Erzberger ist dieses Wagnis eingegangen, obwohl ihm die Risiken für Leib und Leben bewusst waren.

Am Tag, als die Nationalversammlung das letzte seiner Finanzreformgesetze verabschiedete, trat Erzberger als Minister zurück. Am selben Tag verurteilte das Gericht einen seiner schärfsten Widersacher, den früheren Vizekanzler Karl Helfferich, wegen übler Nachrede zu einer Geldstrafe; dabei wurden die – Zitat – „vaterländischen Motive“ des Angeklagten strafmildernd berücksichtigt. Der eigentliche Rechtsbrecher war in den Augen der Richter und großer Teile der Öffentlichkeit ein anderer: Der Prozess war zu einem Tribunal gegen Matthias Erzberger geworden. Immer neue, sich später als haltlos erweisende Vorwürfe wurden gegen den Politiker erhoben. Aber das nutzte nichts mehr. Hass und Hetze beendeten im Verbund mit einer revanchistischen Justiz Matthias Erzbergers politische Karriere – und düngten den geistigen Nährboden für das Attentat am 26. August 1921. 

Auch die strafrechtliche Aufarbeitung dieses Mordes nach dem Krieg war kein Ruhmesblatt für die deutsche Rechtsprechung. Die Richter am Landgericht Offenburg hatten die beiden Täter zunächst freigesprochen und sich dabei auf die Straffreiheitsverordnung von 1933 berufen – die Generalamnestie der Nationalsozialisten für politisch genehme Straftäter. Öffentlicher Protest, vor allem aber die Intervention der französischen Besatzungsmacht führte schließlich zur Verurteilung. Eine der vielen Besonderheiten, die sich mit Erzberger verbinden, ist, dass sich seine Witwe später für die Begnadigung der beiden Täter einsetzte. Diese menschliche Größe berührt bis heute.

Unsere stabile freiheitliche Demokratie hat sich über Jahrzehnte bewährt und gefestigt. Die extrem polarisierte, durch die Kriegserfahrung gänzlich enthemmte, hasserfüllte und gewaltbereite Gesellschaft, in der Matthias Erzberger wirkte, ist ihr allen Unkenrufen zum Trotz immer noch fern. Unser Rechtsstaat funktioniert. Aber mit Fake News und Hate Speech, Verleumdungen und Verschwörungstheorien, Polarisierung und Gewalt machen auch wir zunehmend unsere bitteren Erfahrungen. Sie zersetzen die Grundlagen der freien Gesellschaft und können in der Konsequenz unsere Demokratie an der Basis untergraben: In den Städten und Gemeinden, wo sich vielfach Kommunalpolitiker ungeschützt Anfeindungen ausgesetzt sehen. Der Mord an Walter Lübcke hat auf erschreckende Weise gezeigt, wie aus verbalen Drohungen brutale Taten werden. Wir dürfen Hass, Hetze und Gewalt nicht zum Alltag werden lassen. Dagegen anzugehen, ist nicht allein Sache der Justiz, sondern eine drängende Aufgabe für alle Demokraten in diesem Land!

Die Zukunft ist offen. Das galt für die Weimarer Republik – und das gilt ebenso für unsere Demokratie, die uns allzu schnell selbstverständlich erscheint. Wie die damals Handelnden haben wir Spielräume, verschiedene Optionen. Wir können diesen oder jenen Weg einschlagen, so oder so entscheiden.
Die Zukunft ist offen; sie muss und sie kann gestaltet werden. Matthias Erzberger wusste das. Eine bessere Zukunft zu gestalten, war sein politischer Antrieb. Er war ein großer Parlamentarier und Demokrat, ein starker, verantwortungswilliger Politiker. Er war vor allem beides: ein Realist und Optimist. Er ließ sich durch keine noch so desaströse Situation entmutigen, er hat auch die schlimmste Krise als Chance erkannt und genutzt. 
Pragmatismus, Mut, Zuversicht – das scheint mir nicht der schlechteste Dreiklang für die Herausforderungen unserer Gegenwart.

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