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12.01.2022 | Parlament

Worte der Bundestagspräsidentin Bärbel Bas vor Eintritt in die Tagesordnung

[Es gilt das gesprochene Wort]

Anrede

Ich begrüße Sie alle herzlich zu dieser ersten Sitzung im neuen Jahr – mit vielen guten Wünschen. Und mit der Erwartung, dass wir, die Mitglieder des Deutschen Bundestags, den Bürgerinnen und Bürgern in unserem Land die Zuversicht geben, dass die Politik auch im Angesicht der großen aktuellen Herausforderungen handlungsfähig ist. Und offen für pragmatische Lösungen.

David Sassoli wusste, wie das geht. Die traurige Nachricht vom plötzlichen Tod des Präsidenten des Europäischen Parlaments hat uns gestern erreicht. 
David Sassoli war ein Parlamentspräsident, der auf europäischer Ebene genau das konnte: Kompromisse schließen, das Machbare vorantreiben und das Notwendige im Blick behalten. Die Demokratie beweisen. 

Mit David Sassoli hat das Europaparlament einen leidenschaftlichen Verfechter europäischer und humanitärer Werte verloren. Auch in schwierigen Zeiten stand er stets für seine Überzeugungen ein. Er vertrat das Parlament selbstbewusst gegenüber dem Rat und der Kommission. 

Der italienische Sozialdemokrat verstand es auch in seinem hohen Amt, sich klar zu positionieren und dennoch zwischen widerstreitenden Haltungen und Interessen zu vermitteln. Zugute kam ihm seine freundliche und verbindliche Art. Seine im Journalismus geschulte Fähigkeit, verständlich zu kommunizieren. In strittigen Fragen wie der gemeinsamen Asyl- und Migrationspolitik machte Sassoli immer wieder deutlich, dass auf der Suche nach politischen Lösungen das Schicksal Einzelner nie verloren gehen darf. 

David Sassoli war ein überzeugter Europäer und ein großer Menschenfreund. Der Deutsche Bundestag wird ihm ein ehrendes Andenken bewahren.     

Ich möchte Sie bitten, sich von Ihren Plätzen zu erheben.  

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27.01.2022 | Parlament

Begrüßung der Bundestagspräsidentin Bärbel Bas zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar 2022

[Es gilt das gesprochene Wort. Autorisierte Rede]

Präsidentin des Deutschen Bundestages, Bärbel Bas:

Herr Präsident Levy!
Herr Bundespräsident!
Herr Bundeskanzler!
Herr Präsident des Bundesrates!
Herr Präsident des Bundesverfassungsgerichtes!
Exzellenzen!
Sehr geehrte Frau Auerbacher!
Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Verehrte Gäste!

Vor 80 Jahren, am 20. Januar 1942, kamen in einer Villa am Wannsee 15 hochrangige Staatsbeamte und NS-Parteifunktionäre zusammen. Das Thema der Besprechung lautete: „Die Endlösung der Judenfrage“. Allen Anwesenden war klar, was damit gemeint war. Der Massenmord war längst im Gange. Es ging darum, ihn zu systematisieren, zu beschleunigen und auf ganz Europa auszudehnen. Auf elf Millionen Jüdinnen und Juden. Einwände erhob keiner der Beteiligten.

Wir gedenken der Opfer der nationalsozialistischen Verbrechen. Der ermordeten Jüdinnen und Juden, der Toten der Sinti und Roma, der Opfer der slawischen Völker. Wir gedenken der Millionen Menschen, die verfolgt, beraubt, gedemütigt, entrechtet, gequält und dem Tode preisgegeben wurden. Weil sie anders dachten, anders glaubten, anders liebten oder weil ihr Leben den Nationalsozialisten als „unwert“ galt.

Die Wannsee-Konferenz steht für einen Staat, in dem Unrecht zu Recht wurde. Für einen Staat, der das Verbrechen plante, organisierte und verwaltete. Dieser Staat wurde von Menschen getragen. Menschen, die zu Mördern und Helfershelfern wurden.

Heute ist deswegen auch ein Tag der Scham für das, was frühere Generationen Deutscher getan haben. Scham, die die Täter nie gezeigt haben. Viel zu wenige mussten sich vor Gericht verantworten. Viel zu viele sind mit Strafen davongekommen, die einer Verhöhnung der Opfer gleichkamen. Auch Teilnehmer der Wannsee-Konferenz.

Sehr geehrte Frau Auerbacher, Sie stehen vor uns als Zeugin einer Zeit, die für die allermeisten längst Geschichte ist. Weit weg und völlig unvorstellbar. Als Sie sieben Jahre alt waren, sind Sie mit Ihren Eltern ins KZ Theresienstadt deportiert worden. Es war der Tag, an dem Ihre Kindheit endete.

Etwa anderthalb Millionen jüdische Kinder sind im Holocaust umgekommen. Sie schreiben in einem Ihrer Bücher, dass Sie diese „drei Millionen Augen“ auf sich spüren. Sie bitten darum, sie nicht zu vergessen. Diese Bitte ist Ihnen zur Berufung geworden. In den vergangenen Jahren und Jahrzehnten haben Sie unzähligen Menschen Ihre Geschichte erzählt, vor allem Kindern und Jugendlichen. Damit diese nicht vergessen.

Ich danke Ihnen, dass Sie Ihre Anreise aus New York, die nicht leicht war, insbesondere unter den schweren Bedingungen der Pandemie, auf sich genommen haben, um heute zu uns zu sprechen und Ihre Geschichte zu erzählen. Das ist uns eine große Ehre.

Als Inge Auerbachers Familie den sogenannten Abwanderungsbefehl erhielt, war ihr Geburtsort Kippenheim bereits - wie es im Nazijargon hieß - „judenfrei“. Fast alle badischen, pfälzischen und saarländischen Juden waren im Oktober 1940 ins Lager Gurs im unbesetzten Teil Frankreichs verschleppt worden. Es handelte sich um eine der ersten Massendeportationen deutscher Jüdinnen und Juden. All das fand am helllichten Tag statt. Und es lief, wie die Verantwortlichen berichteten, größtenteils ohne Zwischenfälle ab.

Die wiederhergerichtete Synagoge in Kippenheim ist heute eine Gedenk‑, Lern‑ und Begegnungsstätte - getragen von ehrenamtlich tätigen Bürgerinnen und Bürgern. Einem engagierten Verein ist es auch zu verdanken, dass das Haus von Inge Auerbachers Großeltern in Jebenhausen erhalten wurde und heute Teil eines Erinnerungsweges an das einstige jüdische Leben in Göppingen ist. Ich begrüße stellvertretend für dieses vielfältige lokale Engagement den Oberbürgermeister von Göppingen, Herrn Alex Maier.

Unsere Gedenk- und Erinnerungskultur ist auf Initiativen wie diese angewiesen. Sie lebt von engagierten Bürgerinnen und Bürgern, von Vereinen, die sich um Erinnerungsorte kümmern, von Schülerinnen und Schülern, die sich auf Spurensuche begeben. Erinnerungskultur lässt sich nicht von oben verordnen. Sie erschöpft sich nicht in staatlichen Ritualen wie diesem alljährlichen Gedenkakt. Jedenfalls nicht in einer freiheitlichen Gesellschaft.

Die Erinnerung wandelt sich: Immer weniger Zeitzeugen können aus eigenem Erleben berichten. Immer mehr Menschen bei uns haben keine deutschen Vorfahren; die deutsche Schreckensgeschichte des 20. Jahrhunderts ist nicht ihre. Das macht die Arbeit von Schulen, Gedenkstätten und Museen umso wichtiger.

Unsere von vielen geachtete Gedenkkultur bleibt nur lebendig, wenn wir immer wieder von Neuem Fragen an die Geschichte stellen und nach Antworten suchen. Das gilt gerade für junge Menschen.

Es bedeutet auch, andere Blickwinkel zuzulassen, Bezugspunkte zu den Geschichten anderer zu debattieren - solange wir das angemessen sensibel, verantwortungsbewusst und respektvoll tun.

Umso trauriger macht es mich, dass wir die Jugendbegegnung des Deutschen Bundestages pandemiebedingt verschieben mussten. Selbstverständlich werden wir die Jugendbegegnung so schnell wie möglich nachholen. Sie bringt junge Leute aus unterschiedlichen Ländern, mit vielfältigen Lebensgeschichten und Erfahrungen zusammen, die eines eint: die Überzeugung, dass das, was war, sich niemals wiederholen darf. Antisemitismus, Menschenfeindlichkeit und Rassismus haben in unserer Gesellschaft keinen Platz - weder in der Gegenwart noch in der Zukunft.

Unser Land trägt eine besondere Verantwortung: Der Völkermord an den Juden Europas ist ein deutsches Verbrechen. Aber es ist zugleich eine Vergangenheit, die alle angeht. Nicht nur Deutsche, nicht nur Juden. Deshalb beteiligt sich der Bundestag zusammen mit anderen europäischen Parlamenten an der Gedenkkampagne #WeRemember in den sozialen Medien. Gemeinsam mit vielen anderen weltweit setzen wir ein Zeichen zur Erinnerung an den Holocaust. Gegen Fremdenfeindlichkeit und Judenhass.

Aber Zeichen setzen allein reicht nicht.

Ich begrüße den Präsidenten der Knesset, Herrn Mickey Levy.

Wir freuen uns, dass Sie bei uns sind. Ihr Besuch unterstreicht die engen, besonderen Beziehungen zwischen den Parlamenten unserer Länder - 70 Jahre nachdem Konrad Adenauer und David Ben-Gurion das Luxemburger Abkommen unterzeichneten. Wiedergutmachung für etwas, das nicht wiedergutzumachen ist.

Die Aussöhnung zwischen Deutschland und Israel erscheint im Rückblick wie ein Wunder. Ein wertvolles Geschenk, das es zu pflegen gilt. Deutschland und Israel sind nicht in allem einer Meinung, aber dennoch „wahre Partner“, wie der damalige israelische Staatspräsident Rivlin vor zwei Jahren hier an dieser Stelle unterstrich. Uns einen nicht zuletzt gemeinsame Werte, für die wir einstehen - und auch als Lehre aus der Geschichte. Das gilt besonders für den Kampf gegen Antisemitismus.

Wir, Politik und Gesellschaft, führen diesen Kampf schon lange. Wir haben Expertenkommissionen und Antisemitismusbeauftragte eingesetzt. Wir haben zahlreiche zivilgesellschaftliche Initiativen und Vereine. Wir haben das Strafrecht verschärft.
Wir mahnen und bekunden unmissverständlich: Antisemitismus ist nicht hinnehmbar. Punkt!
Egal, wie er sich äußert. Egal, wo er herkommt. Nie wieder sollen sich antijüdische Stereotype und Vorurteile breitmachen können. Nie wieder sollen Jüdinnen und Juden herhalten müssen für die Übel der Welt. Nie wieder soll Antisemitismus den Boden bereiten für Ausgrenzung, Hass und Vernichtungswahn.

Auch diese Gedenkstunde ist Teil unseres Engagements. Denn wir erinnern, um „jeder Gefahr der Wiederholung entgegenzuwirken“. So sagt es die Proklamation zum Tag des Gedenkens.

Aber Erinnern und Gedenken machen nicht immun gegen Antisemitismus. Es schützt nicht vor Rassismus und Rechtsextremismus. Es hat den mörderischen Terror durch den NSU nicht verhindert, nicht den antisemitischen Anschlag von Halle, nicht die rechtsextremen Morde von Hanau.

Das Wissen um die Geschichte hat nicht verhindert, dass ein Drittel der deutschen Bevölkerung meint, die Juden hätten vielleicht doch zu großen Einfluss, dass 70 Prozent ganz oder teilweise finden, die israelische Politik im Nahen Osten sei - Zitat - „genauso schlimm wie die Politik der Nazis im Zweiten Weltkrieg“ und dass die Pandemie auf ohnehin grassierenden Judenhass wie ein Brandbeschleuniger wirke.

Der Antisemitismus ist da. Er findet sich nicht nur am äußersten Rand, nicht nur bei den ewig Unbelehrbaren und ein paar antisemitischen Trollen im Netz. Er ist ein Problem unserer Gesellschaft. Der ganzen Gesellschaft.

Der Antisemitismus ist mitten unter uns.

Wir müssen uns ehrlich befragen - auch jene, die sich selbst für überzeugte Anti-Antisemiten halten: Wie frei sind wir wirklich von antijüdischen Klischees? Gelingt es uns immer, Jüdinnen und Juden nicht für die israelische Politik in Haftung zu nehmen? Sind wir aus falsch verstandener Toleranz zu nachgiebig gegenüber einem Antisemitismus, den manche Zugewanderte aus ihrer alten Heimat mitgebracht haben?

Und nehmen wir es eigentlich wahr, das vielschichtige jüdische Leben, das es - zum Glück! - wieder gibt in Deutschland? Die Vielfalt einer jüdischen Gegenwart, die jüdische Deutsche und deutsche Juden kennt, zu der Orthodoxe und Liberale gehören, die junge Israelis ebenso umfasst wie jüdische Familien aus der ehemaligen Sowjetunion.

Denn die Juden gibt es nicht. Genauso wenig, wie es die Deutschen gibt oder die Flüchtlinge oder die Muslime.

Im Übrigen: Wer gegen Muslime und ihren Glauben hetzt, der macht sich als Freund des Judentums unglaubwürdig.

Wer Menschen bei uns ablehnt, weil sie anders sind - oder einfach, weil sie nicht schon immer hier waren -, der sollte das Wort „Freiheit“ nicht im Munde führen.

„Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Jedes Menschen. Die Lehren aus der Geschichte haben unsere Verfassung geprägt. Wir wissen aus Erfahrung: Freie Gesellschaften bleiben aus dem Inneren heraus verwundbar. Deshalb braucht es den „Mut zur Intoleranz denen gegenüber …, die die Demokratie gebrauchen wollen, um sie umzubringen“. Das sind nicht meine Worte. Das hat Carlo Schmid so drastisch formuliert, als ein Vater des Grundgesetzes.

Unsere freiheitliche Demokratie muss sich wappnen gegenüber jenen, die die Demokratie beschwören, aber nur ihre eigene Freiheit meinen. Die Toleranz für sich einfordern, aber für Pluralismus nur Verachtung übrighaben. Die Lügen verbreiten, um zu verunsichern. Die zu Hass und Gewalt anstacheln, um sich im Nachhinein mit empörter Geste zu distanzieren.

Die Mehrheit in diesem Land hat dafür nichts übrig. Sie lässt sich nicht zum Hass verführen. Sie wählt und streitet demokratisch. Und das gerne leidenschaftlich, auch erbittert.

Gegenüber den anderen brauchen wir mehr „Mut zur Intoleranz“. Den entschlossenen Einsatz aller Mittel, die die wehrhafte Demokratie kennt. Wenn Rechtsextremisten, Geschichtsrevisionisten und Völkisch-Nationale Wahlerfolge feiern, dann ist das kein Alarmzeichen. Dann ist es aller höchste Zeit zu handeln.

Dann ist es höchste Zeit, zusammenzustehen, um die Werte und Institutionen unserer freien, demokratischen Gesellschaft zu beschützen.

Denn die Demokratie trägt kein Ewigkeitssiegel. Sie ist angewiesen auf Bürgerinnen und Bürger, die sie schätzen und mit Leben erfüllen. Auch daran erinnern uns dieser Tag und die deutsche Geschichte: Von uns allen hängt es ab.

Sehr geehrte Damen und Herren, im mörderischen deutschen Rassenwahn ist eine vielfältige, über Jahrhunderte gewachsene Kultur untergegangen. Europa ist ärmer geworden: Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, Intellektuelle, Künstlerinnen und Künstler wurden vertrieben, gingen ins Exil, kamen ums Leben.

Einer von ihnen ist der Prager Komponist Hans Krása. Seine Kinderoper „Brundibár“ missbrauchten die Nazis für ihre Propaganda im KZ Theresienstadt. Dort hat Hans Krása auch das Streichertrio geschrieben, das wir gleich hören werden. Er starb 1944 in Auschwitz.

Ich danke den Musikerinnen und Musikern der Prager Opernhäuser, dem Kantor Yoed Sorek und ebenso allen Künstlerinnen und Künstlern, die an dieser Gedenkstunde mitwirken.

Nach dem Musikstück haben Sie, liebe Frau Auerbacher, das Wort.

Herzlichen Dank.


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27.02.2022 | Parlament

Rede von Bundestagspräsidentin Bärbel Bas vor Beginn der Sondersitzung am 27. Februar aus Anlass der Regierungserklärung zum Krieg gegen die Ukraine

[Es gilt das gesprochene Wort.]

Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Auf der Ehrentribüne begrüße ich zunächst Herrn Bundespräsident Gauck. Ich freue mich, dass Sie hier heute anwesend sind.

Wir alle stehen unter dem Eindruck dramatischer Ereignisse. Was der Westen mit vereinten Kräften zu verhindern versucht hat, ist doch eingetreten: Wir haben Krieg in Europa. Russlands Präsident Putin hat die Ukraine angegriffen, die Souveränität des Landes brutal verletzt, den Menschen in der Ukraine das Recht auf Selbstbestimmung abgesprochen. Dieser Überfall ist ein klarer Bruch des Völkerrechts und ein Angriff auf die Prinzipien der freiheitlichen Welt. Prinzipien, die für Deutschland und für alle Demokratien weltweit unverhandelbar sind.

Auf der Tribüne begrüße ich den Botschafter der Ukraine, Herrn Dr. Andrij Melnyk. Exzellenz, in Gedanken sind wir bei Ihren Landsleuten, die in diesen Tagen ihre Freiheit und die Demokratie verteidigen.

Am Freitagabend habe ich in einem Telefonat mit meinem Amtskollegen Ruslan Stefanchuk allen Mitgliedern des ukrainischen Parlaments und allen Ukrainern unsere Hilfe und Unterstützung zugesichert. Der Deutsche Bundestag und die Menschen in unserem Land stehen fest an der Seite der freien und demokratischen Ukraine.

Wir konnten diesen Krieg kommen sehen. Verhindern konnten wir ihn nicht. Es ist schmerzhaft, sich das eingestehen zu müssen. Dennoch war es richtig, es auf allen diplomatischen Kanälen versucht zu haben. Jeder Krieg kennt nur Verlierer!

Hunderte Menschen sind bereits in den Kämpfen getötet worden. Mehr als Hunderttausend sind auf der Flucht. Unser Mitgefühl gilt allen, die Angehörige verloren haben und von Leid und Zerstörung betroffen sind. Es kommt jetzt darauf an, gleichermaßen besonnen und entschlossen zu handeln. Im Bündnis der demokratischen Staaten.

Ich danke Ihnen allen, dass Sie gekommen sind. Der Deutsche Bundestag kommt heute an einem Sonntag zu einer Sondersitzung zusammen. In dieser historischen Ausnahmesituation ist auch das ein wichtiges Signal der Solidarität unseres Hauses.

Der Bundeskanzler wird gleich eine Regierungserklärung abgeben. Auf sein Verlangen gemäß Artikel 39 Absatz 3 des Grundgesetzes in Verbindung mit § 21 Absatz 2 unserer Geschäftsordnung habe ich die heutige Sondersitzung einberufen.

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06.04.2022 | Parlament

Worte von Bundestagspräsidentin Bärbel Bas vor Eintritt in die Tagesordnung zu den Verbrechen von Butscha und dem Krieg in Bosnien und Herzegowina

[Stenografischer Dienst]

Präsidentin Bärbel Bas:

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, bitte nehmen Sie Platz. Ich begrüße Sie.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Berichte aus Butscha erschüttern die Welt. Nach dem Abzug russischer Truppen wurden unbegreifliche Gräueltaten sichtbar. Unsere Gedanken sind bei den Menschen in Butscha, Borodjanka, in Mariupol, in Charkiw, in Cherson und an so vielen anderen Orten in der Ukraine.

Städte werden belagert, Evakuierungen und humanitäre Hilfe blockiert. Die Versorgung mit Lebensmitteln, Wasser und Strom wird systematisch gekappt. Es geht offensichtlich um Terror gegen das ganze Volk. Der Deutsche Bundestag verurteilt diese Kriegsverbrechen aufs Schärfste.

(Beifall im ganzen Hause)

Auf Antrag der Koalitionsfraktionen werden wir später in einer Aktuellen Stunde zu den von russischen Truppen verübten Massakern an ukrainischen Zivilisten in Butscha und den sich daraus ergebenden Konsequenzen debattieren. Diese Massaker müssen unabhängig untersucht und die Verantwortlichen angeklagt werden. Hier ist auch die internationale Gemeinschaft gefragt. Ohne Wahrheit kann es keine Gerechtigkeit geben.

Das gilt nicht nur in diesem Krieg. Menschenrechtsverletzungen müssen in jedem Fall dokumentiert und die Opfer gehört werden. Dabei spielen Menschenrechtsorganisationen eine wichtige Rolle. Ich begrüße auf der Tribüne die Historikerin Irina Scherbakowa, die die russische Menschenrechtsorganisation Memorial mit begründet hat, mit weiteren Vertreterinnen und Vertretern.

(Beifall im ganzen Hause)

Vielen Dank, dass Sie heute bei uns sind.

Die Bilder aus der Ukraine wecken Erinnerungen an den Krieg in Bosnien-Herzegowina, der vor 30 Jahren begann. Mehr als 100 000 Menschen kamen damals ums Leben. Auch darüber werden wir heute Nachmittag im Plenum debattieren. Wie jetzt in der Ukraine wurden auch Frauen Ziel brutaler Gewalt. Bosnische Frauen brachten die Kraft und den Mut auf, über erlittene Vergewaltigungen zu sprechen. Sie machten die Wahrheit über diese Kriegsverbrechen bekannt.

Der Krieg gipfelte in dem Völkermord von Srebrenica, bei dem 8 000 bosnische Muslime, vor allem Jungen und Männer, planvoll ermordet wurden.

Alles deutet darauf hin, dass in diesen Wochen in Europa wieder unbeteiligte Menschen zum Ziel von Kriegsverbrechen werden. Wir müssen alles Verantwortbare tun, um die Ukraine in ihrem Kampf um ihre Existenz noch stärker zu unterstützen.

Wir hier im Bundestag wissen: In der Ukraine geht es auch um Europas Frieden und unsere Sicherheit.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der FDP und der LINKEN sowie bei Abgeordneten der AfD)

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22.03.2022 | Parlament

Worte von Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt vor Eintritt in die Tagesordnung zum Gedenken an Boris Romantschenko

[Stenografischer Dienst]

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Grausamkeit des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine zeigt sich auch in Tausenden Einzelschicksalen. Gestern haben wir erfahren: Am 18. März starb Boris Romantschenko bei einem Angriff auf sein Wohnhaus in Charkiw. Er wurde 96 Jahre alt.

Boris Romantschenko wurde 1942 als Zwangsarbeiter nach Dortmund verschleppt. Nach einem Fluchtversuch 1943 wurde er nacheinander in vier Konzentrationslagern interniert. Er überlebte Buchenwald, Peenemünde, Mittelbau-Dora und Bergen-Belsen.

Als Vizepräsident des Internationalen Komitees Buchenwald-Dora hat sich Boris Romantschenko für das Gedenken an die NS-Verbrechen eingesetzt und für die Aussöhnung zwischen den Völkern. Sein Tod erinnert uns daran, dass Deutschland eine besondere historische Verantwortung gegenüber der Ukraine hat. Boris Romantschenko ist einer von Tausenden Toten in der Ukraine. Jedes einzelne Leben, das genommen wurde, mahnt uns, alles uns Mögliche zu tun, um diesen grausamen, völkerrechtswidrigen Krieg zu stoppen und den Menschen in und aus der Ukraine zu helfen.

Ich bitte Sie nun um einen Moment der Stille in Gedenken an Boris Romantschenko und die anderen Opfer des Krieges. - Ich danke Ihnen.

(Die Anwesenden nehmen Platz)

Die Sitzung ist eröffnet.

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13.02.2022 | Parlament

Rede von Bundestagspräsidentin Bärbel Bas zur Begrüßung der 17. Bundesversammlung

[Stenografischer Bericht]

Präsidentin Bärbel Bas:

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich wünsche Ihnen allen einen schönen Sonntag. Bitte nehmen Sie Platz.

Sehr geehrter Herr Bundespräsident! Sehr geehrte Frau Büdenbender! Verehrte Repräsentanten der Verfassungs-organe! Sehr geehrte Frau Präsidentin Süssmuth! Sehr geehrte Mitglieder der 17. Bundesversammlung! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich begrüße Sie zur 17. Bundesversammlung – an ungewöhnlichem Ort, zu schwierigen Zeiten.

Nichts ist in diesen Tagen normal. Umso mehr freue ich mich, Sie heute hier im Paul-Löbe-Haus zur Wahl unseres Staatsoberhauptes willkommen zu heißen. Wir haben strenge Vorkehrungen zu Ihrem Schutz getroffen. Denn das Virus breitet sich weiter aus. Die Pandemie bedroht vor allem ohnehin geschwächte und verletzliche Menschen. Befallen hat sie dieses Land im doppelten Sinn: Scheinbar unversöhnlich stehen sich Menschen gegenüber, die unterschiedliche Einstellungen haben. Die Stimmung im Land, in Familien, in Freundeskreisen leidet darunter. Dagegen hilft kein Impfstoff.

Polarisierung gab es in der Geschichte der Bundes-republik immer wieder. In dieser Krise scheint unserer Gesellschaft aber viel Verbindendes verloren zu gehen, auch das Vertrauen in unsere eigene Kraft. Viele bezweifeln, dass wir unsere Probleme in den Griff bekommen. Sie trauen der Politik und den staatlichen Institutionen wenig zu. Sie fühlen sich ohnmächtig.

Es gibt Gründe dafür: Im Kampf gegen das Virus haben wir immer wieder Rückschläge erlebt. Wir tun uns schwer mit der Einsicht, dass auch Fachleute noch immer nicht das eine Rezept der Wirksamkeit gegen die Pandemie kennen, dass die Politik Entscheidungen trifft und sie später korrigieren muss. Der notwendige, sachliche Dia-log über Lösungsansätze und politische Entscheidungen wird durch Hass und Hetze erschwert. Schlimmer noch sind Gewaltaufrufe oder sogar Gewaltausbrüche.

Und das ist wahrlich nicht alles: Wir alle machen uns große Sorgen um den Frieden mitten in Europa. Die Lage in der Ukraine nimmt eine Entwicklung, die wir uns alle noch vor Kurzem nicht hätten vorstellen können. Mehrere Staaten haben ihre Bürgerinnen und Bürger dazu aufgerufen, das Land zu verlassen, so gestern auch die Bundesregierung.

Nie wieder Krieg – das war für uns Europäer die Lehre aus zwei verheerenden Weltkriegen. Wir sind zum Frieden verpflichtet. Wir alle bleiben täglich dazu aufgerufen, ihn zu bewahren, Trennendes zu überwinden und Konflikte zivilisiert auszutragen. Nutzen wir alle Möglichkeiten der Diplomatie, um die Gefahr eines Krieges zu bannen. Jeder Krieg kennt nur Verlierer!

(Beifall bei der weit überwiegenden Mehrheit der Mitglieder der Bundesversammlung)

Als ob dies nicht genug wäre, sorgen wir uns auch um die enormen Herausforderungen, die der Klimawandel mit sich bringt. Die Migrationsbewegungen stellen die Weltgemeinschaft vor eine Jahrhundertaufgabe. Und auch in ihrem Alltag blicken viele mit Sorge auf die Inflation und steigende Energiepreise. Nicht wenige fragen sich, wie sie diese zusätzlichen Belastungen schultern sollen. Und auch die Entwicklung innerhalb der Europäischen Union gibt einigen Anlass zur Sorge.

Aber: Sind wir den Problemen dieser Zeit wirklich ausgeliefert? Haben wir keine Möglichkeit, voranzukommen? – Natürlich kann auch ich nicht den Ausweg aus all diesen Krisen weisen. Sie alle dürfen aber erwarten, dass ich uns Mut mache, und das mache ich aus vollster Über-zeugung.

(Beifall bei der weit überwiegenden Mehrheit der Mitglieder der Bundesversammlung)

„Die Tugend des Mutes ist unterbewertet, weil es uns seit Generationen sehr gut geht“, sagt der frühere Bundes-präsident Joachim Gauck. Schauen wir zurück: Hatten es andere Generationen leichter? – Wohl kaum. Jede Zeit stellt neue Aufgaben. Mit jedem Schritt vorwärts sind Risiken verbunden. Jede Entwicklung löst Nebenwirkungen aus, vorhersehbare und unvorhersehbare. Trauen wir uns dennoch Veränderung und Fortschritt zu! Machen wir uns klar, dass Furcht nicht weiterhilft! Stellen wir uns der Zukunft! Lassen wir uns nicht einreden, dass wir anstehende Probleme nicht lösen können!

(Beifall bei der weit überwiegenden Mehrheit der Mitglieder der Bundesversammlung)

Im Gegenteil: Wir können und wir werden diese Herausforderungen meistern; denn Deutschland hat eine starke und bewährte Verfassung. Das Grundgesetz führt uns heute in dieser Bundesversammlung zusammen, gewählte Abgeordnete – die 736 Mitglieder des Deutschen Bundestages – und ebenso viele Vertreterinnen und Ver-treter der 16 Bundesländer. Das spiegelt die föderale Ordnung unseres Landes wider. Es ist auch gute Tradition: Neben den Parlamentsmitgliedern entsenden die Länder verdiente Bürgerinnen und Bürger, die kein Mandat in einem Parlament haben. Ich sehe zwei Sportlerinnen mit Behinderung, eine Verlegerin und einen Fußballprofi. Gleich mehrfach vertreten sind Branchen, denen die Pandemie besonders viel abverlangt: die Pflege, die Medizin, die Virologie, auch das Friseurhandwerk. Unter uns sind ein großer Pianist, eine erfolgreiche Impfstoffentwicklerin und eine verdiente vormalige Bundeskanzlerin. Liebe Frau Dr. Merkel, ich begrüße Sie stellvertretend für alle Anwesenden in dieser Bundesversammlung!

(Langanhaltender Beifall bei der weit über-wiegenden Mehrheit der Mitglieder der Bundesversammlung – Dr. Angela Merkel erhebt sich)

Ich freue mich sehr, dass Sie alle angereist sind, um unser Staatsoberhaupt zu wählen.

Ich möchte allen, die diese besonders aufwendige Bundesversammlung mit viel Umsicht geplant und organisiert haben, herzlich danken: für den Aufbau hier im Paul-Löbe-Haus, für die Sicherheit im Haus, für die Begleitung der Delegierten, für die Unterstützung der Medien oder für die Arbeit in den Testzentren. Überall braucht es Helferinnen und Helfer, und ich glaube, ich kann im Namen von Ihnen allen sagen: Herzlichen Dank dafür!

(Beifall)

Diese Sitzung zeigt: Auch unter erschwerten Bedingungen erfüllen wir den Auftrag des Grundgesetzes. Unser Staat funktioniert, auch in schwieriger Zeit. Für die Wahl des Staatsoberhauptes haben die Mütter und Väter des Grundgesetzes genau dieses Verfahren eingeführt. Anders als die Parlamente stimmt die Bundesversamm-lung ohne Aussprache, ohne vorausgehende Wahlkampf-reden ab. Das unterstreicht die herausgehobene, überparteiliche Rolle des Amtes.

Der parlamentarische Alltag dagegen braucht die Debatte und auch den Widerspruch. Bevor Entscheidungen fallen, müssen Argumente ausgetauscht, Alternativen diskutiert, Kompromisse ausgehandelt werden. Das ist anspruchsvoll; denn unsere Gesellschaft wird immer viel-fältiger. Und es kann nur gelingen, wenn sich alle an die Spielregeln halten und bereit sind, die mit Mehrheit getroffenen Entscheidungen zu akzeptieren.

Doch wir dürfen schon fragen, ob wir jeden Streit aus-halten müssen. Ich wünsche mir eine zivilisierte Auseinandersetzung und einen respektvollen Umgang mit-einander. Wir merken doch, dass Anschuldigungen nichts bringen – von gewaltsamen, strafbewehrten Über-griffen gar nicht zu reden. Jeder hat das Recht, politische Vorhaben zum Klimaschutz für zu schwach zu halten oder Coronamaßnahmen für zu streng. Wer sich an das Recht hält, darf demonstrieren und seine Meinung äußern. Aber wer sich selbst ein eigenes Recht schafft, das Recht auf die alleinige Wahrheit, der setzt sich ins Unrecht.

(Beifall bei der weit überwiegenden Mehrheit der Mitglieder der Bundesversammlung)

Das gilt natürlich auch im Netz, wo zunehmend Hemmungen wegbrechen.

„Der andere kann auch recht haben.“ Rita Süssmuth hat diesen Satz oft wiederholt. Er sagt sich leicht. Schwer ist es, danach zu handeln, erst recht, wenn widerstreitende Positionen verhärtet sind, Weltbilder verfestigt und trennende Lebenserfahrungen prägend.

Die aktuelle Zuspitzung in den Debatten zeigt mir: Wir brauchen eine größere Offenheit. Die Mehrheit hat nicht automatisch recht – die Minderheit aber auch nicht. Alle müssen sich bewegen, aufeinander zugehen. Wer Gegen-positionen einfach abtut, macht es sich zu leicht. Niemand ist im Besitz der einzig richtigen Lösung.

(Beifall bei der weit überwiegenden Mehrheit der Mitglieder der Bundesversammlung)

Wir sollten den Wettbewerb der Argumente zulassen und den Bürgerinnen und Bürgern noch mehr zuhören. Das kann die Debatte in der parlamentarischen Demokratie nur bereichern. Die Bürgerräte sind nur ein Beispiel dafür, wie ein konstruktiver und lebendiger Austausch zwischen der Politik und der Bevölkerung funktionieren kann und die gesellschaftliche Debatte an Breite gewinnt. Wichtig ist, die Meinungen und Erfahrungen der Bürgerinnen und Bürger auch ernst zu nehmen. Anderenfalls wachsen Unmut und Unzufriedenheit.

Die Demokratie lebt nicht aus sich heraus oder des-halb, weil sie auf dem Papier steht. Sie lebt von Gemeinsinn und Offenheit. Akzeptanz erfährt die Politik, wenn wir uns daran orientieren. Wir werden niemals die Wünsche aller erfüllen können. Aber wenn wir vorankommen wollen, müssen wir offen sein für neue Perspektiven – in den Kommunen, auf der Landes- und Bundesebene.

Auch Kritik ist notwendig und sinnvoll, wenn sie konstruktiv ist. Stellen wir, die politisch Verantwortlichen, uns ernsthaft genug die Frage, warum Zweifel an unse-rem Tun und an Institutionen des Staates wachsen? Sind wir in der Lage, ehrlich zu antworten, oder gehen wir gleich in eine Verteidigungshaltung?

Es gibt leider immer wieder Grund, das Fehlverhalten Einzelner anzuprangern, wenn zum eigenen Vorteil die Grenzen der Legalität bis ins Letzte ausgereizt oder sogar überschritten werden. Dennoch: Die allermeisten Vertreterinnen und Vertreter des Volkes sind aufrichtig und wollen ihrer Aufgabe gerecht werden, so wie die Bür-gerinnen und Bürger in ihrem Lebensumfeld auch.

(Beifall bei der weit überwiegenden Mehrheit der Mitglieder der Bundesversammlung)

Zu Recht ärgern sie sich über Unzulänglichkeiten, wie sie jetzt in der Pandemie zutage treten: von der ungenügenden Ausstattung vieler Schulen bis zu unzumutbaren Bedingungen in der Pflege, unter denen das Pflegepersonal, die Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen lei-den.

Doch trotz vieler Missstände sollten wir nicht gnaden-los im Urteil sein. Gnadenlosigkeit führt zu einer gefährlichen Haltung gegen alles und jedes. Sie vergiftet die gesellschaftliche Auseinandersetzung und lähmt die Suche nach Lösungen für vertrackte Probleme. Sie nimmt uns die notwendige Energie, um aus verfahrenen Situationen herauszufinden.

Besinnen wir uns darauf, dass wir in der Vergangenheit immer wieder Trennendes überwunden haben – zwischen einzelnen Menschen mit unterschiedlicher Weltanschauung und Herkunft, Misstrauen zwischen Generationen, sogar die Feindschaft zwischen Völkern.

Das zeigt auch die Geschichte dieses Tages: Am 13. Februar 1945 wurde das historische Dresden zerstört. Viele, viele Tausend Menschen verloren ihr Leben. Mit diesen Toten, mit dem verheerenden Bombardement, mit dem Leid der Davongekommenen wurde immer wieder Politik gemacht, bereits im Zweiten Weltkrieg und erst recht danach. Die Propaganda endete auch nicht mit dem Fall des Eisernen Vorhangs. Weiter wurde versucht, die Millionen Opfer des verheerenden Weltkrieges, der von Deutschland ausgegangen war, gegeneinander aufzurechnen, revisionistische Gedanken zu verbreiten, deutsche Schuld kleinzureden – sogar im Verhältnis zu den Millionen Opfern der Shoah.

Wir leben seit fast 77 Jahren in Frieden. Die Euro-päische Union gründet auf Versöhnung. Daran zu er-innern, ist weit mehr als ein Ritual für feierliche Anlässe wie diesen. Aber auch in der Europäischen Union wird über Grundwerte, Fragen der Rechtsstaatlichkeit und das gestritten, was Solidarität konkret bedeutet.

Bei allem, was uns heute entzweit, sollte uns eines zusammenhalten: die Verpflichtung, Frieden und Demokratie zu bewahren und die Gemeinschaft in unserem europäischen Haus zu stärken.

(Beifall bei der weit überwiegenden Mehrheit der Mitglieder der Bundesversammlung)

Wir haben gute Voraussetzungen dafür. Mit gleicher Tat-kraft und mit gleichem Mut müssen wir den gesellschaftlichen Zusammenhalt in unserem Land fördern – wenn wir einander achten und aufeinander achten, wie der verstorbene Bundespräsident Johannes Rau es formuliert hat.

Rau wusste, dass darin die entscheidende Aufgabe der Bundespräsidenten liegt: im Zusammenführen. Ihre Machtbefugnisse sind beschränkt. Aber über die Macht des Wortes verfügen unsere obersten Repräsentanten uneingeschränkt. Begegnungen und Austausch sind ihre Formate. Sie können in ihrem Amt versöhnen.

Halten wir zusammen! Suchen wir das Verbindende! Setzen wir da an, wo wir etwas bewegen können, jede und jeder von uns – zusammen mit dem Staatsoberhaupt, das zu wählen jetzt die Aufgabe aller Anwesenden ist!

Herzlichen Dank.

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17.03.2022 | Parlament

Worte von Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt anlässlich der Videobotschaft des Präsidenten der Ukraine, S.E. Wolodymyr Selenskyj

[Stenografischer Bericht]

Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, Katrin Göring-Eckardt:

Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Nehmen Sie bitte Platz. Ich grüße Sie herzlich - auch den Bundespräsidenten Wulff auf der Tribüne.

Wir werden heute Morgen den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj zuschalten können. - Er ist schon da. Herr Selenskyj, wir begrüßen Sie sehr herzlich.

(Langanhaltender Beifall im ganzen Hause - Die Anwesenden erheben sich)

Es ist uns eine Ehre, dass Sie heute zu uns sprechen werden.

Auf der Tribüne begrüße ich auch und von Herzen Botschafter Andrij Melnyk. Schön, dass Sie erneut bei uns sind.

(Beifall im ganzen Hause)

Seit Jahren ist Krieg. Die Krim, der Donbass wurden überfallen, und der neue eiskalte und brutale Angriff auf die Ukraine, auf die Freiheit, auf die Demokratie schafft ein Leid, dessen Ausmaß wir hier nur erahnen können. Seit drei Wochen leisten die Menschen in der Ukraine mit allen Kräften Widerstand gegen Putins Angriffskrieg. Dieser Krieg muss beendet werden. Russland muss seine Angriffe einstellen und seine Truppen aus der Ukraine abziehen.

(Beifall im ganzen Hause)

Die überwältigende Mehrheit der Staatengemeinschaft hat diese Forderung an Russland in der Generalversammlung der Vereinten Nationen bekräftigt und den Angriffskrieg verurteilt. Mit Entsetzen sehen wir, dass die russischen Truppen bewusst zivile Ziele angreifen. Das ist ein eklatanter Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht.

(Beifall im ganzen Hause)

„Zivile Ziele“, das klingt technisch. Aber das sind Wohnhäuser, Krankenhäuser, Schulen, Kindergärten. Es trifft schutzlose Menschen: Alte, die in Kellern sitzen und nicht fliehen konnten, weil sie zu krank sind, Schwangere, ja Wöchnerinnen mit ihren Neugeborenen. Wir sind tief berührt von dem Mädchen, das offenbar in einem Bunker singt - ein Lied aus der „Eiskönigin“. Wir sehen dich, Amelia.

Menschen sind tot. Der ukrainische Biathlet Jewhen Malyschew ist tot. Die Fußballprofis Witali Sapylo und Dimitri Martynenko sind tot. Reporter/-innen, die über den Krieg berichtet haben, sind tot. Ihre Namen kennen wir. Viele andere, so viele andere, kennen wir nicht. Doch wir sehen euch. Wir sind in Gedanken bei euch und bei denen, die um euch trauern.

Die Stadt Mariupol erlebt eine Katastrophe. Auch in Irpin, Charkiw, Cherson und an vielen, vielen anderen großen und kleinen Orten besteht eine dramatische Notlage. Die Menschen brauchen Hilfe - schnell und ohne Gefahr von neuen Angriffen. Sie müssen wenigstens die umkämpften Orte auf sicheren Wegen verlassen können.

(Beifall im ganzen Hause)

Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer sind geflohen. Tausende suchen jeden Tag Zuflucht auch in unserem Land. Viele Menschen in den Nachbarländern der Ukraine und auch in Deutschland helfen, wo sie können, sammeln Spenden, organisieren Hilfslieferungen, kümmern sich um die Kriegsflüchtlinge. Sie spüren, dass neben menschlicher Solidarität eine entschlossene Politik notwendig ist. Putin hat mit seinem Krieg auch unsere Friedensordnung angegriffen.

Herr Präsident, lieber Wolodymyr Selenskyj, wir können Sie sehen. Ihr Land hat sich für die Demokratie entschieden, und genau das fürchtet Wladimir Putin. Er versucht, Ihrem Land eine eigene Geschichte, eine Identität, ein Existenzrecht abzusprechen. Doch damit ist er schon jetzt gescheitert.

(Beifall im ganzen Hause)

Die Ukrainerinnen und Ukrainer sind geeinter und entschlossener als je zuvor. Sie zeigen jeden Tag, wie stark ihr Freiheitswille ist.

Ich sage das auch ganz persönlich, Herr Präsident: Als jemand, der in der DDR aufgewachsen ist und Teil der Friedlichen Revolution war, weiß ich, dass Freiheit ein Geschenk ist und doch immer wieder erkämpft werden muss.

2004 durfte ich auf dem Maidan sprechen, als Hunderttausende für Demokratie in Ihrem Land demonstriert haben. Ein Satz der Demonstrantinnen und Demonstranten von damals hat sich mir eingebrannt: „Разом нас багато, нас не подолати.“ - Zusammen sind wir viele, wir sind nicht zu besiegen.

Der Weg, den die Ukraine beschritten hat, war nicht leicht; aber er war konsequent, er war demokratisch, europäisch, so wie auch Ihre Wahl zum Präsidenten dieses wunderbar stolzen Landes.

Herr Präsident, lieber Wolodymyr Selenskyj, die Welt steht der Ukraine bei. Deutschland steht an Ihrer Seite. - Sie haben das Wort.

(Beifall im ganzen Hause)

Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, Katrin Göring-Eckardt:

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich denke, ich sage im Namen unseres gesamten Hauses herzlichen Dank für diese eindringlichen Worte. Der Krieg muss aufhören! Ich bin sehr dankbar, dass die Parlamentspräsidentinnen und Parlamentspräsidenten der G-7-Staaten und des Europäischen Parlaments ein starkes Zeichen des Zusammenhalts und der Solidarität mit der Ukraine gesetzt haben.

Wir haben uns gestern mit unserem Freund Ruslan Stefantschuk, dem Parlamentspräsidenten der Ukraine, ausgetauscht. Auch er hat sehr eindringliche Worte an uns gerichtet. In der Sitzung, in der ich Bärbel Bas vertreten habe, wurde eine gemeinsame Erklärung verabschiedet. Wir betonen darin nachdrücklich die Souveränität der Ukraine. Wir bekennen, dass wir Seite an Seite stehen mit der ukrainischen Werchowna Rada und ihren frei gewählten Abgeordneten, unseren Kolleginnen und Kollegen, die wir von hier aus ausdrücklich grüßen, die ihre Arbeit im Parlament unter diesen Bedingungen weiterführen.

(Beifall im ganzen Hause)

Das ukrainische Volk und die demokratisch gewählte Regierung finden unsere volle Unterstützung, so wie auch die mutigen Russinnen und Russen, die in ihrem Land für freie Berichterstattung sorgen und für ein Ende des Krieges eintreten.

(Beifall im ganzen Hause)

Meine Damen und Herren, die Parlamente der G 7 bekennen sich zu ihrer Verantwortung, Menschen zu helfen, die vor dem Krieg aus der Ukraine fliehen, sie aufzunehmen und den Staaten beizustehen, die als Nachbarländer eine besondere humanitäre Aufgabe zu erfüllen haben. Gestern haben wir hier bereits darüber debattiert.

Wir werden das heute noch einmal tun im Zusammenhang mit der Republik Moldau, aber auch mit unserem Nachbarland Polen. Deswegen freue ich mich, dass auf der Tribüne der stellvertretende Außenminister der Republik Polen Platz genommen hat, Herr Minister Szynkowski vel Sęk.

(Beifall im ganzen Hause)

Ihr Land leistet Großes in diesen Tagen, und wir haben enormen Respekt davor.

(Beifall im ganzen Hause)

Meine Damen und Herren, mir bleibt nur noch, zu sagen - und Herr Melnyk, ich bitte Sie herzlich, dies Ihrem Präsidenten noch einmal auszurichten -: Дякую Вам! Herzlichen Dank! Слава Українi!

(Beifall im ganzen Hause)

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30.04.2022 | Parlament

Rede von Bundestagspräsidentin Bärbel Bas zum Thema „Demokratiebildung ein Auftrag für Schule und Gesellschaft“ beim Teachers Day der Ruhr-Universität Bochum

[Es gilt das gesprochene Wort]

Sehr geehrter Herr Professor Paul,
sehr geehrte Frau Professorin Bellenberg,
sehr geehrter Herr Professor Rothstein,
lieber Kollege in der Beek, 
sehr geehrte Frau Bürgermeisterin Demir,
meine Damen und Herren, 

vielen Dank für Ihre Einladung zum Teachers‘ Day und die freundliche Begrüßung.

Vor meiner Wahl zur Bundestagspräsidentin war ich als stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende u.a. für Bildung und Forschung zuständig. 

Und auch durch meinen persönlichen Bildungsweg kann ich hoffentlich einen kleinen Beitrag leisten, damit Sie aus diesem Teachers‘ Day noch inspirierter und motivierter herausgehen.  

Die Qualität unseres Bildungssystems steht und fällt mit der Inspiration, der Motivation und dem Engagement der Lehrkräfte. Umso mehr freue ich mich über offensichtlich engagierte Lehrkräfte wie Sie. Es ist keine Selbstverständlichkeit an einem Samstag im Frühjahr  zu einem Informationstag zusammen zu kommen. Vielen Dank.  

Meine Damen und Herren, 
wir im Deutschen Bundestag wissen, wie hart Ihre Einsatzbereitschaft allein in den vergangenen zwei Jahren auf die Probe gestellt wurde. 

Erst hat die Pandemie unser Leben auf den Kopf gestellt. Und jetzt das Unvorstellbare: ein Krieg mitten in Europa! 

Es geht um Europas Zukunft. Die junge Generation soll in Frieden und Sicherheit leben können – so wie meine und Ihre Generationen das bis vor kurzem für selbstverständlich gehalten hatten. Darum müssen wir jetzt alles Verantwortbare tun, um der Ukraine zu helfen. 

Zwei Drittel der ukrainischen Kinder sind geflohen. Viele auch zu uns nach Deutschland und ins Ruhrgebiet. Die Weltpolitik ist erneut im Klassenzimmer angekommen – und stellt die Lehrkräfte vor pädagogische und psychologische Herausforderungen. Die geflüchteten Kinder haben Schlimmes erlebt und leiden oft unter Traumata. Die Schulen darf man damit nicht alleinlassen, sie brauchen professionelle Unterstützung. 
Die geflüchteten Kinder und Jugendlichen brauchen einen geregelten Schulalltag. Der Umgang mit Gleichaltrigen hilft ihnen, das Erlebte hinter sich zu lassen und in Deutschland anzukommen. Junge Ukrainer brauchen auch eine Perspektive in ihrem Heimatland. Gleichzeitig müssen wir davon ausgehen, dass viele hierbleiben werden. Ein Spagat für die Bildungspolitik. 

Wo immer es sich machen lässt, sollten wir den Schülerinnen und Schülern einen ukrainischen Schulabschluss und bei Bedarf im Anschluss eine unbürokratische Brücke zur weiterführenden Ausbildung oder zum Studium ermöglichen. Einige Schulen arbeiten bereits mit ukrainisch-sprachigen Lehrkräften zusammen oder nutzen ukrainische Onlineangebote. Das ist genau der Pragmatismus, der jetzt gefragt ist.

Alle Kinder sind von den Nachrichten aus der Ukraine aufgewühlt. 
Warum gibt es überhaupt Krieg? 
Was, wenn der Krieg zu uns kommt? 
Wie kann es wieder Frieden geben? 
Mit diesen Fragen sind sicherlich viele von Ihnen im Klassenzimmer konfrontiert. 

Es fällt nicht leicht, auf diese einfachen Fragen altersgerechte Antworten zu geben. Zumal auch heikle Situation entstehen: Etwa wenn Familien eigene Kriegserfahrungen gemacht haben. Oder wenn ukrainisch- und russisch-stämmige Schülerinnen und Schüler zusammentreffen. 
Trotzdem – oder vielmehr gerade deswegen – ist es wichtig, den Ängsten und Fragen der Kinder und Jugendlichen Raum zu geben. 

Von Ihnen verlangt das viel Sensibilität und Kraft. 
Im Idealfall können wir das Thema aber auch als eine Chance für die Demokratiebildung begreifen: Der russische Angriffskrieg in der Ukraine zeigt, wie elementar verbindliche Regeln für menschliche Gemeinschaften sind.

Meine Damen und Herren, 
die Krisen der vergangenen Jahre haben nicht nur den Jugendlichen, sondern auch den Lehrkräften viel zugemutet. 

Es ist nicht lange her, dass die Schulen schon einmal viele geflüchtete Kinder und Jugendliche integriert haben. Dann kam Corona, Distanzlernen, Wechselunterricht, die Angst der Eltern, dass ihre Kinder zu Bildungsverlierern werden. Die Pandemie hat offengelegt, dass es an vielem fehlt: an W-LAN-Anschlüssen und technischer Ausstattung. Und oft auch an Know-How. 
Die Digitalisierung ist erst in zweiter Linie eine Frage der Technik. Die größere Herausforderung ist das Umdenken in unseren Köpfen. Die neuen Möglichkeiten müssen sinnvoll genutzt werden. Die Digitalisierung kann den Unterricht verändern, ihn interaktiver, differenzierter, individualisierter machen. 

Sie hören es schon: Ich sehe in der digitalen Bildung eine große Chance für die Didaktik. 

Das Wichtigste aber bleibt die Beziehung zwischen den Lehrkräften und ihren Schülerinnen und Schülern. Die Erfahrungen aus der Pandemie zeigen: Diese Beziehung leidet, wenn sie auf Dauer nur über den Bildschirm stattfindet. Der erzwungene Abstand war unvermeidlich, aber leider auch schädlich – gerade für die Kinder und Jugendlichen, die auf Unterstützung durch die Schule angewiesen sind. 

Jetzt kommt es darauf an, die Lernlücken so gut es geht zu schließen und Kinder zu stärken, die unter der Pandemie und den Lockdowns gelitten haben. Bildungspolitik und Schulverwaltungen müssen beweisen, was sie in der Pandemie von den Lehrkräften und der Schülerschaft verlangt haben: Flexibilität, Pragmatismus, Tatkraft. 

Das ist eine Frage der sozialen Gerechtigkeit. Corona hat die größte Schwäche unseres Bildungssystems weiter verschlimmert: Der Erfolg in der Schule hängt vom Elternhaus ab, mehr als in anderen europäischen Ländern. Unser Bildungssystem ist nicht durchlässig genug. Aufstieg durch Bildung gibt es bei uns leider viel zu selten. 

Das ist bitter. Es hat viel mit dem Schubladendenken zu tun, dem wir anhängen. Meine eigene Geschichte macht mir das bewusst. 

Meine Damen und Herren, 
wie Sie sicher wissen, steht eine Hauptschülerin heute vor Ihnen. 

Na und?! - Das wäre die Reaktion, die ich mir wünschen würde. 
Tatsächlich reagieren die meisten Menschen mit Erstaunen. Eine Hauptschülerin als zweite Frau im Staat?! 

Es ist in unserem Land immer noch eine Ausnahme, dass jemand ohne Studium oder gar ohne Abitur ein hohes Amt ausübt. Da muss sich etwas ändern: in unserem Bildungssystem und in unseren Köpfen. 

Ich bekomme viele Zuschriften von Hauptschülerinnen und Hauptschülern und höre bei meinen Gesprächen mit Schulklassen in Berlin oder in meinem Duisburger Wahlkreis immer wieder die Frage: Frau Bas, wie haben Sie das geschafft? 
Ich spüre dann, dass sich die Kinder als „Loser“ fühlen. Um es in der Jugendsprache auszudrücken. Das macht mich wütend. So etwas dürfen wir nicht zulassen. Deutschland hat die Mittel, ein Land der Chancen für alle zu sein. Unser Anspruch sollte sein, dass ein Bildungsaufstieg keine Ausnahme, sondern von Schule und Gesellschaft gewünscht ist und nach Kräften gefördert wird. 

Den Jugendlichen antworte ich: Bleibt dran, begeistert Euch, bildet Euch weiter. So habe ich es auch getan.

Aus eigener Erfahrung weiß ich allerdings, dass es auch Menschen braucht, die an einen glauben, einem etwas zutrauen. Im Idealfall sind das die eigenen Eltern. Doch auch Lehrerinnen und Lehrern können eine entscheidende Rolle spielen, wenn sie Kindern vertrauen, ihr Potenzial erkennen und ihre Stärken fördern. 

Deshalb möchte ich Sie darin bestätigen, dass Sie genau hinschauen. Sie können für viele Kinder mit schlummernden Talenten die Brücke zum Bildungsaufstieg sein.  

Dafür brauchen Sie als Lehrkräfte natürlich gute Bedingungen. Daran fehlt es, das wissen wir auch im Deutschen Bundestag. 

Ich ziehe mich jetzt nicht mit dem Hinweis aus der Verantwortung, dass für die Bildung im deutschen Föderalismus leider die Länder zuständig sind. Auch der Bund ist gefragt und wir haben auch einiges angeschoben – etwa beim Digitalpakt Schule oder beim Ausbau der Ganztagsbetreuung.

Trotzdem: Fast in jedem Bundesland herrscht Lehrermangel. Das verstärkt die Ungerechtigkeit weiter. 
Die gut ausgebildeten Lehrkräfte fehlen oft gerade an den Schulen, wo die Schülerschaft sie am nötigsten hätte. Die Politik muss da gegensteuern. Alle Kinder haben das gleiche Recht auf gute Bildung. 

Meine Damen und Herren, 
Chancengerechtigkeit macht eine Gesellschaft stark und ist wichtig für das Vertrauen in die Demokratie. Die Shell-Jugendstudie hat gezeigt, dass das politische Engagement von der sozialen Herkunft abhängt. Und je nach Schulart schwankt. Zugespitzt könnte man die provokante These aufstellen, dass die Generation Greta überwiegend aus Gymnasiasten besteht. 

Die Shell-Studie vermittelt ein widersprüchliches Bild. Einerseits ist die heutige Jugend politischer und weltoffener als frühere Generationen. Fridays for Future demonstrieren weiter vor dem Reichstagsgebäude. Mittlerweile gekleidet in blau-gelb, den Farben der Ukraine. 
Diese Jugend ist eine Chance für unsere Demokratie. 

Andererseits finden zwei Drittel der Befragten, dass sich die Politik nicht ausreichend um sie kümmert. Das ist ein Auftrag an die Parteien. Sie müssen die Themen der Jugendlichen stärker bearbeiten. Sie sollten auch die Parteiarbeit mehr auf das mobile Leben junger Leute einstellen. 

Vor allem darf Politik die nicht vergessen, die auf keine Demonstration gehen und trotzdem Anliegen haben. Auch sie haben ein Recht auf Gehör. 

Im Bundestag beraten die Fraktionen derzeit über ein neues Wahlrecht. Zur Debatte steht auch der Vorschlag, das Wahlalter auf 16 Jahre zu senken. Dafür müsste das Grundgesetz geändert werden. Die nötige Zweidrittelmehrheit ist noch nicht absehbar. 

Unabhängig davon, ob sich eine Mehrheit findet: Ich persönlich bin überzeugt, dass die jungen Menschen dafür reif genug wären. Es wäre gut, ihnen schon frühzeitig politische Verantwortung zuzutrauen. 

Das setzt politische Bildungsarbeit voraus. Die jungen Leute müssen wissen, wie Wahlen funktionieren, wie aus ihren Stimmzetteln der Bundestag wird, was seine Präsidentin macht – und was sie vom Bundespräsidenten unterscheidet.

Der Ort des Geschehens ist immer ein guter Lernort. Daher möchte ich Ihnen unseren Deutschen Bundestag auch an dieser Stelle ans Herz legen. 

Sie sind mit Ihren Schülerinnen und Schülern immer herzlich willkommen. 

Neben den Besuchen von Schulklassen bieten der Bundestag und die Fraktionen spannende Jugendprogramme an, um beispielsweise in Planspielen den Weg der Gesetzgebung nachzuvollziehen. 

Auch hier gilt nach meiner Erfahrung leider, dass Bildung zu stark vom Elternhaus abhängt. Deshalb freue ich mich immer, wenn engagierte Lehrkräfte die Informationen über diese Programme weitergeben. Und ich freue mich natürlich auch, wenn Sie uns mit Kritik und Verbesserungsvorschlägen unterstützen. 

Es gibt natürlich viele Gründe, wieso sie nicht nach Berlin kommen können. Keine Frage, aber auch hier hätte ich Antworten:

Gehen Sie mit Ihren Schülerinnen und Schülern doch einmal auf unsere Bundestags-Website für Jugendliche: Mitmischen.de 
Oder laden Sie die Bundestagsabgeordneten aus dem Wahlkreis Ihrer Schule ein. 

Seit meinem Bundestagseinzug 2009 gehe ich proaktiv auf alle Schulklassen zu, die mich in Berlin besuchen und vereinbare Gegenbesuche. Kann ich nur empfehlen. 

Und keine Sorge: Hier muss ich meine Kolleginnen und Kollegen gar nicht auffordern, hier bin ich mir sicher: Alle Abgeordneten folgen gerne Ihrer Einladung, wenn es sich terminlich irgendwie vereinbaren lässt. 

Doch Demokratiebildung ist noch mehr. Demokratie lernt man, indem man sie lebt. Auch im Schulalltag. 
Es reicht nicht, einmal im Jahr die Schülersprecherin oder den Schülersprecher zu wählen. Selbst die PISA-Studie sieht das so. 

Sie hat festgestellt, dass deutsche Schülerinnen und Schüler – ich zitiere – „eher geringe Ambitionen haben, selbst aktiv zu werden.“ Dieses Urteil macht mir Sorge. 

Überraschend ist es nicht. Für viele Schülerinnen und Schüler ist es bequemer, Verantwortung abzugeben. Genauso wie für erwachsene Bürgerinnen und Bürger. 

Demokratie ist anstrengend. Man muss Kompromisse finden, Widerspruch aushalten und seine Argumente klug formulieren. Es ist einfacher, gegen „die Lehrer“ zu sein. Oder gegen „die da oben“. Populisten machen sich diese Haltung zunutze. Auch sie sind lieber gegen etwas: gegen Migranten, gegen die EU, gegen das System, in dem man angeblich nicht mehr seine Meinung sagen darf. Junge Menschen müssen lernen: Nur wer mitmacht, redet mit. 

In einer Demokratie entscheiden wir alle gemeinsam. Das will gelernt sein. Nur wenn die Schule Raum für Kritik und eigene Ideen lässt, fördert sie kritische Bürgerinnen und Bürger, die bereit sind, Verantwortung zu übernehmen. 

Was für Schulessen gibt es? 
Wie lange sind die Pausen? 
Wie viel Smartphone darf in der Schule sein? 
Und wie können wir den Unterricht mitgestalten? Wenn die Schülerinnen und Schüler spüren, dass sie etwas bewegen können – dann ist das die beste Schule der Demokratie. 

Ich weiß, dass viele von Ihnen das praktizieren. Mir gefällt die Idee, dass schon Grundschülerinnen und Grundschüler den „Klassenrat“ einmal pro Woche im Stundenplan fest verankert haben. 

Kinder und Jugendliche müssen in der Schule Zeit und Raum bekommen, gesellschaftliche Fragen zu diskutieren und sich über die aktuelle Politik auszutauschen. Zum Beispiel über den Krieg in der Ukraine, den Klimawandel oder die Zukunft unserer sozialen Sicherungssysteme. Oder die Bildungspolitik in Deutschland.

Die ökonomische Perspektive ist dabei wichtig. Sie muss aber selbstverständlich eingebettet sein in das mehrdimensionale Bild gesellschaftlicher Zusammenhänge. Unseren Kindern und Jugendlichen sollten wir einen Weltzugang ermöglichen, der alle  sozialwissenschaftlichen Disziplinen einbezieht. 
Dafür gibt es das Fach Sozialwissenschaften. 

Von der Schulpolitik wird es leider oft stiefmütterlich behandelt. Grundsätzlich in Frage gestellt. Oder sogar abgeschafft. Damit tut sich unser Land keinen Gefallen. 
Wir brauchen mehr statt weniger sozialwissenschaftliche Bildung. Ganz besonders in diesen Zeiten wachsender Herausforderungen in der Bildungsarbeit gegen Antisemitismus, Rassismus oder Populismus. 

Deshalb betone ich ausdrücklich: Wir müssen das Fach Sozialwissenschaften nach dem 15. Mai in bewährter Form wieder einführen. 

Am vergangenen Wochenende haben wir alle gespannt auf die Präsidentschaftswahlen in Frankreich geschaut. Erschreckend viele junge Franzosen haben für Populisten gestimmt. Das muss uns ein Weckruf sein. Auch bei deutschen Jugendlichen ihnen fallen Sätze wie: „Wir leben in einer Corona-Diktatur.“ Oft geben sie wieder, was sie sie zu Hause hören. 

Für Lehrkräfte ist der Umgang damit schwierig. Sie können nicht einfach sagen: „Was eure Eltern erzählen, ist falsch.“ Aus guten Gründen gibt es den Beutelsbacher Konsens: Lehrkräfte dürfen nicht im Unterricht für eine Partei oder ein Anliegen werben. Sie dürfen ihre Schülerinnen und Schüler nicht überwältigen. Aber müssen sie neutral sein? 

Nein. Wenn es um die Werte des Grundgesetzes geht, dann dürfen Lehrkräfte nicht neutral bleiben. Es ist ihre Aufgabe, die Demokratie selbstbewusst zu vertreten. 

Und ich möchte Sie ausdrücklich ermutigen, Ihre Schülerinnen und Schüler zum Wählen aufzurufen – zum Beispiel zur NRW-Landtagswahl in zwei Wochen.  

Meine Damen und Herren, 
70 Stunden verbringen 16-bis 18-Jährige in der Woche im Internet, hat eine Studie der Postbank herausgefunden. Dieses Ergebnis hat sicherlich auch etwas mit der Pandemie zu tun. Aber es kann keinen Zweifel geben: Jugendliche leben zu einem großen Teil online. Und in sozialen Netzwerken wie Instagram, Snapchat oder TikTok. 

Gerade weil die Plattformen harmlos wirken, sind sie ideal für Manipulationen. Putins Propagandasender Russia Today zum Beispiel nutzt gezielt TikTok, um seine Lügen zu verbreiten. Vielen Jugendlichen fehlt es an einem kritischen Blick dafür. Sie fühlen sich im Internet zu Hause – und Eltern und Lehrkräften überlegen. Schließlich wissen die oft nicht einmal, was TikTok überhaupt ist. 

Die Schule darf diese Probleme nicht ignorieren. Die Jugendlichen brauchen ein Bewusstsein für die Gefahren im Internet. Darum finde ich es wichtig, Smartphones nicht aus der Schule zu verbannen, sondern sie bewusst einzubinden. Natürlich nach Regeln. Am besten nach Regeln, die zuvor gemeinsam vereinbart wurden. 

Es ist eine schwierige Frage: Wie begegnet man Verschwörungserzählungen? Oder schlimmer: Wie reagiert man auf Extremismus und Rassismus – online oder im Klassenzimmer? Was tun, wenn auf dem Schulhof Schimpfwörter fallen wie „Du Jude“?

Ich bin am Donnerstagabend von einem Besuch in Israel zurückgekommen. Ich durfte dort gemeinsam mit meinem israelischen Amtskollegen den dortigen Gedenktag für die Opfer der Shoa begehen. 
In den Gesprächen war auch der Antisemitismus auf deutschen Schulhöfen ein Thema, das uns auf beiden Seiten sehr besorgt. 

Auf keinen Fall dürfen wir wegsehen oder verharmlosen! Das Wichtigste ist: Rassismus, Antisemitismus und Extremismus ernst nehmen, thematisieren und sich  Hilfe holen. 

Das nimmt auch die Schulverwaltung und die Bildungspolitik in die Pflicht: Sie müssen die Lehrkräfte unterstützen und für unkomplizierte Hilfsangebote sorgen. Nach meinen Eindruck fehlt es daran noch zu oft. 

Umso mehr freut es mich, dass der Teachers‘ Day das Problem erkannt hat. Im heutigen Fortbildungsprogramm gibt es ein Seminar, das sich dem wichtigen Thema Antisemitismus an Schulen widmet. 
An den Schulen entscheidet sich unser Zusammenhalt – nicht nur, aber doch zu einem wichtigen Teil. Für Sie als Pädagoginnen und Pädagogen bedeutet das eine große Verantwortung. In internationalen Bildungsvergleichen fällt auf, dass die Staaten mit guten Ergebnissen oft eins gemeinsam haben: Sie vertrauen den Lehrkräften. Und schätzen ihre Arbeit. Umgekehrt darf die Gesellschaft auch etwas von Lehrkräften verlangen: die Bereitschaft, das eigene Tun zu reflektieren, sich fortzubilden, Neues auszuprobieren und von den Erfolgen anderer zu lernen. So wie Sie es heute beim Teachers‘ Day tun.

Meine Damen und Herren, 
zu den Privilegien meines Amts gehört es, viele interessante Menschen zu treffen. Eine beeindruckende Begegnung hatte ich vor kurzem mit der Holocaust-Überlebenden Margot Friedländer. 

Sie überlebte als Kind das KZ Theresienstadt und emigrierte nach dem Krieg in die USA. Im hohen Alter ist sie nach Deutschland zurückgekehrt. Aber der wachsende Antisemitismus bereitet ihr Sorgen. „An den Schulen muss mehr getan werden“, mahnt sie. Und geht selbst voran. Obwohl sie schon 100 Jahre alt ist, berichtet sie Schülerinnen und Schülern von ihren Erfahrungen als Jüdin während des Nationalsozialismus. 

Ein Appell liegt ihr besonders am Herzen. Er ist mir im Gedächtnis geblieben: „Es gibt kein christliches, kein jüdisches, kein muslimisches Blut, es gibt nur menschliches Blut. Wir sind alle gleich. Was war, war – wir können es nicht mehr ändern. Es darf nur nie, nie wieder geschehen.“

Wir heutigen Deutschen schulden ihr, alles zu tun, um ihre Vision von einem Miteinander zu verwirklichen. 
Hier bei uns zu Hause. Und natürlich auch in unserer europäischen Nachbarschaft. In diesen Wochen ganz besonders: in der Ukraine. 

Die Schulen sind Abbild der Gesellschaft. Sie könne nicht alle Probleme lösen. Aber wenn unser Land genug Willen, genug Kraft – und ja, auch genug Geld – aufbringt, können Schulen ein Ort des friedlichen Miteinanders sein. Ein Ort mit engagierten Menschen, die den Kindern und Jugendlichen etwas zutrauen, sie bestärken und wachsen lassen. Und so die Gesellschaft zum Besseren verändern. 

Ein Brandenburger Bildungsminister hat vor einigen Jahren auf die Abiturzeugnisse eine Zeile aus einem Song der Band „Die Ärzte“ drucken lassen. 

„Es ist nicht deine Schuld, dass die Welt ist wie sie ist
Es wär' nur deine Schuld, wenn sie so bleibt.“ 

Mit dieser Einstellung sollten wir alle Jugendlichen aus der Schule entlassen. 

Auch Schülerinnen und Schüler ohne Abitur  können die Welt verändern … im Großen wie im Kleinen.

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26.05.2022 | Parlament

Rede von Bundestagspräsidentin Bärbel Bas bei der Kundgebung auf dem Aachener Katschhof im Anschluss an die Verleihung des Karlspreises

[Es gilt das gesprochene Wort]

Präsidentin Metsola!

Liebe Swetlana Tichanowskaja!

liebe Veronica Tsepkalo!

liebe Tatsiana Khomich!

Liebe Europäerinnen und Europäer!

heute ist ein großer Tag für die Frauen von Belarus! Und für die Demokratie in Europa!

Ich gratuliere Ihnen von ganzem Herzen – und natürlich auch Ihrer Mitstreiterin und Schwester Maria Kalesnikava, die heute leider nicht bei uns sein kann.

Am 25. April waren Sie zum Gespräch bei mir im Deutschen Bundestag. Ich war und bin tief beeindruckt von Ihrer Geschichte. Von Ihrer Kraft. Von Ihrer Unerschrockenheit.

Der Karlspreis zeichnet Ihren persönlichen Einsatz aus. Er gilt ebenso den vielen mutigen Frauen und auch Männern von Belarus, die vor zwei Jahren wochenlang gegen die Diktatur auf die Straßen gegangen sind. Und der ganzen Welt gezeigt haben, wie lebendig der Wille zu Demokratie und Freiheit in Belarus ist.

Liebe Europäerinnen und Europäer!

In diesen Monaten sind wir alle in Gedanken in der Ukraine. Bei den Menschen, die sich gegen den brutalen russischen Angriff wehren. Die für Freiheit und Demokratie kämpfen und täglich ihr Leben riskieren.

Der Karlspreis mahnt uns: Gerade angesichts des furchtbaren Krieges in der Ukraine dürfen wir Belarus nicht vergessen. Von den Straßen sind die Belarussen vertrieben worden. Im Untergrund, im Internet und auch hier in Aachen geht ihr Kampf aber weiter.

Die Menschen in Belarus wollen ihr Schicksal in die eigene Hand nehmen. Sie leben europäische Werte und zählen auf Europas Unterstützung. 

Maria, Swetlana und Veronica erinnern uns, wofür Europa steht. Sie sprechen nicht von Feinden, sondern von Respekt. Ihre wahre Stärke ist der Verzicht auf Gewalt.

Ihr Beispiel machte den Belarussinnen Mut, sich Lukaschenkos Polizisten entgegenzustellen. Blumen an ihre Schilde zu stecken. Sie zu umarmen. Wahre Stärke zu zeigen.

Lukaschenko ließ die Proteste niederprügeln. Doch vor aller Welt musste er seine Schwäche eingestehen: Er hat Angst vor den Frauen von Belarus. Angst vor der Demokratie und der Freiheit.

Darum hat er Swetlana, Veronica und viele andere Oppositionelle ins Exil vertrieben. Maria Kalesnikava blieb im Land, auch um den Preis ihrer Verhaftung. Aus dem Gefängnis konnte sie einen Brief an ihren Vater schicken. Ich zitiere: „Es lohnt sich, für die Freiheit zu kämpfen.

Ich wünschte, sie könnte heute bei uns in Aachen sein und den Karlspreis entgegennehmen. Maria muss freikommen!

Alle Europäer sollten ihre Worte hören: Es lohnt sich, für die Freiheit zu kämpfen.

Es ist ein Kampf für europäische Werte. Er geht uns alle an – hier in Aachen und überall in Europa. Das ist die Botschaft dieses Karlspreises.

Liebe Europäerinnen und Europäer!

Die Demokratiegeschichte Europas kennt viele Helden:

Männer, die Widerstand leisten.

Männer auf Barrikaden.

Männer an der Spitze einer revolutionären Bewegung.

Die Frauen blieben allzu oft unsichtbar. Oder die Geschichte hat sie vergessen. Auch wenn sie treibende Kräfte wahren.

Belarus ist ein junges Kapitel europäischer Demokratiegeschichte. Aber schon jetzt steht fest: Dieses Kapitel haben Frauen geschrieben.

Lukaschenko hat sie verspottet. Weil sie Frauen waren.

Sie aber kämpfen nicht gegeneinander, sondern miteinander. Vielleicht weil sie Frauen sind.

Sie sind Europas Heldinnen der Demokratie.

Wie diese Demokratiegeschichte ausgeht, liegt in der Hand der Belarussen. Es ist unsere Pflicht, denen beizustehen, die Europas Geschichte von Demokratie und Freiheit weiterschreiben.

Als Putin die Ukraine überfallen hat, hat er auch Europas Einheit angegriffen. Diesen Krieg hat er schon jetzt verloren.

Lukaschenko und Putin halten Europa für schwach. Schon lange versuchen sie, uns zu spalten. Ich bin überzeugt: Sie haben sich getäuscht.

Europa ist so entschlossen und geschlossen wie lange nicht mehr.

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18.06.2022 | Parlament

Rede von Bundestagspräsidentin Bärbel Bas bei der Sommertagung des Politischen Clubs der Evangelischen Akademie in Tutzing

[Es gilt das gesprochene Wort]

Sehr geehrter Herr Hahn (Hausherr als Direktor der Evangelischen Akademie Tutzing),

Lieber Dr. Wolfgang Thierse (Bundestagspräsident a.D., Leiter des Politischen Clubs der Akademie)

  • Ggf. anwesend: Sehr geehrter Herr Prof. Harbarth,

Sehr geehrter Herr Prof. Heuss, (Vorsitzender der Theodor Heuss Stiftung - Kooperationspartner)

Sehr geehrte Damen und Herren,

75 Jahre wird die Evangelische Akademie in Tutzing in diesem Jahr alt. Sie ist älter als die Bundesrepublik Deutschland.

Und Sie war von Anfang eine engagierte Begleiterin unserer Demokratie.

Ich gratuliere herzlich zu diesem Jubiläum!

Hier in Tutzing wurde Demokratiegeschichte geschrieben. Und in ihrer Geschichte hatte die Demokratie – nicht nur unsere! – einen beständigen Begleiter: Den Zweifel.

Zweifel an ihrer Leistungsfähigkeit.

Zweifel an ihrer Wandlungsfähigkeit.

Zweifel an ihrer Zukunft.

Das ist erstmal nichts Schlechtes.

Demokratie zeichnet aus, dass sie Zweifel zulässt. Dass es möglich ist, Kritik und Sorgen frei zu äußern. Dass sie die Rechte von Mehrheiten und Minderheiten wahrt.

Darin liegt unsere Freiheit. Das macht sie so schützenswert.

Umso wichtiger ist, dass wir die Zukunft der Demokratie im Blick haben, ohne die Vergangenheit aus dem Auge zu verlieren.

In der Geschichte der Demokratie gab es zahlreiche Abgesänge auf diese Staatsform.

Es gab Fehlentwicklungen und Rückschläge.

Gerade in Deutschland hat es lange gedauert, bis wir von einer „geglückten Demokratie“ sprechen konnten.

Aber die Demokratie lebt.

Sie hat sich immer wieder neu erfunden, weiterentwickelt und modernisiert.

Sie hat die Gewaltenteilung und die Herrschaft des Rechts verinnerlicht.

Sie schützt die Menschenrechte und sorgt für sozialen Ausgleich und Mitbestimmung.

Sie lebt.

In Deutschland als wehrhafte Demokratie, mit einer starken Verfassung als Basis.

Einem Grundgesetz, das wichtige Lehren gezogen hat aus der wechselvollen Geschichte unseres Landes.

Ja – unsere Demokratie lebt und hat sich als robust erwiesen.

Trotzdem könnte sie noch lebendiger sein.

Ich glaube: Sie muss noch vitaler werden, um unserer Zeit gewachsen zu sein.

Global betrachtet durchlebt die Demokratie eine Schwächephase. Laut dem Demokratie-Index der Economist-Gruppe lebten 2021 nur noch knapp 46 Prozent der Weltbevölkerung in einer Demokratie.

Ein ähnliches Bild zeichnet der Bertelsmann Transformations-Index. In diesem Jahr verzeichnet er erstmals mehr Autokratien – nämlich 70 gegenüber 67 demokratisch legitimierten Regierungen.

Diese Entwicklung muss uns Sorgen machen. Selbstverständlich ist die Demokratie trotzdem zukunftsfähig.

Um an Paul Noack, den früheren Leiter des politischen Clubs der Evangelischen Akademie, anzuknüpfen: „Demokratie ist das, was Demokraten daraus machen.“

Als Noack diese Worte Ende der 1970er Jahre formulierte, wirkte der neue demokratische Aufbruch noch kräftig nach.  

Die 68er-Bewegung konfrontierte die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft mit ihren Lebenslügen,

stellte Konventionen in Frage, stritt für Freiräume und Mitsprache. Mit der Losung „Wir wollen mehr Demokratie wagen“ hatte Willy Brandt das Leitmotiv des Wandels gesetzt.

Knapp zehn Jahre später stand das Land aber unter dem Eindruck von Ölpreisschock und Wirtschaftskrise. Der gesellschaftliche Protest hatte sich radikalisiert – und zu den Terrortaten des Deutschen Herbstes geführt. Diese Zeit war eine schwierige Bewährungsprobe für unser Land und seine demokratischen Institutionen.

Die Demokratie in Deutschland hat seither weiter ihren Weg gemacht. Der Freiheitswille der Menschen siegte in der friedlichen Revolution über die Diktatur - und führte zur Deutschen Einheit. Aus der Bonner wurde die Berliner Republik.

Im Wettbewerb steht unsere Demokratie trotzdem noch immer. Und dieser Wettbewerb ist hart. Die Demokratie muss ihre Leistungsfähigkeit beweisen - heute dringender denn je. Im innerdemokratischen Vergleich, vor allem aber gegenüber autoritären Systemen auf der ganzen Welt.

Es ist noch nicht lange her, da haben viele voller Bewunderung nach China geblickt. Wegen seiner wirtschaftlichen Dynamik und seiner Fähigkeit, erfolgreiche Großprojekte umzusetzen. Um den Preis einer Politik, die Wohlstand verspricht, um Freiheit zu unterdrücken.

Ja, in China schafft man es, in Rekordzeit hochmoderne Städte aus dem Boden zu stampfen. Doch es hat sich gezeigt: In Rekordzeit können sich diese Städte aber auch in regelrechte Gefängnisse verwandeln. Und das nur, weil das Regime in Peking mit seiner Corona-Politik gescheitert ist. Auch in diesem Fall wollte man angesichts blendender Wachstumsbilanzen vieles nicht sehen.

Wir haben wieder Krieg in Europa. Wir haben die Entwicklung dorthin unterschätzt. Haben zu lange weggesehen. Und Fehler im Umgang mit Russland gemacht.

Dazu gehört, dass wir in der demokratischen Debatte vielleicht zu viel Harmonie gesucht haben. Wir haben zu wenig Streit gewagt. In Deutschland haben wir zu lange über Russlands autoritäre Entwicklung im Innern wie im Äußeren diskutiert.

Rote Linien hat Russland seit Jahren überschritten– im Georgienkrieg 2008, bei der Besetzung der Krim 2014, bei Russlands Eingreifen in den Syrienkrieg 2015. Russland hat immer wieder gezeigt, dass es keine Demokratie und kein Partner ist.

Sehr geehrte Damen und Herren,

in der Ukraine kämpft aktuell ein Land ums Überleben, das sich für Freiheit und Demokratie in Europa entschieden hat. Der Kampf um die Zukunft der Ukraine ist auch ein Kampf um unsere Werte. Um unsere freiheitliche Art zu leben. Beide sind akut bedroht. Davor dürfen wir nicht die Augen verschließen.

Der russische Angriffskrieg hat viele von uns aufgerüttelt. Wir mussten vermeintliche Gewissheiten hinter uns lassen. Wir müssen neu nachdenken, wie wir wieder zu einer stabilen Sicherheitsordnung kommen. Für uns als Nation und gemeinsam mit unseren Partnern in Europa und der Welt.

Aber wir müssen nicht nur unsere Sicherheitspolitik neu denken. Neu nachzudenken gilt es auch über die Risiken globaler Lieferketten. Über die Nachhaltigkeit unseres Wirtschaftsmodells. Über unsere Verletzlichkeit – nicht nur ökonomisch.

Der jüngste Bericht des Stockholmer Instituts für internationale Friedensforschung (SIPRI) zeichnet ein düsteres Bild: Wir stehen vor einer Zwillingskrise, in der Sicherheits- und der Umweltpolitik: Unser Lebensstil hat dem ökologischen Gleichgewicht unseres Planeten massiv geschadet.

Immer schneller fallen die Auswirkungen dieses Raubbaus auf uns zurück. Klimawandel und Ernteschäden verschärfen Krisen und Konflikte – rund um den Globus. Armut, Hunger und Gewalt treiben die Menschen in die Flucht. Die ohnehin zerbrechliche Sicherheitslage unserer Welt bekommt weitere Risse.

Und ich zitiere: Die „[…]Institutionen mit der Macht, Lösungen zu finden, einschließlich Regierungen, wachen viel zu langsam auf.“ Diese Warnung aus Stockholm ist unmissverständlich.

Wir brauchen dringend Lösungen.

Die Demokratien dieser Welt sind gefordert. Krisenbewältigung im Notfallmodus ist wichtig.

Aber um die Probleme des Planeten in den Griff zu bekommen, braucht es langfristige Konzepte, schmerzhafte Anpassungen, grenzüberschreitenden Wandel. Eine „große Transformation“.

Wenn Demokratien nur als Getriebene erscheinen und sich auf das Reagieren beschränken, dann kann diese Transformation nicht gelingen.

Politik muss ihrem Anspruch gerecht werden, gestalten zu wollen und gestalten zu können.

Sie braucht Zeit.

Wir müssen die Menschen von einer Politik überzeugen, die über die aktuelle Krise hinausdenkt. Ihnen deutlich machen: Wenn wir heute Zumutungen auf uns nehmen, werden wir in der Zukunft umso stärker profitieren. Daran entscheidet sich, ob unsere Zivilisation bestehen kann. Um nicht weniger geht es.

Diese Überzeugungsarbeit ist Schwerstarbeit. Auch für die Politik in Deutschland.

In der Demokratie entscheiden die Menschen selbst über die Vergabe politischer Macht. Das verleiht Demokratien ihren „Legitimationsvorsprung“.

Demokratische Politik muss sich gegenüber der Öffentlichkeit rechtfertigen. Umso problematischer ist es, wenn in der Bevölkerung Vertrauen verloren geht.

In Westdeutschland findet beinahe ein Drittel (28%) der Befragten: Sie lebten in einer Scheindemokratie, in der die Bürger nichts zu sagen haben.

In Ostdeutschland ist es fast die Hälfte (45%). So das Ergebnis einer Befragung des Allensbach-Instituts im Auftrag des SWR. Durchgeführt im Februar 2022.

Natürlich sind solche Befragungen Momentaufnahmen, ihre Aussagekraft ist begrenzt. Aber das Ergebnis fügt sich in ein beunruhigendes Gesamtbild ein: Es ist etwas nicht in Ordnung zwischen den Bürgerinnen und Bürgern und ihrem demokratischen System -- also seinen Institutionen und Repräsentanten.

Die Demokratie steht vor einer doppelten Entfremdung.

Das Bild der demokratischen Praxis entfremdet sich vom demokratischen Ideal.

Die Bürgerinnen und Bürger wenden sich von ihren demokratischen Institutionen ab.

Beides zusammen sehen Armin Schäfer und Michael Zürn als Ausgangspunkte einer „demokratischen Regression.“

Die Demokratie kämpft mit einem Leistungsproblem, einem Vermittlungs- bzw. Wahrnehmungsproblem und einem Beteiligungsproblem. Sie alle sind miteinander verflochten.

Was daraus folgt treibt uns seit Jahren um: Politikerverachtung, Parteienverdrossenheit, Wahlabstinenz.

Bei der vergangenen Landtagswahl in meiner Heimat Nordrhein-Westfalen haben gerade einmal 55,5 Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimme abgegeben. Im Vergleich zu 2017 ein Rückgang um fast zehn Prozent. Das ist alarmierend.

Viele Menschen schätzen die Demokratie als Idee hoch. Doch in der konkreten Umsetzung scheint sie nicht zu halten, was sich viele von ihr versprechen.

Sie sehen die großen Fragen der Gegenwart und haben das Gefühl, dass nationale Entscheider nur begrenzt Antworten liefern können.

Sie haben hohe Erwartungen an den Staat. Sie sehen aber vor allem, was er nicht leistet.

Sie haben Lust, politisch mitzureden und sich einzubringen. Gleichzeitig finden Sie Parteien, Gewerkschaften und Verbände aber unattraktiv.

Sie halten Parlamente für gute Einrichtungen. Sie können aber nicht nachvollziehen, wie im Deutschen Bundestag diskutiert wird. Warum – in ihren Augen – die Demokratie viel ritualisierten Streit, aber wenige Lösungen hervorbringt. Zumindest keine, in denen sie sich wiederfinden.

Dabei sind auch Fehlwahrnehmungen im Spiel.

Nur die wenigsten Menschen erleben die Arbeit unserer Parlamente aus erster Hand. Politikbilder sind zumeist das Ergebnis von Politikvermittlung. Sie entstehen in den Köpfen der Menschen. Auf Grundlage dessen, was sie in den Medien präsentiert bekommen: In Funk- und Fernsehen, in Zeitungen und Magazinen, nicht zuletzt im Internet.

Einem Medium mit kaum zu überschätzender Dynamik und gewaltigem Einfluss – zum Guten wie zum Schlechten.

Nie zuvor war so viel Information,

nie zuvor war so viel Kommunikation,

nie zuvor war so viel Interaktion.

Aber auch Desinformation und Manipulation.

Die Diskursräume sind größer und vielfältiger geworden, das stimmt.

Politische Öffentlichkeit braucht aber auch geteilte Wahrnehmungen und gemeinsame Bezugspunkte – sonst gibt es keine sinnvolle Grundlage für den Austausch.

Unsere Verfassungsorgane zeigen im Internet massiv Präsenz, stellen gut zugänglich umfangreiche Informationen zur Verfügung.

Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages sind auf diversen Online-Plattformen präsent und erreichbar.

Zivilgesellschaftliche Portale wie abgeordnetenwatch haben sich dem Ziel verschrieben, Transparenz und Dialog mit den Parlamentariern zu fördern.

Trotzdem bleibt ein relevanter Teil der Öffentlichkeit für den Austausch mit der Politik kaum erreichbar.

Diese Leerstelle füllen andere. Indem sie Lügen und Halbwahrheiten verbreiten. Über die Institutionen der Demokratie und diejenigen, die sich dort engagieren. Sie hetzen gegen Menschenrechte und Minderheiten. Sie machen Parteien und Parlamente verächtlich.

Sie rauben der parlamentarischen Demokratie Kraft und Rückhalt.

Der Populismus ist Gift für unser Gemeinwesen.

Es wirkt schleichend, betäubend, lähmend. Populismus gaukelt den Menschen vor, alles sei ganz einfach. Man müsse nur auf „das Volk“ hören.

Was das genau heißt, bleibt wolkig. Es geht vor allem um gefühlte Wahrheiten und geglaubte Mehrheiten.

Der Populist inszeniert sich als Gegenmodell: Vor allem als Gegen-Elite. Er lebt von der Behauptung: Politik, Wissenschaft, Medien, „die da oben“ – hätten kein Ohr für die Bevölkerung.

Eine Erzählung, die leider oft verfängt.

Obwohl sie grundfalsch ist.

Wir müssen gegenhalten.

Den Hetzern und Verleumdern widersprechen, unsere Grundordnung verteidigen, Misstrauen überwinden, Teilhabe fördern.

Aber wie?

Indem wir das machen, was Demokratien auszeichnet. Dazulernen, öffentlichen Dialog und Debattenkultur pflegen, unseren Parlamentarismus weiterentwickeln und modernisieren.

Ich möchte, dass der Deutsche Bundestag ein Parlament ist, das zuhört und dem zugehört wird.

Im Zusammenspiel der Verfassungsorgane, vor allem im Austausch mit den Bürgerinnen und Bürgern.

Wir müssen unsere Arbeit noch besser erklären. Gerade wenn es gilt, komplexe und abstrakte Sachfragen zu entscheiden.

Dabei geht es nicht zuletzt um unsere Sprache, wenn wir Politik verständlich machen. Auch da können wir noch dazulernen.

Wir müssen deutlich machen, dass Demokratie immer auch Streit ist.

Dass Streit sein muss, aber eben konstruktiver Streit – fair und respektvoll ausgetragen.

Streit, bei dem wirklich um Lösungen und Kompromisse gerungen wird.

Und wir müssen darauf bestehen, dass dieser Streit im Parlament geführt und entschieden wird.

Nicht zuletzt bei europäischen und internationalen Fragen. Gerade in krisenhaften Zeiten und kritischen Situationen.

Dazulernen heißt für mich auch, in der Substanz Neues zu wagen.

Wohin die Reise gehen kann, diskutiert die „Kommission zur Reform des Wahlrechts und zur Modernisierung der Parlamentsarbeit“. Wir haben diese Kommission im März eingesetzt. Bis zum 30. Juni des kommenden Jahres soll sie ihre Ergebnisse vorlegen.

Ohne den Ergebnissen vorzugreifen: Der Arbeitsauftrag zeigt: Es gibt viele Ansätze, unsere parlamentarische Demokratie zu vitalisieren.

Dahinter steht weit mehr als zu verhindern, dass das Parlament immer größer wird.

Die Arbeit des Deutschen Bundestages soll attraktiver, transparenter und – vor allem durch Digitalisierung – effektiver werden.

Um nur einige Punkte zu nennen: Wie schaffen wir es, dass Frauen und Männer gleichberechtigt aufgestellt und ins Parlament gewählt werden? Traurig, dass das nach über 100 Jahren Frauenwahlrecht noch immer ein Thema ist.

Es geht auch um die Absenkung des Wahlalters auf 16 Jahre und die Teilhabe junger Menschen.

Um die Dauer der Legislaturperiode und die Beschränkung von Amts- und Mandatszeiten.

Auch darum, wie wir die digitalen Möglichkeiten als Parlament noch besser nutzen können. Darum wie seine Rechte gestärkt werden können, gerade wenn es um internationale Entscheidungsprozesse geht.

Und, das ist mir besonders wichtig: Wie können die Anregungen der Bürgerinnen und Bürger besser einfließen?

Verschiedene Instrumente bieten sich an. In direktdemokratischen Verfahren können Bürgerinnen und Bürger politische Fragen auf die Tagesordnung setzen und darüber entscheiden. Bürgerhaushalte können helfen, Verantwortung für die Investition öffentlicher Mittel in die Gesellschaft zu übertragen.

Besonderes Potential sehe ich aber in Formaten, die den politischen Diskurs durch gezielte Beteiligung der Bevölkerung beleben können.

Im Deutschen Bundestag haben wir mit dem Modell eines Bürgerrats gute Erfahrungen gemacht. Und gelernt, was wir besser machen müssen.

In der vergangenen Wahlperiode wurde ein Rat aus 160 Bürgerinnen und Bürgern zusammengestellt.

Wie im antiken Athen zunächst bestimmt durch das Los. (Aus den 341 Interessentinnen wurde dann eine Auswahl getroffen, die der Zusammensetzung der Bevölkerung entsprechen sollte.)

Der so zusammengestellte Bürgerrat hatte die Aufgabe, über das Thema „Deutschlands Rolle in der Welt“ zu beraten. Über Nachhaltige Entwicklung, Wirtschaft und Handel, Frieden und Sicherheit. Auch dazu, wie Deutschlands Rolle gegenüber der Europäischen Union aussehen sollte. Und über seinen Beitrag, was internationale Fragen von Demokratie und Rechtsstaat angeht.

Unterstützt von rund 60 Expertinnen und Experten aus Wissenschaft und Zivilgesellschaft sowie 80 Moderatorinnen und Moderatoren. Aufgrund der Corona-Pandemie vollständig digital. Ein aufwändiger Prozess.

Wir haben im Bund an das angeknüpft, was der „Bürgerrat Demokratie“ bereits 2019 in Gang gebracht hatte. Zuvor waren ähnliche Foren im In- und Ausland angestoßen und erprobt worden. In Land und Kommune – sowie mit der „Konferenz zur Zukunft Europas“ auch auf europäischer Ebene.

Bürgerräte sollen der Demokratie zu besseren Entscheidungen verhelfen.

Sie sollen dazu beitragen, parlamentarische Beratungen auf eine breite Grundlage zu stellen. Indem sie auch jene Menschen einbeziehen, die sonst wenig Berührungspunkte mit dem politischen System haben.

In deren Leben Politik einfach keinen Platz hat. Weil das Interesse fehlt, die Zeit oder die Möglichkeiten.

So bauen sie Brücken zwischen verschiedenen Teilen der Bürgergesellschaft und der Politik.

Wer an einem Bürgerrat teilnimmt, gewinnt Einblicke in die Komplexität politischer Entscheidungen.

Das Format vermittelt nicht nur Inhalte.

Es hilft den Teilnehmenden besser zu verstehen, wie Politik funktioniert. Wie Politikerinnen und Politiker arbeiten. Zum Beispiel wenn es um die Abwägung und Bewertung von Expertenwissen geht.

Dadurch können Bürgerräte helfen, strukturelle Verkrustungen des politischen Betriebs aufzubrechen. Sicherlich nicht alle. Denn egal, ob es um Wahlen, Volksabstimmungen oder erörternde Beteiligungsverfahren geht: Tendenziell beteiligen sich vor allem jene, die ohnehin besser gebildet und einkommensstärker sind. Die gesellschaftlich gut Integrierten, die Bessergestellten.

Auch hier gibt es also ein Gerechtigkeitsproblem. Wir müssen Mittel und Wege finden, mehr Menschen überhaupt die Teilhabe zu ermöglichen.

Wir müssen alle Hürden beseitigen, die etwa Müttern, Menschen mit Behinderungen oder Migrationsgeschichte im Weg stehen. Egal ob es um Parteien, Parlamente oder Plebiszite, um Bürgerinitiativen und Bürgerräte geht.

Diese Herausforderung verlangt zusätzliche Anstrengungen: Was die Sozial-, die Familien- und Integrationspolitik angeht. Auch in der Frage, wie wir unsere Arbeitswelt ausgestalten.

Die Herausforderung geht zugleich an alle, die politische Bildung vermitteln. Setzen wir da die richtigen Prioritäten? Erreichen wir mit unseren Angeboten alle, die wir erreichen müssten? Wie viele Talente lassen wir vor sich hin schlummern?

Selbst wenn es nicht gelingt, in den Bürgerräten ein Deutschland im Kleinen abzubilden: Die Bürgerräte binden gezielt Menschen ein, die im parlamentarischen Raum nur selten zu Wort kommen.

Der Deutsche Bundestag ist jünger und bunter geworden. Ähnlich wie bei der politischen Willensbildung über Verbände, Vereine, Parteien und Organisationen, kann aber auch der Bundestag ‑ zumindest kurzfristig ‑ kein Spiegelbild der Gesellschaft sein.

Wenn wir lernen, der höheren Stimmenvielfalt von Bürgerräten Gehör zu schenken, können auch andere Perspektiven in politische Beratungsprozesse einfließen.

Darin liegt eine große Chance. Bürgerräte diskutieren reflektierter und langfristiger als das, was Demoskopie und Meinungsumfragen widerspiegeln können.

Was in Bürgerräten diskutiert und erarbeitet wird, kann die etablierten Wege des Parlamentarismus ergänzen. Sogar ein Korrektiv zu Expertengremien und zur Anhörung von Sachverständigen werden.

Bürgerräte haben dieses Potential. Wenn wir die richtigen Fragen stellen. Diese Fragen sollten hinreichend konkret sein.

Von allgemeinem Interesse, nah an der Lebenswelt.

Gerne auch gesellschaftlich polarisierend. In Irland wurde das umstrittene Thema „Abtreibungsverbot“ in einem Bürgerrat aufgegriffen.

Wir finden sicher auch in Deutschland Ansätze, die relevante Diskussionen versprechen.

Ich könnte mir zum Beispiel vorstellen, einen Bürgerrat zum Thema „allgemeine Dienstpflicht“ einzuberufen. Damit meine ich ein Jahr, in dem Männer und Frauen einen gemeinnützigen Dienst leisten.

Das kann bei der Bundeswehr, in der sozialen Arbeit, im Umwelt- und Naturschutz oder im Pflege- oder Gesundheitsbereich sein.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat vergangenen Sonntag einen interessanten Vorschlag für einen Pflichtdienst zur Debatte gestellt. Dabei hat er den wichtigen Aspekt betont, dass die Menschen raus aus ihren Filterblasen kommen. Das würde in der Tat Vorurteile abbauen und den Gemeinsinn stärken.

Die einen finden so eine Dienstpflicht gut, die anderen nicht, auch werden rechtliche Bedenken angemeldet.

Ich könnte mir vorstellen, dass ein solcher Bürgerrat auf große Resonanz stößt. Und die Menschen zum Nachdenken und Streiten einlädt: Darüber, inwieweit Demokratie den Bürgerinnen und Bürgern nicht nur Rechte verleiht, sondern ihnen auch Verantwortung überträgt und sie auf das Gemeinwesen verpflichtet.

Denn auch das ist ein Vorteil des Instruments Bürgerrat: Es zeigt, dass politische Entscheidungen mit Konsequenzen verbunden sind.

Mit Zugewinnen und Möglichkeiten für die einen, mit Kosten und Einschränkungen für die anderen.

Mit Be- und Entlastungen.

Die Mitarbeit im Bürgerrat zwingt dazu, Präferenzen abzuwägen und Position zu beziehen. Auch angesichts der Dilemmata und Ambivalenzen, die in vielen politischen Fragen stecken.

Wenn diese Abwägungsprozesse nicht nur in der Sphäre der Berufspolitik, sondern auch in der Bevölkerung stattfinden, ist das ein Fortschritt.

Die richtigen Fragen zu stellen ist das eine.

Das andere ist, aus den Antworten das Richtige zu machen.

Es braucht nicht unbedingt Volksentscheide und Volkbegehren – wie im Falle Irlands – um die Ergebnisse der Bürgerräte umzusetzen.

Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer haben vielleicht gar nicht den Anspruch, die besseren Gesetzgeber zu sein.

Was es aber braucht, ist Kontinuität in der Einbindung von Bürgerräten bei der Klärung wichtiger gesellschaftlicher Fragen.

Vor allem aber ein verbindliches, solide moderiertes und transparentes Vorgehen.

Und die aufrichtige Bereitschaft, die Ergebnisse aufzugreifen. Sie in den parlamentarischen Prozess einzubringen. Sie in Beschlüsse zu übersetzen. Und sie konkretes Regierungshandeln werden zu lassen.

Beispiele aus dem Ausland zeigen: Wer die Umsetzung der Vorschläge von Bürgerinnen und Bürger verspricht, muss Wort halten.

Passiert das nicht, schafft man neue Politikverdrossenheit. Statt genau diese Politikverdrossenheit zu bekämpfen. Und bietet den Feinden der Demokratie zusätzliche Angriffsfläche.

Deshalb etwas Wasser in den Wein: Ein Wundermittel für die Probleme unserer Demokratie sind Bürgerräte nicht. Sie können aber einen notwendigen Vitalisierungsschub in schwierigen Zeiten leisten.

Zentrale Debatten anstoßen und voranbringen.

Ich fände es großartig, auch aus der Diskussion mit Ihnen Ideen mitzunehmen, für welche Fragen und Debatten sich ein Bürgerrat anbietet.

Eine lebendige, gesellschaftlich breit verankerte Debatte tut unserem Gemeinwesen gut – gerade angesichts der vielen schwierigen Prüfungen, die unseren Zusammenhalt auf die Probe stellen. Jetzt – und in Zukunft umso mehr.

Ja, auch unsere parlamentarische Demokratie kennt Fehlentwicklungen. Sie hat mit Schwierigkeiten zu kämpfen. Verzweifeln müssen wir deshalb nicht.

Die Demokratie hat die Kraft, die Kämpfe zu bestehen.

Sie kann ihr Leistungsversprechen halten.

Sie kann verlorenes Ansehen zurückgewinnen, Bürgerinnen und Bürger neu begeistern: Für ihre Idee, auch für ihre Umsetzung. Als offene, als transparente, als gewinnende Demokratie.

Wir sollten mutige, optimistische Demokraten bleiben: Ausnahmsweise – ohne jeden Zweifel.

Sehr geehrte Damen und Herren,

Sie haben es gehört: Ich bin eine große Freundin von dialogischen Formaten – für unsere Demokratie und auch für meinen Part bei Ihrer Sommertagung. Deshalb lassen Sie uns jetzt ins Gespräch kommen.

Ich freue mich immer über Verbesserungsvorschläge für unseren Deutschen Bundestag. Und heute ganz besonders über Ihre Fragen, Anregungen und Ideen zu den Bürgerräten.

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03.06.2022 | Parlament

Begrüßung des Parlamentspräsidenten, Herr Ruslan Stefantschuk, durch Bundestagspräsidentin Bärbel Bas

[Stenografischer Dienst]

Präsidentin Bärbel Bas:

Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich wünsche Ihnen allen einen schönen guten Morgen. Die Sitzung ist eröffnet.

(Zurufe von der SPD: Guten Morgen, Frau Präsidentin!)

- Also, das war jetzt wirklich ein Vergnügen. Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der FDP und der LINKEN)

Bevor wir in die Tagesordnung einsteigen, möchte ich heute Morgen einen ganz besonderen Gast begrüßen. Auf der Ehrentribüne hat der Präsident der Werchowna Rada der Ukraine, Ruslan Stefantschuk, Platz genommen. Ich freue mich sehr, dass Sie heute mit Ihrer Delegation hier sind!

(Anhaltender Beifall im ganzen Hause - Die Anwesenden erheben sich)

Lieber Ruslan, Ihre erste Auslandsreise nach dem völkerrechtswidrigen Angriff Russlands auf Ihr Land führt Sie nach Deutschland. Exakt 100 Tage nach Kriegsbeginn hätte ich Sie und Ihre Delegation gerne unter anderen Umständen in Berlin begrüßt. Der Beifall hat deutlich gezeigt: Der Deutsche Bundestag steht fest an der Seite der Ukraine.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der FDP und der LINKEN sowie bei Abgeordneten der AfD und von der Regierungsbank)

Wir werden Ihr Land weiter humanitär und militärisch, finanziell und diplomatisch nach Kräften unterstützen.

Auch die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland sind solidarisch mit Ihrem Land und mit den Geflüchteten, die in unserem Land Schutz gefunden haben. Ich weiß, dass sie sich dennoch wünschen, sehr schnell wieder in ihre Heimat zurückzukönnen.

(Beifall im ganzen Hause)

Nehmen Sie diese klare Botschaft gerne mit in Ihr Land. Ich habe gestern, als wir gemeinsam in den Ausschüssen waren, gespürt, dass diese Botschaft auch von den Kolleginnen und Kollegen aus dem Parlament in Ihre Richtung ausgesprochen wurde. Bitte geben Sie diese Botschaft an Ihre Landsleute weiter, nach Kiew, nach Odessa, nach Mariupol und an alle anderen Orte, die schon so viel Leid und so viel Zerstörung gesehen haben. Eine souveräne Ukraine gehört zu einem freiheitlichen demokratischen Europa. Ihr Land hat das Recht, selbstbestimmt über seinen Weg zu entscheiden - in Freiheit und Frieden.

(Beifall im ganzen Hause)

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24.06.2022 | Parlament

Worte von Bundestagspräsidentin Bärbel Bas vor Eintritt in die Tagesordnung anlässlich des 100. Jahrestages der Ermordung Walther Rathenaus

[Stenografischer Dienst]

Präsidentin Bärbel Bas:

Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich wünsche einen schönen guten Morgen! Die Sitzung ist eröffnet.

Vor 100 Jahren, am 24. Juni 1922, wurde Walther Rathenau ermordet. Weil der liberale Außenminister ein bedeutender Repräsentant der ersten deutschen Demokratie war. Weil er Jude war. Und weil er für Deutschlands Zukunft auf Ausgleich und Verständigung setzte.

Der Mord an Rathenau war Höhepunkt einer Serie von Attentaten, die die junge Weimarer Republik erschütterten. Sie entsprangen einem politischen Klima von Hass, Hetze und Gewalt. Es war keine Tat irregeleiteter Einzelner. Der Mord war Teil eines rechtsterroristischen Umsturzplanes, der die Republik zu Fall bringen sollte. Das Netzwerk reichte in rechtsnationale politische Kreise und in staatliche Institutionen hinein.

Der Plan scheiterte. Stattdessen kam es zu nie dagewesenen Massenkundgebungen für die Demokratie; allein in Berlin gingen 1 Million Menschen auf die Straße. Am Tag nach dem Mord erließ die Regierung zwei Verordnungen zum Schutz der Republik. Es schien, als hätte die ganze Republik begriffen, dass sie sich entschlossen gegen ihre inneren Feinde zur Wehr setzen muss. Wir wissen: Am Ende reichte das nicht.

Heute richtet sich unser Blick auf den Krieg, den ein aggressiver Autokrat zurück nach Europa gebracht hat. Auf den Kampf der Ukrainerinnen und Ukrainer um ihre Freiheit. Um ihr Recht, selbst zu bestimmen, wie sie leben wollen. Dieser Krieg ist auch ein Angriff auf die freiheitliche Demokratie.

Aber Demokratien sind und bleiben vor allem von innen her verletzlich. Auch unsere Demokratie, die sich seit mehr als sieben Jahrzehnten bewährt. Polarisierung, Unversöhnlichkeit und eine Enthemmung in Worten und Taten setzen ihr zu. Noch nie gab es so viele politisch motivierte Straftaten - auch antisemitische Straftaten! Das ist besonders beschämend.

(Dr. Alice Weidel (AfD): Documenta!)

Unsere freiheitliche Gesellschaft wird bedroht von Verschwörungstheorien und gezielter Desinformation, von Hetze und Hass. Hass, der zu den Morden des NSU, den Anschlägen von Halle, den Toten von Hanau geführt hat. Hass, der Walter Lübcke im Juni vor drei Jahren das Leben gekostet hat. Dem müssen wir entschieden entgegentreten.

(Beifall im ganzen Hause)

Mit allen Mitteln.

Ich betone das auch mit Blick auf unsere Arbeit: Wir, die Abgeordneten - und zwar alle Abgeordneten! -, sind für die politische Kultur in diesem Land maßgeblich verantwortlich. Unsere Demokratie muss sich mutig und entschlossen gegen ihre Feinde zur Wehr setzen. Nach innen und nach außen. Das ist die Lehre, die unser Grundgesetz aus der gescheiterten Weimarer Republik zieht.

Aber die Geschichte lehrt noch etwas: Die Demokratie braucht vor allem Demokratinnen und Demokraten. Es kommt auf das Engagement der Bürgerinnen und Bürger für die freie, demokratische Gesellschaft an. Heute nicht weniger als vor 100 Jahren.

(Beifall im ganzen Hause)

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22.01.2023 | Parlament

Rede von Bundestagspräsidentin Bärbel Bas beim Festakt zum 60. Jahrestag des Elysée-Vertrages in Paris

[Stenografischer Dienst]

Präsidentin Bärbel Bas: Herr Präsident! Frau Präsidentin! Herr Bundeskanzler! Sehr geehrte Herren Präsidenten des französischen Senats und des Bundesrates! Liebe Kolleginnen und Kollegen beider Parlamente! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Jugendliche! Der Élysée-Vertrag war ein Neuanfang in der Geschichte unserer Länder und in der Geschichte Europas. Vor 60 Jahren legten unsere Staaten die Grundlage für eine tiefe Freundschaft, eine Freundschaft, die zum Motor der europäischen Einigung wurde.

Der Begriff „Versöhnung“ kommt im Élysée-Vertrag nicht vor. Dieser Vertrag steht aber für eine beispiellose Aussöhnung zwischen zwei Nationen und für einen neuen Geist der Verständigung.

1963 lag der Zweite Weltkrieg erst 18 Jahre zurück - und damit das Leid, das Deutschland über Europa brachte. Auch der verheerende Erste Weltkrieg war im Gedächtnis der Menschen noch sehr präsent.

Aussöhnung verlangt Mut, Menschlichkeit und Großherzigkeit. In der Zivilgesellschaft gab es früh Menschen, die sich für eine echte Versöhnung aussprachen.

Weitsichtige Persönlichkeiten wie Charles de Gaulle und Konrad Adenauer, Alfred Grosser und Carlo Schmid haben die Verständigung vorangetrieben.

Ich verneige mich mit tiefer Dankbarkeit und Respekt vor allen Menschen, die sich für die Überwindung der Feindschaft und den Aufbau dieser Freundschaft unserer Länder engagiert haben.

(Beifall)

Simone Veil sagte 2004 im Deutschen Bundestag:

„Der Teufelskreis musste durchbrochen werden: die deutsch-französische Aussöhnung würde der Eckstein beim Aufbau eines befriedeten Europa sein.“

Als Jugendliche hatte Simone Veil Auschwitz überlebt. Sie verlor ihre Mutter, ihren Vater und ihren Bruder im Holocaust. Und doch brachte sie die Kraft auf, den Deutschen die Hand zu reichen. Zeitlebens hat sie sich für die Versöhnung zwischen Frankreich und Deutschland eingesetzt.

Liebe Frau Präsidentin, chère Yaël, danke, dass Sie mich eingeladen haben, gemeinsam die Ruhestätte von Simone Veil im Pantheon aufzusuchen. Es hat mich tief bewegt, dieser außergewöhnlichen Frau die Ehre zu erweisen. Simone Veil bleibt ein großes Vorbild - als überzeugte Versöhnerin, visionäre Europäerin und leidenschaftliche Vorkämpferin für Frauenrechte.

(Beifall)

Ob die europäische Idee als Friedensprojekt noch verständlich sei, fragte manch einer noch vor Kurzem. Frieden schien selbstverständlich, vor allem für die junge Generation. Der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine, dem 2014 die völkerrechtswidrige Annexion der Krim voranging, zeigt uns: Wir haben uns bitter geirrt.

Die Mahnung Jean-Claude Junckers ist schmerzlich aktuell:

„Wer an Europa zweifelt, wer an Europa verzweifelt, der sollte Soldatenfriedhöfe besuchen!“

(Beifall)

Seit fast einem Jahr sterben jeden Tag in Europa Menschen in einem verbrecherischen Krieg.

Europa steht fest und unverbrüchlich an der Seite der Ukraine. Wir unterstützen die Ukrainerinnen und Ukrainer in ihrem Kampf um Freiheit, Souveränität und territoriale Integrität, genauso wie wir auch die Ukrainerinnen und Ukrainer auf der Flucht unterstützen.

Wir werden der Ukraine beim Wiederaufbau und beim Weg in die Europäische Union helfen. Vom ersten Moment dieses Krieges hat Europa eine überwältigende Solidarität mit der Ukraine geübt und große Geschlossenheit gegenüber dem russischen Aggressor gezeigt.

Das liegt auch in unserem Interesse. Es geht um die Sicherheit unseres Kontinents, um unseren Wohlstand und unser Lebensmodell, um die Werte, die uns verbinden, um Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie.

Wir müssen die Grundlagen der Europäischen Union verteidigen - auch gegen Angriffe von innen. Nur wenn Europa im Inneren stark ist, können wir unsere Werte international behaupten.

Europa steht vor immensen Aufgaben. Die geopolitischen Umwälzungen, der Klimawandel, die Energieversorgung, die Wirtschaft oder die Migrationsbewegungen verlangen von uns neue, gemeinsame Antworten.

Deutschland und Frankreich sind stärker gefordert denn je. Unsere Partnerschaft spielt eine Schlüsselrolle bei der Bewältigung der großen Aufgaben unserer Zeit. Wie eng wir uns abstimmen, spielt eine wesentliche Rolle für die Zukunft unserer Länder und der Europäischen Union.

Wir haben unterschiedliche Verfassungstraditionen und Kulturen. Das spiegelt sich bei manchen Fragen auch in unterschiedlichen politischen Ideen wider. Auch das gehört zu einer Freundschaft. Unsere Stärke liegt darin, diese Unterschiede in Fortschritte für Europa zu verwandeln. Europa braucht das deutsch-französische Tandem.

Unsere Parlamente stehen hier in einer besonderen Verantwortung -

(Beifall)

erst recht in einer Zeit, in der Demokratien unter Druck stehen und das Vertrauen vieler Bürgerinnen und Bürger in die Politik in besorgniserregender Weise schwindet.

Die Demokratie ist so stark wie ihre Parlamente. Deshalb ist mir so wichtig, dass wir unsere deutsch-französische parlamentarische Zusammenarbeit weiter stärken. Ich sehe es besonders als Aufgabe unserer Parlamente, einen vertieften Austausch zu pflegen und auf dieser Grundlage gemeinsame Positionen zu erarbeiten, so wie wir es heute Nachmittag auch in der Arbeitssitzung der Assemblée nationale und des Deutschen Bundestages tun werden.

Im Élysée-Vertrag war von den Parlamenten keine Rede. Doch inzwischen hat sich die parlamentarische Außenpolitik etabliert. Dank vieler engagierter Abgeordneter hat sich ein breites Netzwerk zwischen dem Deutschen Bundestag und der Assemblée nationale gebildet.

Mit dem deutsch-französischen Parlamentsabkommen von 2019 haben unsere Parlamente die Zusammenarbeit auf eine neue Stufe gehoben. Den Anstoß dazu gab übrigens Ihre leidenschaftliche Rede 2017 hier in der Sorbonne, sehr geehrter Herr Präsident Macron.

(Beifall)

Der Deutsche Bundestag und die Assemblée nationale haben Ihren Appell nach einer neuen Dynamik in unseren Beziehungen schnell aufgegriffen und dieses binationale Parlament gegründet. Und das ist weltweit einmalig.

An dieser Stelle möchte ich auch Wolfgang Schäuble und Richard Ferrand für ihr Engagement danken. Sie beide waren treibende Kraft hinter diesem Projekt.

(Beifall)

Unsere noch junge Parlamentarische Versammlung war während der Pandemie nicht nur arbeitsfähig, sondern hat auch an Profil gewonnen. Das zeigt, wie stark die deutsch-französische Partnerschaft insgesamt ist, und zeugt von gegenseitigem Vertrauen.

Es ist mir ein persönliches Herzensanliegen, die deutsch-französische Parlamentskammer intensiv zu nutzen und weiterzuentwickeln. Darin bin ich mir mit meiner Amtskollegin einig.

Ich habe eine gemeinsame Erklärung mit ihr zusammen für dieses Jubiläum erarbeitet. Damit wollen wir die Zusammenarbeit unserer beiden Parlamente weiter stärken und deutsch-französische Lösungen suchen für den Integrationsprozess in Europa.

Dieses Jubiläum ist auch ein guter Anlass, den deutsch-französischen Parlamentspreis wieder zu beleben. Die letzte Auslobung liegt schon sieben Jahre zurück. Wir hatten den Parlamentspreis anlässlich des 40. Jahrestages des Élysée-Vertrages beschlossen. Er zeichnet wissenschaftliche Werke aus, die zu einer besseren gegenseitigen Kenntnis der beiden Länder beitragen.

Sehr geehrte Damen und Herren, nach dem Zweiten Weltkrieg war klar, dass wir nur mit neuen Ansätzen Hass und Feindschaft in Europa überwinden können. Aussöhnung und Verständigung konnten kein Elitenprojekt sein. Sie brauchten eine möglichst breite Beteiligung der Bevölkerung, Begegnungen der Bürgerinnen und Bürger.

Es entstand ein immer dichteres Netz von Städtepartnerschaften. Mittlerweile sind es mehr als 2 200 deutsch-französische Partnerschaften unter Beteiligung von Städten, Departements und Regionen. Besonders intensiv ist die Zusammenarbeit in den Grenzregionen.

Hier sind unsere alltäglichen Beziehungen echt eng verflochten: zwischenmenschlich, wirtschaftlich und kulturell. Das hat sich in der Pandemie gezeigt. Die kurzzeitige Schließung der Grenze war ein Schock für viele Menschen. Heute sind die Grenzen wieder wie vor der Pandemie: kaum noch wahrnehmbar.

Sehr geehrte Damen und Herren, nach dem gescheiterten Verfassungsreferendum 2005 hat Simone Veil festgestellt:

„Die Jungen sind von der Selbstverständlichkeit Europas überzeugt. Wir haben es versäumt, ihnen das Gegenteil klarzumachen.“

Was wir in Europa in den vergangenen Jahrzehnten erreicht haben, ist keine Selbstverständlichkeit. Das vergessen wir manchmal. Das gilt für Europa, das gilt für die Demokratie, das gilt für den Frieden, und das gilt ebenso für die deutsch-französische Freundschaft.

Deswegen freue ich mich sehr, dass junge Menschen aus Frankreich und Deutschland an diesem Festakt teilnehmen. Danke, dass Sie alle hier sind!

(Beifall)

An dieser Stelle sage ich schon jetzt: Engagieren Sie sich weiter für die deutsch-französische Freundschaft, für die Demokratie und für Europa! Und vor allem: Stecken Sie andere Jugendliche mit Ihrem Elan an! Es geht um die Zukunft. Ihre Gestaltung liegt besonders in Ihren Händen.

Die Jugend war übrigens von Anfang an ganz wesentlich für unsere Aussöhnung. 35 000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer kamen 1951 bei dem europäischen Jugendtreffen auf der Loreley zusammen - vor allem Deutsche und Franzosen.

1963 wurde das Deutsch-Französische Jugendwerk gegründet. Diese Institution trägt seit 60 Jahren außerordentlich viel zu gegenseitigem Interesse, Verständnis und zu unserer engen Freundschaft bei.

Ich möchte bei diesem Festakt besonders den Bürgerinnen und Bürgern danken, die diese Freundschaft zwischen unseren Ländern aufgebaut, gelebt und immer wieder neu geknüpft haben. Auf Sie kommt es weiterhin besonders an.

(Beifall)

Meine Damen und Herren, vertiefen wir unsere besondere Freundschaft weiter - mit neuen Ideen und frischen Impulsen! Seien wir ehrgeizig - für eine Zukunft unserer Länder und für eine Zukunft in Europa!

Merci. Vielen Dank.

(Beifall)

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22.01.2023 | Parlament

Eingangsrede von Bundestagspräsidentin Bärbel Bas - Gemeinsame Arbeitssitzung der Assemblée nationale und des Deutschen Bundestages in Paris

[Stenografischer Dienst]

Präsidentin Bärbel Bas: Sehr geehrte Frau Präsidentin, chère Yaël! Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete der Nationalversammlung! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen aus dem Deutschen Bundestag! Herzlich willkommen zu dieser Arbeitssitzung! Ich danke Ihnen sehr, dass Sie alle heute hier sind. Sie zeigen mit Ihrer Anwesenheit, wie eng unsere Parlamente miteinander verbunden sind und dass Sie sich für eine weitere Stärkung unserer Beziehungen einsetzen.

Eine Freundschaft zwischen Frankreich und Deutschland? Das konnten sich viele Generationen auf beiden Seiten über lange Jahrzehnte nicht vorstellen.

Heute ist diese Freundschaft so tief und fest verwurzelt, dass sie nicht mehr wegzudenken ist. Im Ausland schreiben unsere Diplomatinnen und Diplomaten gemeinsame Analysen, nehmen zusammen Termine wahr oder tauschen auch schon mal für einen Tag die Botschaft.

Aber: So wie es keine Erbfeindschaft geben kann, kann es auch keine Erbfreundschaft geben. Sogar die beste Freundschaft muss gelebt und gepflegt werden. Deswegen freue ich mich sehr, dass wir heute, am Tag unseres Jubiläums, auch die Möglichkeit haben, unsere Beziehungen in konkreten Fragen zu vertiefen.

Europa braucht das deutsch-französische Tandem. Uns ist allen bewusst, dass wir in einer Zeit großer Umbrüche leben. Wir stehen an einem Punkt, der für die Zukunft unseres Kontinents entscheidend ist. Diese multiplen Transformationen müssen wir aktiv gestalten. Wir brauchen in Europa kluge Antworten.

Unsere Parlamente spielen eine wichtige Rolle. Im November haben wir uns in Berlin im Rahmen der Deutsch-Französischen Parlamentarischen Versammlung getroffen. Wir haben drei neue Arbeitsgruppen eingesetzt, von denen sich vor dieser Sitzung zwei Gruppen zum ersten Mal getroffen und konstituiert haben: zur Zukunft Europas, zur Energiesouveränität und zur kohärenten Umsetzung der europäischen Richtlinien in deutsches und französisches Recht.

Heute können Präsidentin Braun-Pivet und ich Ihnen auch eine gemeinsame Erklärung vorlegen. Liebe Yaël, ich bin dir für die großartige Zusammenarbeit sehr dankbar. Wir suchen immer das Einende. Unsere Verhandlungen sind offen, ehrlich und fair. Für mich zeichnet dieser Umgang miteinander unsere persönliche Freundschaft aus, aber auch die Beziehungen zwischen unseren Parlamenten insgesamt. Unsere Erklärung drückt aus, dass wir als Parlamentarierinnen und Parlamentarier gemeinsam Verantwortung in zentralen Politikfeldern übernehmen.

Diese Erklärung ist ehrgeizig. Sie enthält eine Reihe von Vorhaben, die wir voranbringen wollen: in der Verteidigungspolitik und bei der Energiesouveränität, beim Kampf gegen den Klimawandel und beim Umgang mit Migration.

Europa zeichnet sich durch Werte aus. Europa steht für Demokratie und Gerechtigkeit. Diese Werte machen unsere Gesellschaften und unsere Gemeinschaft stark. Deswegen müssen wir auch bei der Gleichstellung Fortschritte erzielen. Wir wollen unseren Austausch dazu intensivieren.

Heute Vormittag haben Präsidentin Braun-Pivet und ich am Pantheon Simone Veil gedacht. Diese Vorkämpferin für Frauenrechte war die erste Frau an der Spitze des Europäischen Parlaments. Ihr Leben und ihr politisches Wirken sind der beste Beweis, dass echte Gleichstellung nicht nur Frauen angeht, sondern der Gesellschaft insgesamt zugutekommt.

(Beifall)

Ich bin fest davon überzeugt, dass wir eine starke deutsch-französische Partnerschaft brauchen, um Europas Zukunft zu gestalten. Der Austausch unserer Jugend hat für den Aufbau der Freundschaft zwischen unseren beiden Ländern eine besondere Rolle gespielt. Präsidentin Braun-Pivet und ich werden gleich noch mit Schülerinnen und Schülern diskutieren.

Durch die Austauschprogramme wachsen Interesse und Wissen, Sympathie und Vertrauen. Ein Austausch ist oft der erste Schritt für eine längere Beschäftigung mit dem anderen Land. Kaum etwas ist motivierender als ein Austausch, um die Sprache des Nachbarn zu lernen. Leider lernen immer weniger deutsche Schülerinnen und Schüler Französisch und immer weniger junge Französinnen und Franzosen Deutsch. Das besorgt mich. Es ist uns deshalb ein Anliegen, verstärkt Französischunterricht in Deutschland und Deutschunterricht in Frankreich zu fördern.

(Beifall)

Sprache ist der Schlüssel für Verständigung; Verständigung gelingt nur mit Engagement. Ich danke Ihnen allen sehr, dass Sie sich immer wieder für die deutsch-französische Freundschaft einsetzen, und freue mich auf eine leidenschaftliche Debatte.

Für eine gute Zukunft unserer Bürgerinnen und Bürger in einem souveränen, geeinten und demokratischen Europa!

Danke und merci beaucoup!

(Beifall)

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24.01.2023 | Parlament

Rede von Bundestagspräsidentin Bärbel Bas zur Ausstellungseröffnung „16 Objekte“ zu 70 Jahren Yad Vashem

[Es gilt das gesprochene Wort]

Sehr geehrter Herr Botschafter,
sehr geehrter Herr Dayan, 
sehr geehrter Herr Minister,
sehr geehrter Herr Diekmann, 
liebe Kolleginnen und Kollegen,
liebe Gäste,

herzlich willkommen! 
Ich begrüße Sie zur Eröffnung der Ausstellung „16 Objekte“. 
Der Deutsche Bundestag zeigt diese Ausstellung zum 70. Gründungsjubiläum von Yad Vashem. Wir würdigen damit die so wichtige und wertvolle Arbeit der Gedenkstätte. 
Die ausgestellten Gegenstände stammen ursprünglich aus Deutschland. 
Viele kamen auf dramatischen Wegen nach Yad Vashem. 
Nun kehren sie erstmals zurück. 

Dafür danke ich sehr herzlich Dani Dayan, 
dem Vorstandsvorsitzenden von Yad Vashem. 

Sehr geehrter Herr Dayan, 
Sie sind für diese Ausstellung zum allerersten Mal in Deutschland. 
Ich empfinde das als besondere Geste und große Ehre. 
Ich weiß, dass Ihnen dieser Besuch nicht leicht gefallen ist. 
Umso mehr freue ich mich, dass Sie heute hier sind. 
Ich danke auch dem deutschen Freundeskreis von Yad Vashem, insbesondere seinem Vorsitzenden Kai Diekmann und der Geschäftsführerin Ruth Ur. 

Die Ausstellung zeigt Objekte aus 16 deutschen Städten. Ein Objekt aus jedem Bundesland. Auch einige Oberbürgermeisterinnen und Oberbürgermeister der Städte sind heute hier.
Herzlich willkommen! 

Ganz besonders freue ich mich, eine Zeitzeugin begrüßen zu dürfen: Lore Mayerfeld-Stern. 
Sie ist für diese Ausstellung aus Israel angereist. 

Liebe Frau Mayerfeld-Stern, danke, dass Sie die weite Reise auf sich genommen haben! 

Ihre Puppe Inge wird hier gezeigt. 
Wir werden nachher mehr über die Geschichte Ihrer Puppe und vor allem Ihre persönliche Geschichte erfahren. 
Auch im Namen des Deutschen Bundestags darf ich sagen: Wir fühlen uns sehr geehrt, dass Sie nach Deutschland gekommen sind!

Sehr geehrte Damen und Herren, 
was sagt eine Puppe, was sagt ein Klavier, eine Abendtasche oder ein Poesiealbum über den Holocaust? 

Michael Tal, der in Yad Vashem die hier ausgestellten Objekte betreut, hat einmal in einem Interview gesagt, ich zitiere: „Alltagsgegenstände aus der Zeit des Holocaust haben die Kraft, die Zeit zu überbrücken.“ 

Wer durch die Ausstellung geht, 
spürt was er meint.

Einige Objekte stammen aus der Zeit vor der Verfolgung – so etwa die Thorarolle, die das Ehepaar Weinschenk ihrer Synagoge spendete. 

Die meisten Gegenstände sind mit der Flucht oder dem Dasein in Ghetto und Lager verbunden: Sie erzählen uns, wie ihre Besitzerinnen und Besitzer unter unmenschlichsten Bedingungen ihren Alltag gestalteten. Und ihre Würde verteidigten. 
Wie die Familie Posner, die ihren Chanukka-Leuchter mutig ins Fenster stellte – obwohl auf der Straße schon die Hakenkreuzflagge wehte. 

Zwei Urenkelkinder des Rabbiners Posners sind heute zur Ausstellungseröffnung gekommen. Ich freue mich, dass Sie hier sind. 

Der Chanukka-Leuchter der Posners oder die Puppe Inge sind Zeugen eines Verbrechens, das in der Geschichte der Menschheit einzigartig ist: 
des Völkermords an den europäischen Jüdinnen und Juden.

Diese Objekte bezeugen einen menschlichen und kulturellen Reichtum, den Deutsche systematisch vernichtet haben. 
Sie symbolisieren den unwiederbringlichen Verlust, den das Menschheitsverbrechen des Holocaust für uns alle bedeutet. 
Sie stehen für Lücken, die sich nicht schließen lassen. 
Für Millionen jüdischer Kinder, Frauen und Männer, die unserer Gesellschaft fehlen. 
Für die Leben, die sie nicht leben konnten. 
Für die Kinder, die nicht geboren wurden. 

Simone Veil schrieb in ihren Erinnerungen über Auschwitz, ich zitiere: 
„es ist das furchtbare Gewicht der Leere, die niemals vom Vergessen ausgefüllt werden darf und in der für immer das Gedächtnis der Lebenden aufgehoben sein wird.“

Dieses Motiv leitet auch die Arbeit der Gedenkstätte Yad Vashem. 
Die Gedenkstätte hat es sich zum Ziel gemacht, die Erinnerung an die Shoa und ihre Opfer zu bewahren. An jede einzelne ermordete Jüdin und an jeden einzelnen ermordeten Juden. 
Ihnen wird ihr „Name“ zurückgegeben und ein „Denkmal“ gesetzt – so die freihändige deutsche Übersetzung von „Yad Vashem“. 

Die Gedenkstätte ist eng mit der Gründung des Staates Israel verbunden. 
Nach der Erfahrung der Shoa hat die Vision eines sicheren Hafens für die Jüdinnen und Juden aus aller Welt einen besonderen Wert  bekommen. 

Im Mai dieses Jahres jährt sich die Staatsgründung zum 75. Mal. 

Die Sicherheit Israels ist und bleibt für Deutschland Staatsräson. 

Für die Arbeit von Yad Vashem haben Überlebende wie Lore Mayerfeld- Stern eine große Bedeutung. 

Doch leider gibt es immer weniger Menschen, die den Abgrund der Shoa überlebt haben und uns selbst über ihr Leben berichten können. 

Diese Ausstellung zeigt einen Weg, wie die Vergangenheit zu uns sprechen kann 
– wenn es die Zeitzeugen nicht mehr können. 

Sehr geehrte Damen und Herren, 
der Ruf nach einem Schlussstrich unter die deutsche Geschichte war nie verschwunden. 
Seit einigen Jahren wird er wieder lauter. 
Das macht mir große Sorgen. 

Es gibt aber auch gute Nachrichten: Untersuchungen zeigen, dass gerade junge Menschen sich mit dem Holocaust beschäftigen wollen. Mehr als die älteren Jahrgänge.  
Das stimmt mich zuversichtlich.

Einige interessierte und engagierte Jugendliche sind heute hier. Zwei Schülerinnen der Berliner Johanna-Eck-Schule werden später aus dem Tagebuch von Marion Feiner vorlesen. 
Ich freue mich sehr, dass Sie da sind. 

Jede Generation muss sich aufs Neue der deutschen Geschichte stellen. 
Sich selbst konfrontieren – mit den unfassbaren Verbrechen und den Schicksalen der Opfer. 
Auch dem Deutschen Bundestag – und mir persönlich – ist es ein wichtiges Anliegen, das Bewusstsein für das Leid der Opfer und die Einzigartigkeit des Holocaust wachzuhalten.

Diese Ausstellung macht vor, wie Erinnerung auf innovative Weise lebendig gehalten kann. 
Und sie lädt ausdrücklich zum Nachdenken über die Zukunft der Erinnerung ein. 
Ich freue mich auf einen erkenntnisreichen Abend.

Herzlichen Dank, dass Sie hier sind! 

Abschlussworte am Ende der Veranstaltung

•    Dank an Beteiligte der Veranstaltung
o    Shelly Kupferberg (Moderatorin)
o    Tehila Nini Goldstein (Musikerin) und ihre musikalische Begleitung 
o    Schülerinnen der Johanna-Eck-Schule (Nora Leyla Jordan und Erika Rosenfeld)
•    Werde gemeinsam mit Dani Dayan, Kai Diekmann und Ruth Ur durch die Ausstellung gehen.  
•    Alle sind eingeladen, zum Empfang zu bleiben und sich die Ausstellung anzusehen. 

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Parlament

Rede von Bundestagspräsidentin Bärbel Bas anlässlich der Verleihung des Margot-Friedländer-Preises 2022

[Es gilt das gesprochene Wort.]

Liebe Frau Friedländer!
Sehr geehrter Herr Schmitz-Schwarzkopf,
liebe Freundinnen und Freunde und Förderinnen und Förderer
der Schwarzkopf-Stiftung, 
liebe Schülerinnen und Schüler, 
sehr geehrte Damen und Herren,

es ist eine große Ehre für mich, 
heute hier zum Margot Friedländer-Preis 2022 die Laudatio halten zu dürfen.

Wir haben gerade das beeindruckende Statement von zwei engagierten Mitgliedern der Jungen Jury gehört. 

So viel Engagement ist heute keine Selbstverständlichkeit. 
Viele Menschen fragen sich: Was kann ein Mensch allein schon ausrichten? 
Angesichts der großen Probleme unserer Zeit. 

Viele können sich nicht einmal vorstellen, dass sie etwas verändern können. Und resignieren. 
Liebe Frau Friedländer,

wie für die engagierten Mitglieder der Jungen Jury und die Preisträgerinnen und Preisträger gilt für Sie ganz besonders: 

Sie gehören nicht zu diesen Menschen!

Sie haben nie resigniert. 
Sie zeigen, wie viel eine Einzelne bewirken kann. 
Gegen Antisemitismus, Rassismus, Antiziganismus und andere Formen der Menschenfeindlichkeit. 

Sie zeigen jungen – und auch älteren – Menschen: Es lohnt, sich für ein tolerantes Miteinander starkzumachen. 

Sie zeigen, dass es auf jede und jeden von uns ankommt. 
Überall im Land sprechen Sie mit Schülerinnen und Schülern.

Sie sprechen über Verbrechen, für die sich kaum Worte finden lassen. 

Über Schmerzen, die nicht vergehen. 

Über Verluste, die sich nicht wieder gutmachen lassen. 

Sie erzählen Ihre Geschichte. 

„Seid Menschen!“ fordern Sie immer wieder.
Sie wissen, was es heißt, wenn Menschen das Menschsein abgesprochen wird.

Sie haben erleiden müssen, dass Deutsche Jüdinnen und Juden ausgegrenzt und entrechtet, verfolgt, gequält und ermordet haben.

Sie gehören zu den wenigen, die den Holocaust überlebten. 

1946 wanderten Sie mit Ihrem Mann Adolf Friedländer nach New York aus. 

Erst nach seinem Tod begannen Sie, Ihre Erinnerungen aufzuschreiben. 

2003 kehrten Sie zum ersten Mal zurück nach Deutschland.  

Mit 88 Jahren sind Sie endgültig von New York nach Berlin gezogen - in die Stadt Ihrer Kindheit und Jugend und Ihres Untertauchens.
Hier haben Sie in diesem Monat Ihren 101. Geburtstag gefeiert. 

Seit Ihrem mutigen Neuanfang in Berlin sind Sie unermüdlich unterwegs, um mit Menschen zu sprechen. 

Sie hinterlassen tiefen Eindruck bei allen, mit denen Sie Ihre Geschichte teilen. 
Auch ich bin sehr froh und dankbar, dass wir uns kennengelernt haben! 

Mit Ihrer Lebensfreude, Ihrem Mut und Ihrer Kraft zur Versöhnung ermutigen Sie andere Menschen, für Toleranz und Menschlichkeit einzustehen. 

Sie bewegen etwas, weil Sie Menschen bewegen.

„Mein Hiersein ist auch gut für Deutschland“ haben Sie einmal bescheiden in einem Interview gesagt. 
Ich finde: Ihr Hiersein ist ein großes Glück für Deutschland! 

Ich danke Ihnen von Herzen für Ihr Hiersein und Ihren Einsatz. 
Sie halten das Erinnern lebendig und tragen es in die Zukunft. 
„Ich spreche für die, die nicht mehr sprechen können“- sagen Sie. 

Und das tut Not, sehr geehrte Damen und Herren, 
Mehr als sechs von zehn Deutschen wollen sich nicht mit der deutschen Schuld am Holocaust befassen.

Laut der Leipziger Autoritarismus-Studie meinen  61 Prozent der Befragten: „Wir sollten uns lieber gegenwärtigen Problemen widmen als Ereignissen, die mehr als 70 Jahre vergangen sind.“ Zitat Ende. 

Diese Zahlen stehen für eine Entwicklung, die uns zutiefst beunruhigen muss. 

Antisemitismus ist kein Problem der Vergangenheit. 

Antisemitismus findet sich nicht nur bei wenigen Radikalen am äußersten Rand. 
Er findet sich auch in der Mitte unserer Gesellschaft. 

Es schmerzt, das feststellen zu müssen. 
Und gerade deswegen müssen wir alle Formen des Antisemitismus deutlich benennen.

Wir dürfen Antisemitismus nicht hinnehmen – auch nicht den vermeintlich leisen 
oder den als freie Meinungsäußerung getarnten. 

Wir müssen gegen jede Form von Antisemitismus aufstehen. 

Unabhängig davon, ob er als Schuldabwehr oder Israelkritik daherkommt,
bei Protesten von Corona-Leugnern 
oder auf der Documenta. 

Dieses Gift verbreitet sich und wirkt tödlich. 
Antisemitismus bedroht und gefährdet Menschen in unserem Land.

2021 stiegen antisemitische Straftaten um 29 (!) Prozent an – auf einen Höchststand von 3.027 Straftaten. 

Für 2022 hat das Bundeskriminalamt bis Oktober mehr als 1500 antisemitische Straftaten erfasst. Das sind im Schnitt fünf antisemitische Straftaten am Tag. 
Jede einzelne dieser Taten ist eine Schande für unser Land. 

Es ist eine Schande, wenn jüdische Einrichtungen beschossen werden 
- wie vor wenigen Tagen in Essen. 

Es ist eine Schande, wenn Gedenkstätten mit Hakenkreuzschmierereien versehrt werden 
– wie im Oktober die KZ-Gedenkstätte Buchenwald.  

Es ist eine Schande, wenn der Rabbiner der jüdischen Gemeinde Potsdam hier in Berlin angegriffen und beschimpft wird 
– wie im September.

Unser Staat muss mit aller  Konsequenz gegen diese Hasstaten vorgehen und die Täter bestrafen. 
Wir müssen Jüdinnen und Juden schützen. 
Sie müssen sich in Deutschland sicher fühlen können. 

Ein Gefühl der Sicherheit und der Zugehörigkeit braucht mehr als konsequente Strafverfolgung der Täter. 
Wir alle tragen Verantwortung für ein friedliches und respektvolles Miteinander. 

Dafür braucht es ein Bewusstsein für die Gefahr des Antisemitismus in der Gesellschaft.
Dafür braucht es Wissen um die Geschichte. 

Und Sensibilität für das, was geschehen kann. 

Weil es geschehen ist .
Unsere Vergangenheit wird nie bewältigt sein. 
Es kann keinen Schlussstrich unter das Menschheitsverbrechen der Shoa geben.

Im Gegenteil: Je weiter die Shoa zurückliegt, desto wichtiger wird das aktive Erinnern.

Wir müssen das Bewusstsein für das Leid der Opfer und die Singularität der Verbrechen wach halten. 

Wir haben nicht „ausgelernt“ aus der Geschichte. Und das werden wir auch nie. 
Der Ukrainekrieg führt uns vor Augen, dass unsere Erinnerung noch viele blinde Flecken hat.

Am 8. Mai war ich mit meinem ukrainischen Amtskollegen Ruslan Stefantschuk in Babyn Jar. 

Wir haben gemeinsam der im Holocaust ermordeten Kinder, Frauen und Männer gedacht.  
Etwa anderthalb Millionen Jüdinnen und Juden wurden in der Ukraine ermordet – ein Viertel aller Opfer des Holocaust. 
Die meisten wurden erschossen.
Immer wieder müssen wir uns fragen: 
Wie konnte geschehen, was geschehen ist? 

Josef Schuster schrieb am 9. November in der Süddeutschen Zeitung:
„Es wird eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe sein, die Erinnerung an die Shoah zu bewahren und mit der Gesellschaft weiterzuentwickeln.“

Erinnerung muss offen sein für neue Formen, denn unser Land verändert sich.
Immer weniger Zeitzeugen können ihre Geschichte selbst erzählen. 

Wie Erinnerung weitergegeben werden kann, zeigt der Verein der Zweitzeugen. 
Auch Sie sind diesem Verein aktiv, liebe Frau Friedländer. 

Den Schülerinnen und Schülern sagen Sie immer: 
„Ich bin zurückgekommen, um mit euch zu sprechen. Euch die Hand zu reichen und euch zu bitten, dass ihr die Zeitzeugen sein werdet, die wir nicht mehr lange sein können.“

Immer mehr Menschen in unserer Einwanderungsgesellschaft haben keine familiären Berührungspunkte mit den Verbrechen des Holocaust. 
Für sie ist oft nicht klar, warum sie sich mit der deutschen Geschichte beschäftigten sollen. 
Zumal sie selbst oft Ausgrenzung und Rassismus erleben.  

Sie brauchen eigene Zugänge zur Erinnerungskultur. Oder vielmehr: 
Wir müssen unsere Erinnerungskultur weiterentwickeln, um auch ihren Fragen und Erfahrungen gerecht zu werden. 

Burak Yilmaz - ein Pädagoge aus meiner Heimatstadt Duisburg mit türkisch-kurdischen Wurzeln – hat das zu seiner Aufgabe gemacht. 

In seinem Buch „Ehrensache. Kämpfen gegen Judenhass“ beschreibt er, wie eine Auseinandersetzung mit der Shoa für junge Muslime gelingen kann. 
Er hat das Projekt „Junge Muslime in Auschwitz“ gegründet – und dadurch Tabus gebrochen, Schweigen überwunden und Vorurteile entlarvt. 

Erinnerung muss lebendig gehalten werden. 

Hier leistet die Zivilgesellschaft bereits sehr viel. Zahlreiche Organisationen fördern das Bewusstsein für die Verbrechen der Shoa und die Verantwortung für ein respektvolles Miteinander. 

Einige dieser Menschen sind heute hier im Saal. Ich danke Ihnen von Herzen für Ihr Engagement!

Um diesen Einsatz zu würdigen und zu unterstützen, verleiht die Schwarzkopf-Stiftung Junges Europa heute zum siebten Mal den Margot-Friedländer-Preis. 
Und außerdem den Ralph-Bendheim-Preis. 
Jedes der 60 eingereichten Projekte drückt für mich aus, was Burak Yilmaz so formulierte:
„Der Kampf gegen Judenhass ist nicht vergebens, eine gerechtere Zukunft ist möglich. Es liegt in unserer Hand, diesen Wandel zu vollziehen.“ Zitat Ende. 

Diese vielfältigen Perspektiven auf die Verbrechen der Shoa zeigen, wie lebendiges Gedenken gelingen kann. 
Sie beantworten die Frage: „Was kann ich persönlich gegen Antisemitismus tun?“

Die Schülerinnen und Schüler begeben sich auf Spurensuche an ihren Schulen und ihren Heimatorten. 
Sie stellen so biographische Bezüge her. 
So wird Geschichte begreifbar und das Bewusstsein um die eigene Verantwortung gestärkt. 
Sehr geehrte Damen und Herren, 
die ausgezeichneten Projekte möchte ich Ihnen gerne kurz vorstellen:  

In Bamberg recherchiert eine Projektgruppe zum Schicksal neun jüdischer Schülerinnen und Schüler, die 1930 am heutigen Franz-Ludwig-Gymnasium eingeschult wurden. 

An der Kerpenschule in Illingen beschäftigt sich eine Projektgruppe mit dem Boxer Rukeli Trollmann, einem Sinto, der von den Nationalsozialisten ermordet wurde. 
Und mit dem Pfarrer Arnold Fortuin, der während des 2. Weltkriegs Sinti gerettet hat. 

In Kiel erforscht ein Projekt der RBZ Wirtschaft in einem interaktiv-historischen Stadtrundgang das jüdische Leben in der Landeshauptstadt. 
Vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg. 
An der Ernst-Göbel-Schule im Odenwald erarbeiten Schülerinnen und Schüler einen Stadtplan mit zentralen Orten jüdischer
Geschichte. Mit QR-Codes machen sie selbst erstellte Podcasts zugänglich.

Der Ralph-Bendheim-Preis geht an ein Projekt der Gesamtschule Waldbröl in Nordrhein-Westfalen. Die Schülerinnen und Schüler bauen – inspiriert von der graphic novel „Maus“ von Art Spiegelman - Holzaufsteller von Mäusen und Katzen. Über QR-Codes sollen Informationen von verfolgten und ermordeten jüdischen Familien in Waldbröl zugänglich werden. 

Ich gratuliere allen Preisträgerinnen und Preisträgern sehr herzlich. 

Für Ihre Projekte wünsche ich Ihnen viel Erfolg und danke Ihnen sehr für Ihr Engagement.

Und ich danke allen, die heute nicht ausgezeichnet werden können. Auch Ihnen wünsche ich alles Gute für Ihre Projekte und möchte Sie ermutigen: Bitte bleiben Sie so engagiert, Ihre Arbeit ist unschätzbar wertvoll.  

Danken möchte ich den 12 Mitgliedern der Jungen Jury. Sie haben bei der Vorauswahl ein beeindruckendes Engagement gezeigt. Und das unter Pandemiebedingungen. Sie haben an Schulungen und Workshops teilgenommen und eigene Auswahlkriterien erarbeitet. 

Einen großen Dank möchte ich auch an die Schwarzkopf-Stiftung Junges Europa und die Freundinnen und Freunde, Förderinnen und Förderer der Stiftung aussprechen. Ihre Arbeit stärkt politisches Bewusstsein und Verantwortung in unserer Gesellschaft.   

Liebe Frau Friedländer,
sehr geehrte Damen und Herren, 

es ist gut, dass es diesen wichtigen Preis gibt. 

Umso mehr freue ich mich jetzt auf das Video der Preisträgerinnen und Preisträger. 

Vielen Dank!

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20.10.2022 | Parlament

Worte von Bundestagspräsidentin Bärbel Bas vor Eintritt in die Tagesordnung zur Begrüßung von Roman Schwarzman

[Stenografischer Dienst]

Jetzt, liebe Kolleginnen und Kollegen, bitte ich Sie kurz um Aufmerksamkeit. Wir haben heute Morgen auf der Tribüne einen besonderen Gast: Roman Schwarzman.

Sehr geehrter Herr Schwarzman, ich freue mich, dass Sie den beschwerlichen und gefährlichen Weg aus Odessa auf sich genommen haben. Sie waren selbst noch ein Kind, als die Deutschen 1941 in die Ukraine einfielen und Sie mit Ihrer Familie ins Ghetto verfrachtet wurden. Seit 30 Jahren engagieren Sie sich für die jüdischen Überlebenden der Ghettos und Konzentrationslager in der Ukraine und ganz besonders in Ihrer Heimatstadt, und Sie setzen sich mit aller Kraft dafür ein, dass die Opfer des Holocaust nicht vergessen werden, dass ihre Geschichten weitergetragen werden und ihrer würdig gedacht wird. Ich danke Ihnen für dieses große und wichtige Engagement. Es ist uns eine Ehre, Sie heute hier im Deutschen Bundestag begrüßen zu dürfen.

(Beifall im ganzen Hause - Die Anwesenden erheben sich)

Die Erinnerung an das Menschheitsverbrechen der Shoah ist und bleibt unerlässlich. Das ist Teil der historischen Verantwortung Deutschlands. Etwa anderthalb Millionen Jüdinnen und Juden wurden in der Ukraine ermordet. Mehr als 2 000 Tatorte des Massenmordes liegen auf dem Gebiet der heutigen Ukraine. Jüdische Frauen, Männer und Kinder wurden zusammengetrieben. Sie wurden erschossen, wie in der Schlucht von Babyn Jar, oder verbrannt in Odessa. Auch Charkiw, Mariupol oder Luhansk waren Tatorte des Verbrechens - Ortsnamen, die viele von uns in Deutschland erst seit einigen Monaten kennen, seit Russlands Überfall auf die Ukraine.

Der russische Präsident begründet den völkerrechtswidrigen Krieg gegen die Ukraine mit der Lüge einer angeblich notwendigen Entnazifizierung. Damit missbraucht er in perfider Weise die Geschichte des deutschen Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion und des Völkermordes an den Juden Europas.

Millionen haben ihre Heimat verlassen auf der Flucht vor Tod und Gewalt. Ungezählte Tausende sind diesem Krieg bereits zum Opfer gefallen, darunter Überlebende des Holocaust - wie Boris Romantschenko, der das KZ Buchenwald überlebte und dem dieses Haus im März gedachte.

Unter den vielen Ukrainerinnen und Ukrainern, die bei uns Zuflucht gefunden haben, sind jüdische Kinder und pflegebedürftige Holocaustüberlebende. Sie konnten dank der gemeinsamen Initiative jüdischer Organisationen in der Ukraine und in Deutschland evakuiert werden. Im Namen des ganzen Hauses danke ich allen, die diese Rettungsaktion durch ihr Engagement möglich gemacht haben.

(Beifall im ganzen Hause)

Lieber Roman Schwarzman, wir stehen an der Seite der Ukrainerinnen und Ukrainer. Unser Ziel ist der Frieden in Freiheit. Vielen Dank, dass Sie heute bei uns sind.

(Beifall im ganzen Hause)

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03.10.2022 | Parlament

Rede von Bundestagspräsidentin Bärbel Bas zum Tag der Deutschen Einheit 2022

[Es gilt das gesprochene Wort]

Herr Bundespräsident,
verehrte Frau Büdenbender,
Herr Bundeskanzler,
Herr Bundesratspräsident, 
Herr Präsident des Bundesverfassungsgerichts,
Exzellenzen,
sehr geehrte Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten,
liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem Deutschen Bundestag und aus den Parlamenten der Länder,
sehr geehrter Herr Oberbürgermeister,
sehr geehrte Damen und Herren, 
liebe Bürgerinnen und Bürger,

das Feiern fällt uns schwer in diesem Jahr. 

Der Krieg ist nach Europa zurückgekehrt. 

Seit dem 24. Februar sterben jeden Tag Menschen in der Ukraine. 
Millionen sind auf der Flucht. 
Wir wissen nicht, wie viele Zivilisten in Butscha, Irpin, Mariupol oder andernorts brutal getötet wurden. 
Menschen wie wir. 

Der russische Überfall auf die Ukraine ist auch ein Angriff auf unsere Friedensordnung in Europa.

Viele Menschen sorgen sich: 
-    Um die Menschen in der Ukraine. 
-    Um unsere Sicherheit in Europa. 
-    Um unsere Wirtschaft und unsere Energieversorgung. 
-    Und auch vor den längst sichtbaren Auswirkungen des Klimawandels. 

Die Welt verändert sich. Und wir spüren das. 

Viele fragen sich, wie es weitergeht. 
Vielen machen die steigenden Kosten für Miete, Energie oder Lebensmittel zu schaffen. 
Verzicht ist für nicht wenige schon lange Alltag. 

Auch viele Unternehmen sorgen sich um ihre Existenz. 
Wir müssen ehrlich darüber reden, wie wir die Lasten in unserem Land gerecht verteilen. 

Vor allem die Schwächsten müssen wir schützen. 
Nicht alle brauchen Entlastung. 
Aber alle brauchen die Chance auf Teilhabe in unserer Demokratie. 

Unsere Demokratie ist stark. 

Diese Stärke kann sie aber nur entfalten, wenn wir zusammenstehen. 

Der Tag der Deutschen Einheit macht uns bewusst, wie viel wir gemeinsam erreichen können. 

Auch in diesem Jahr blicken wir voller Dankbarkeit auf die Ereignisse von 1989 und 1990 zurück. 

Es war eine kaum fassbare Wendung der Geschichte. 
Die friedliche Wiedervereinigung unseres Landes. 
Nach Jahrzehnten der Teilung.

Der kürzlich verstorbene Michail Gorbatschow bezeichnete die Wiedervereinigung als 
„ein Verdienst der Völker selbst.“ 

Ich danke allen, die mit großem Mut die friedliche Revolution und die Wiedervereinigung möglich gemacht haben. 

Ich danke den Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtlern und den Demonstrierenden in der DDR, 
aber auch in Polen und den anderen Staaten Mittel- und Osteuropas sowie dem Baltikum. 

Ich danke den Alliierten und unseren Nachbarstaaten. 

Und ich denke auch mit Dankbarkeit an die, die in politischer Verantwortung der Wiedervereinigung den Weg bereitet haben.  
Insbesondere an Helmut Kohl. 


Die Bürgerinnen und Bürger erhoben sich damals gegen die Diktatur. 
Immer mit der Angst, dass ihr Protest mit Panzern überrollt, sie inhaftiert und ihnen die Kinder weggenommen werden. 

Viele schrieben Abschiedsbriefe, bevor sie friedlich auf die Straßen zogen. Zu oft hatten sie Repressionen gesehen und selbst erlebt. 

Wer heute protestiert, geschützt von den Grundrechten, kann das auch, weil diese Frauen und Männer ein großes persönliches Risiko eingingen und für Demokratie und Freiheit einstanden. 

Diese Menschen setzten Verantwortung für sich und andere an die Stelle von Angst – auch nach dem Fall der Mauer. 
Fünf Frauen aus Erfurt haben eine Vorreiterrolle eingenommen bei der Entmachtung der Stasi. Am 4. Dezember 1989 initiierten sie die Besetzung der Erfurter Stasi-Zentrale und forderten den sofortigen Stopp der Aktenvernichtung. 

Ich freue mich, dass heute zwei dieser Frauen hier sind – Gabriele Stötzer und Tely Büchner. 

Bürgerrechtler und Bürgerrechtlerinnen setzten sich – trotz ihrer Repressionserfahrungen – mit den SED-Vertretern an Runde Tische. 

Sie verständigten sich über die ersten freien Wahlen. 
Überall in der DDR engagierten sich damals Bürgerinnen und Bürger für die Demokratie.  
Wir sollten uns an den Mut und den Zusammenhalt jener Tage erinnern. 

Sie zeigen, wie viel wir bewegen können. 
Auch in Zeiten großer Unsicherheit. 
In Situationen, auf die uns nichts vorbereitet hat. 

Millionen Menschen mussten ihr Leben nach der Wiedervereinigung völlig neu aufbauen.  
Ohne Anleitung, ohne Blaupause.

Immer wieder staune ich, wie die Menschen in Ostdeutschland das alles geschafft haben. 

Oft mit verschiedenen Jobs und Fortbildungen - nacheinander oder auch nebeneinander. 
Ich staune, wie sie sich mit Pragmatismus, Kreativität und Durchhaltevermögen behauptet haben.

Wie wir heute sehen können: Erfurt ist ein wunderbares Beispiel für diese Leistungen! 
Eine der schönsten Altstädte Deutschlands mit dem geretteten und liebevoll sanierten Andreasviertel, der neu gestaltete Petersberg oder die 1994 wiedergegründete Universität. 

Und natürlich das Brühl, wo die Optima-Schreibmaschinen produziert wurden. Aus der Industriebrache haben die Menschen ein lebendiges Stadtviertel gebaut. 
Im Heizwerk wurde im vergangenen Jahr das Kultur- und Veranstaltungszentrum „Zentralheize“ eröffnet.
Jeanette Gusko – Sprecherin des Netzwerks 3te Generation Ost – betonte, dass das Ostdeutschsein ihrer Generation zu einer „tiefen Verantwortung für unser Land“ führe. 

Viele dieser „Wendekinder“ kehren nach Ostdeutschland zurück. Und bringen neue Erfahrungen und Ideen mit. Sie bauen sich hier Eigenes auf und engagieren sich für die Gemeinschaft. Wie einer unserer erfolgreichsten Musiker – der Erfurter Clueso.

Die Schriftstellerin Ines Geipel wünschte sich einmal, dass wir endlich sagen könnten:   „Meine Güte, was haben wir hier in 30 Jahren wirklich geleistet, Ost, wie West.“ Zitat Ende. 

Ich denke: Das haben wir, in der Tat. 
Seit 1990 haben wir gemeinsam viele Krisen bewältigt und große Aufgaben gemeistert: 
die Wiedervereinigung und den Umbruch in Ostdeutschland. 
Die Wirtschafts- und Finanzkrise. 
Die Aufnahme vieler Geflüchteter. 
Und seit 2020 die Corona-Pandemie. 

Trotz aller Schwierigkeiten und Fehler: 
Das Wichtigste in diesen Zeiten war – und bleibt: Wir halten zusammen.  
Immer wieder haben die Menschen in den vergangenen drei Jahrzehnten ein großes solidarisches Miteinander gezeigt. 

Das war nicht immer einfach. 
Es gab Missverständnisse, Vorurteile und Fremdheitsgefühle. 

Ich bin West-Deutsche. 

Die Ereignisse um den Mauerfall und die Wiedervereinigung habe ich in Duisburg erlebt. Ich habe sie mit großer Freude verfolgt und mit Freunden diskutiert 
– aber eher als Zuschauerin, deren eigenes Leben weiterlief mit den großen und kleinen Sorgen. Ohne dass mein Leben auf den Kopf gestellt wurde. 

Deswegen berührt es mich wirklich sehr, heute am Tag der Deutschen Einheit zu Ihnen zu sprechen.

Ostdeutsche und Westdeutsche erlebten die 90er Jahre völlig unterschiedlich. 

In Westdeutschland haben wir auch deshalb nicht wahrgenommen, dass die Nachwendezeit Wunden geschlagen und Narben hinterlassen hat. 

Heute weiß ich aus vielen Gesprächen, wie fundamental der Umbruch in Ostdeutschland war. 
Wie sehr er zu einem Gefühl der Entwurzelung geführt hat, weil fast alle Strukturen zusammenbrachen. 

Wer damals Kind war, erlebte wie orientierungslos, überfordert und verzweifelt die Erwachsenen plötzlich waren.
Ich wünsche mir, dass wir das heute besser machen. 

Deswegen bin ich froh, dass bald ein Zukunftszentrum für Deutsche Einheit und Europäische Transformation entsteht. 

„Es ist Zeit für einen neuen Blick auf Ostdeutschland“ 
– fordert der Ostbeauftragte der Bundesregierung, Carsten Schneider, der ebenfalls aus Erfurt kommt und den ich hier herzlich begrüße. 


Gerade an historischen Wendepunkten müssen wir einander aufmerksam zuhören. 

Kommen wir zusammen! 
Sehen wir, was uns verbindet! 
Und lernen wir voneinander! 
Wir sollten die Begegnung wieder stärker suchen. 

Ob im Sportverein, der Gemeinde oder im Kleingarten. Oder, indem wir eine deutsche Region entdecken, in der wir noch nie waren.

Wir sind ein wiedervereinigtes Land und zugleich ein Einwanderungsland. 
Unsere gemeinsame Geschichte besteht aus vielen Geschichten. 
Niemand sollte sich für seine Herkunftsgeschichte rechtfertigen müssen. 

Unser „normal“ hat seit Jahrzehnten viele Gesichter. 
Es ist das Gesicht des ostdeutschen Elektrikers. Das Gesicht der westdeutschen Fußballerin. 
Oder das Gesicht der zugewanderten Ärztin. 

Wir alle sind Deutschland – egal, ob unsere Eltern in Erfurt oder Essen geboren sind, 
oder in der Türkei oder im Libanon, 
in Polen oder in der Sowjetunion.  

Diese Vielfalt muss sich auch angemessen in den Institutionen unseres Staats widerspiegeln. Genauso wie in der Wirtschaft, in der Kultur und in den Medien. 


Unser Land ist reich – an unterschiedlichen Erfahrungen, Perspektiven und Talenten. 
Diesen Reichtum sollten wir nutzen und wertschätzen.
Das beginnt damit, dass wir einander wertschätzen. 

Wie wir miteinander umgehen, entscheidet wesentlich über die Stärke unseres Landes.

Wir müssen einander achten. 
Und aufeinander achten. 

Spaltungsversuche von innen und außen sind nicht spurlos an uns vorrübergegangen. 
Fake news, Verschwörungstheorien, Hass und Hetze richten sich gegen unseren Zusammenhalt. Gegen unsere freie Art zu leben.
Sie haben Gewalt gesät und Opfer gefordert; 
sie versetzen Menschen in Angst. 
Und sie schaffen Misstrauen. 

Driften wir auseinander? Jetzt, da wir so dringend Zusammenhalt brauchen?
Laut einer aktuellen Umfrage finden es über 40 Prozent der Menschen in unserem Land schwierig, bei Meinungsverschiedenheiten befreundet zu sein. 
Sie bezweifeln, dass es etwas bringt, miteinander zu reden. 
Als Folge findet oft gar kein Dialog mehr statt. 

Doch Demokratie lebt vom Streit. 
Es ist notwendig, dass wir miteinander reden – gerade über Reizthemen wie zum Beispiel eine Impfpflicht oder Waffenlieferungen. 
Ich fände es erschreckend, wenn ausgerechnet darüber nicht kontrovers diskutieren würde! 

Der demokratische Streit hat einen Zweck: 
Er führt uns zu gemeinsamen Lösungen. 
Doch Verständnis und Respekt können nicht in einer vergifteten Atmosphäre gedeihen. 

Ob in der Zivilgesellschaft, der Forschung oder der Kommunalpolitik: 
Unsere Demokratie nimmt Schaden, wenn die engagierten Menschen dem Druck nicht mehr standhalten können und sich zurückziehen. 

Wenn sie sich aus Angst vor Hasskommentaren oder gar Morddrohungen nicht mehr äußern wollen. 
Ich wünsche mir weniger Wut und mehr Respekt.  

Weniger Rechthaberei und mehr Neugier. 

Weniger Vorurteile und mehr Empathie.
 
Eine demokratische Diskussionskultur braucht Offenheit. 
Aber auch Grenzen des Sagbaren. 

Sie werden von unserem Grundgesetz gezogen – mit der Menschenwürde als höchstem Wert. 

Auf dieser Grundlage können wir über alles streiten. Und das sollten wir auch! 


Suchen wir das Gespräch!
Gehen wir einander nicht aus dem Weg, weil es bequemer ist!
Fragen wir nach! 
Machen wir uns die Mühe, Widerspruch auszuhalten!

Das gilt insbesondere auch für uns Politikerinnen und Politiker. 
Viele Menschen in unserem Land fühlen sich von den staatlichen Institutionen nicht genug gehört. Sie haben den Eindruck, dass die Politik sich nicht mehr für sie interessiert. 

In der Rückschau denke ich manchmal: Es hätte unserem Land gut getan, die demokratische Begeisterung der Wendezeit mehr zu pflegen. 
In allen Teilen unseres Landes. 
Wir Politikerinnen und Politiker müssen den Kontakt zu den Menschen noch stärker suchen, gut zuhören, uns verständlich erklären. 
Mit einer klaren Sprache.

Wir müssen uns immer wieder selbstkritisch fragen, wie wir die Teilhabe der Bürgerinnen und Bürger besser fördern können.  
Dabei können übrigens Bürgerräte helfen, Menschen in die Diskussion zu holen, die sich sonst nicht mehr zu Wort melden würden. 

Unsere Demokratie braucht Menschen, die sich in Parteien einbringen und Verantwortung in politischen Ämtern übernehmen. 

Auf allen Ebenen: Im Bund, im Land, aber vor allem in den Kommunen.
Unsere Demokratie braucht uns. 
Ost und West, Land und Stadt, Reich und Arm, Alt und Jung. 
Nur gemeinsam können wir den Umbau zu einer klimaneutralen, digitalen und gerechteren Gesellschaft schaffen. 

Mir ist wichtig dabei, dass wir den jüngeren Generationen nicht von oben herab die Welt erklären, sondern ihnen zuhören und sie mitentscheiden lassen. 

Gegenüber den heute Jungen tragen wir eine besondere Verantwortung. Die Krisen und Aufgaben unserer Zeit treffen vor allem sie in der Zukunft.


Junge Menschen haben in der Pandemie eine schwere Last getragen. 
Praktisch alle sozialen Aktivitäten fielen weg. 
Schule fand zu Hause statt
– egal wie beengt es bei vielen Familien war. 
Vor allem für die Jüngeren war das eine hohe psychische Belastung, die Spuren hinterlässt. 

Auch die Ältesten, insbesondere in Pflegeheimen, haben unter dem Wegfall der Kontakte sehr gelitten. 

Für mich gehört es zu den schmerzhaftesten Seiten der Pandemie, dass viele alte Menschen ihren letzten Weg ohne ihre Angehörigen gehen mussten.

Gleich mehrere Menschheitskrisen erfordern unseren Zusammenhalt und unseren Einsatz. 

Flutkatastrophen, Hitzewellen, Waldbrände und Dürren zeigen, dass sich der Klimawandel auch bei uns längst auswirkt. 

Russlands Krieg gegen die Ukraine verschärft Armut und Elend in der Welt. 
Schon 2021 hungerten über 800 Millionen Menschen. 
Nun ist Getreide für mehrere Millionen Menschen unbezahlbar geworden. 
Über 100 Millionen Menschen sind weltweit auf der Flucht.

Deutschland ist in besonderem Maße aufgerufen, Verantwortung zu übernehmen und zur Lösung der globalen Aufgaben beizutragen. 
Dieser Einsatz liegt in unserem Interesse. 
Dazu verpflichten uns unsere Werte und unser Wohlstand. 

Vergessen wir nicht, wie wir selbst von unserer internationalen Einbindung, 
von der Wiedervereinigung 
und der Europäischen Union außerordentlich profitiert haben. 

Die großen Probleme unserer Zeit können wir nur gemeinsam mit unseren Partnern lösen. 
Dafür brauchen wir insbesondere ein demokratisches, geeintes und handlungsfähiges Europa. 
Unsere Reaktion auf Putins Krieg gegen die Ukraine hat gezeigt, wie solidarisch und entschlossen die EU sein kann. 
Wir werden die Ukraine weiter nach Kräften unterstützen – während dieses Krieges und beim Wiederaufbau.

Die mutigen Ukrainerinnen und Ukrainer erinnern uns jeden Tag aufs Neue an den Wert von Frieden, Freiheit und Demokratie. 

Für diese Werte steht Europa. 
Diese Werte machen unsere Art zu leben aus. 
Für sie sind die Menschen in der DDR 1989 auf die Straße gegangen. 
Doch selbstverständlich sind sie nicht. 
Sie erfordern unseren Einsatz. 
Immer wieder aufs Neue. 
Sehr geehrte Damen und Herren, 

wir können in Deutschland auf viele Stärken bauen. 

Die meisten Menschen in unserem Land haben Arbeit und ein Einkommen – auch in dieser Krisenzeit. 

Überall in unserem Land gibt es Ideen, Initiativen und Investitionen für den Strukturwandel. 

Die Financial Times staunte im Sommer, dass Ostdeutschland heute, ich zitiere „eine der angesagtesten Regionen des Kontinents“ für Industrie-Investitionen sei. 

In Magdeburg zum Beispiel – in der Mitte Europas - plant der US-Konzern Intel zwei Chipfabriken für 17 Milliarden Euro – eine der größten ausländischen Direktinvestition in Europa. 
Die beiden Halbleiterwerke sollen zum Kern eines Ökosystems für Hightech werden - mit privater und universitärer Forschung und mit Zulieferern. 

Und meine Heimatregion, das Ruhrgebiet, ist jetzt auf einem guten Weg zu einer führenden Wasserstoffregion.  


Vergessen wir gerade heute, am Tag der Deutschen Einheit, nicht ein besonderes Glück: 
Wir leben in einer funktionierenden Demokratie. 
Machen wir uns bewusst, wie wertvoll und robust diese Demokratie ist! 

Wir haben selbstbewusste Volksvertretungen, die die Interessen der Menschen bündeln und ausgleichen. 

Jede und jeder hat die Möglichkeit, sich politisch einzubringen. 

Die Pandemie und die Neuaufstellung in unserer Energie- und Sicherheitspolitik zeigen, dass wir schwerwiegende Entscheidungen umsetzen können. Auch wenn wir uns dafür von alten Gewissheiten lösen müssen.
 
Diese Lernfähigkeit zeichnet uns Demokratinnen und Demokraten aus – und versetzt uns in die Lage, Umbrüche mit Erfolg zu bewältigen. 

Die Strom- und die Gaspreisbremse zum Beispiel sind wichtig, um Privathaushalte und Unternehmen zu entlasten. 
Und den Menschen vor dem Winter wieder  mehr Zuversicht zu geben. 


Einer der besten Gründe für Zuversicht ist für mich unsere Zivilgesellschaft. 

Knapp 40 Prozent unserer Bürgerinnen und Bürger engagieren sich ehrenamtlich für die Gemeinschaft. 
In unserem Land gibt es unzählige Ehrenamtliche, Stiftungen, Netzwerke und Hilfsprojekte. 

Sie setzen sich für den Umweltschutz ein und kämpfen mit Mobilen Beratungsteams gegen Rechtsextremismus. 

Sie ermöglichen Sport im Verein und unterstützen andere in Nachbarschaftshilfen. 

Ich bin immer wieder noch beeindruckt von dem Gemeinsinn und der Solidarität in der Pandemie. 

Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine erleben wir wieder eine neue Dimension von Empathie und Hilfsbereitschaft. 
Viele Menschen rücken für Geflüchtete in ihren Wohnungen zusammen. 
Sie sammeln Geld und Medikamente, organisieren Beratung und Hilfstransporte. 
Sie vergessen bei ihren eigenen Sorgen nicht das große Leid der Ukrainerinnen und Ukrainer. 

Ich danke allen von Herzen, die sich für Menschen in Not einsetzen. 


Meine Damen und Herren,

nehmen wir wieder wahr, was uns eint! 

Rufen wir uns in Erinnerung, was uns verbindet und auszeichnet! 

Die allermeisten Menschen in unserem Land teilen die Werte unseres Grundgesetzes - wie die Meinungsforscherin Renate Köcher festgestellt hat. 

Sie bekennen sich zu Menschenrechten, Demokratie, Rechtsstaat und sozialer Marktwirtschaft. 

Es ist kein Zufall, dass die Erwartungen an unsere Demokratie hoch sind. 

Unser Land hat die Fähigkeiten, auch große Transformationen zu gestalten.


Doch manchmal, so scheint mir, fehlt uns das Vertrauen.

Wir brauchen mehr Vertrauen. 
In unser Land. 
In unsere Fähigkeiten. 
Und zueinander! 

Vertrauen wir uns! 
Trauen wir uns gemeinsam etwas zu! 


„Zusammen wachsen“ ist das Motto der heutigen Feier. 

Ich meine: Unser Land ist in vielen Bereichen längst zusammengewachsen. 

Wir sind stark und solidarisch. 

Auch und vor allem wegen unserer geteilten Geschichte. 

Unsere Gesellschaft hat alles, um diese Zeit zu meistern. 

Mit Respekt, Zusammenhalt und Zuversicht.
 

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Parlament

Rede von Bundestagspräsidentin Bärbel Bas anlässlich des Feierlichen Gelöbnisses am 20. Juli 2022 in Berlin

[Es gilt das gesprochene Wort.]

Sehr geehrte Frau Ministerin,
liebe Abgeordnetenkolleginnen und Kollegen,
liebe Soldatinnen und Soldaten,
liebe Eltern, Angehörige und Freunde,
sehr geehrte Damen und Herren,
und vor allem: liebe Rekrutinnen und Rekruten!

Sie legen Ihr Gelöbnis in einer Zeit großer Unsicherheit ab.
Sie legen Ihr Gelöbnis ab, während in Europa ein grausamer Krieg herrscht.
Während in der Ukraine Soldatinnen und Soldaten ihr Land, ihre Freiheit und ihre Demokratie verteidigen.
Deutschland steht in diesen Zeiten solidarisch an der Seite der Ukraine.
Russland hat die Friedensordnung in Europa zerstört, die wir in den vergangenen Jahrzehnten aufgebaut haben.

Das neue Strategische Konzept der NATO zeigt: Es geht um grundsätzliche und weitreichende Veränderungen. Wir müssen Sicherheit in Europa neu denken und organisieren.
In Deutschland steht die Bundeswehr im Zentrum dieser Veränderungen.

Sie treten heute in eine Bundeswehr ein, die sich in den nächsten Jahrzehnten stark modernisieren wird. Das wird ein Kraftakt. Ein Kraftakt, der notwendig ist.

Die Erwartungen an Deutschland und die Bundeswehr sind hoch. Das höre ich auch immer bei meinen Gesprächen mit unseren internationalen Partnern.
Wir haben in Deutschland jahrelang auf Abrüstung gesetzt, um Frieden zu stärken. Wir dachten, die Zeit klassischer Angriffskriege gehöre in Europa der Vergangenheit an.

Wir haben die Aufgabe der Landes- und Bündnisverteidigung als theoretisch angesehen.

Deshalb haben wir bei der Ausstattung der Bundeswehr stark gespart. Und zur Wahrheit gehört auch: Wir haben uns nach den deutschen Verbrechen des Zweiten Weltkriegs mit allem Militärischen schwer getan.

Sehr geehrte Damen und Herren,
unsere Bundeswehr muss jetzt wieder hervorragend ausgerüstet werden.

Sie muss in der Lage sein, unser Land zu verteidigen. Sie muss unsere freiheitliche Demokratie schützen und unseren NATO-Partnern im Falle eines Angriffs beistehen können.

Um diese Landes- und Bündnisverteidigung auch leisten zu können, müssen wir massiv in die Ausstattung der Bundeswehr investieren.

So wie es der Deutsche Bundestag mit der Verabschiedung des Sondervermögens von 100 Milliarden Euro beschlossen hat.

Die Bundeswehr ist eine Parlamentsarmee.
Daher ist mir als Bundestagspräsidentin besonders wichtig zu betonen: Wir tragen nicht nur Verantwortung für unsere Bevölkerung und unsere Partnerstaaten. Wir tragen auch Verantwortung für Sie, unsere Soldatinnen und Soldaten sowie für Ihre Angehörigen.

Sie und Ihre Kameradinnen und Kameraden müssen sich darauf verlassen können, dass Sie die richtige Ausrüstung erhalten. Das bedeutet: die beste Ausstattung, eine gute Ausbildung und umfassende Unterstützung. Sie müssen alle Mittel erhalten, um ihre Aufgaben erfüllen zu können.
 

Liebe Rekrutinnen und Rekruten,
ein Gelöbnis abzulegen, war immer ein großer Schritt.
Ihre feierliche Verpflichtung zur Verteidigung unseres Landes ist mehr als der Beginn eines Arbeitsvertrages. Sie treten an zu einem besonderen Dienst für unser Land, der vollen Einsatz und Loyalität erfordert.
In dieser Zeit bekommt das Gelöbnis eine noch größere Tragweite. Wenn Sie heute Ihre Gelöbnisformel sprechen, wissen Sie: In diesem Moment verteidigen in der Ukraine Soldatinnen und Soldaten ihre Heimat und setzen dafür ihr Leben ein.  
Und Sie wissen, dass der Verteidigungsfall auch für Deutschland tatsächlich eintreten kann.

Liebe Rekrutinnen und Rekruten,
ich bin sicher, Sie haben Ihre Entscheidung nicht leichtfertig getroffen. Sondern wohlüberlegt.
Ich bin sicher, Sie haben diesen großen Schritt mit ihren Familien und Freunden diskutiert.
Dass Sie heute hier stehen, zeugt von Ihrem überragenden Verantwortungsbewusstsein.
Von Stärke und Mut.
Sie stellen sich in den Dienst unseres Landes.
Sie sind bereit, unsere freiheitliche Gesellschaft zu verteidigen.
Dafür danke ich Ihnen von Herzen – auch im Namen aller Abgeordneten des Deutschen Bundestages.

Die Gelöbnisse der Bundeswehr finden regelmäßig auch vor dem Reichstagsgebäude statt, weil die Bundeswehr eine Parlamentsarmee ist.

Wir Abgeordneten treffen grundlegende Entscheidungen zur Bundeswehr - etwa zu Auslandseinsätzen. Das ist eine wichtige und weitreichende Aufgabe: Wir müssen genau begründen, mit welchem Ziel wir unsere Soldatinnen und Soldaten in Auslandseinsätze schicken.
Über 3.800 Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr verteidigen heute im Ausland Frieden und Sicherheit. Sie nehmen an 19 Einsätzen und einsatzgleichen Verpflichtungen teil – unter Führung der UN, der NATO oder der EU. Sie sind unter anderem in Jordanien im Einsatz, in Mali, im Südsudan, im Kosovo und in der Ägäis. In Litauen sichert die Truppe mit unseren Bündnispartnern die NATO-Ostflanke.
Um unsere Partner in Mittel- und Osteuropa zu schützen, werden künftig noch mehr deutsche Truppen an der Ostflanke stationiert.
 

Ich möchte Ihnen und Ihren Angehörigen versichern, dass wir uns dieser großen Verantwortung sehr bewusst sind. Die Entscheidungen über Auslandseinsätze macht sich niemand leicht. Im Gegenteil: Wir wissen um die Bedeutung.

Genau deshalb stimmen wir über diese Einsätzen in der Regel namentlich ab, um ihnen ein großes Maß an Aufmerksamkeit zu geben.

Und genau deshalb zeigen wir jetzt auch bei der Aufarbeitung des Afghanistan-Einsatzes, dass wir aus Fehlern lernen und unsere Soldatinnen und Soldaten zukünftig noch besser schützen wollen. 

Vor allem auch in Ihrem Sinne als Rekrutinnen und Rekruten hat der Deutsche Bundestag einen Untersuchungsausschuss eingesetzt, um den Abzug aus Afghanistan zu analysieren.

Darüber hinaus haben wir die Einsetzung einer Enquete-Kommission „Lehren aus Afghanistan für das künftige vernetzte Engagement Deutschlands“ beschlossen.

Nach 20 Jahren ist es wichtig, dass der Gesamteinsatz in Afghanistan in einer Kommission aus Abgeordneten und Expertinnen und Experten umfassend bewertet wird.

Die Erkenntnisse aus Untersuchungsausschuss und  Enquete-Kommission müssen praxisnah und zukunftsgerichtet aufbereitet werden.

Ich bin mir sicher: Der Deutsche Bundestag wird die richtigen Lehren ziehen für die Gestaltung zukünftiger Auslandseinsätze.

Sehr geehrte Damen und Herren,
unsere Armee ist fest in unserer Demokratie verankert. Die Soldatinnen und Soldaten gehören zu unserer Gesellschaft. Sie kommen aus ihrer Mitte.
Als Staatsbürgerinnen und Staatsbürger stehen sie unter dem Schutz unseres Grundgesetzes. Und diesen Schutz können sie auch geltend machen.

Sie, liebe Soldatinnen und Soldaten, können sich immer direkt an Eva Högl wenden, die Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages. Sie wacht darüber, dass Ihre Grundrechte geachtet werden.

Die Bundeswehr ist Teil unserer Demokratie. Sie ist den Werten unseres Grundgesetzes in besonderer Weise verpflichtet.

Soldatinnen und Soldaten verteidigen nicht nur unser Territorium und unsere Bevölkerung. Sie schützen auch unsere freiheitlich demokratische Grundordnung. Die Bundeswehr ist hierfür unverzichtbar.

Sehr geehrte Damen und Herren,
die Verankerung der Bundeswehr in unserer Demokratie ist eine entscheidende Lehre, die wir aus unserer Geschichte gezogen haben.

Seit mehr als zwei Jahrzehnten legen Rekrutinnen und Rekruten ihr Gelöbnis am 20. Juli ab. Dem Jahrestag des gescheiterten Attentats auf Adolf Hitler. Die Verteidigungsminister hat es in ihrer Rede gerade betont.

Hier im Bendlerblock versuchte der militärische Widerstand 1944 den Staatsstreich gegen das NS-Regime. Noch am selben Abend wurden Claus Schenk Graf von Stauffenberg und weitere Anführer des Umsturzversuchs an diesem Ort erschossen. Hunderte weitere Widerständler wurden nach dem 20. Juli hingerichtet.
Der Tag des gescheiterten Attentats auf Hitler und der Bendlerblock sind uns eine Mahnung.
Sie haben Recht, Frau Ministerin: An keinem anderen Tag ist es passender, ein feierliches Gelöbnis auf die Werte unseres Grundgesetzes abzulegen!

Stauffenberg war zwar alles andere als ein Verfechter der parlamentarischen Demokratie. Doch der gescheiterte Putsch erinnert uns daran, dass wir Verantwortung für unsere Demokratie tragen.

Diese staatsbürgerliche Verantwortung kann für Soldatinnen und Soldaten bedeuten, rechtswidrige Befehle zu verweigern. Gehorsam endet, wo Unrecht herrscht. 
Wo Befehle von einem erkennbar verbrecherischen Regime ausgehen.
Das erkennt unsere Verfassung an, und zwar ausdrücklich.
Das Grundgesetz sieht ein Recht auf Widerstand vor gegen jeden, der es unternimmt, die verfassungsmäßige Ordnung in Deutschland zu beseitigen.

Der Blick auf die russischen Kriegsverbrechen in Butscha, Irpin oder Mariupol macht deutlich, warum wir dieses Selbstverständnis pflegen müssen.

Die Bundeswehr dient dem Frieden, der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit. Das ist eine zentrale Lehre aus den deutschen Verbrechen der Vergangenheit.

Zu diesen Lehren gehört auch, dass wir uns eng mit unseren internationalen Partnern abstimmen. Die Bundeswehr handelt nicht im Alleingang. Sie fügt sich ein in die multilaterale Ordnung, die wir nach dem Zweiten Weltkrieg zur Ächtung des Krieges und zum Schutz der Menschenrechte errichtet haben.

Der russische Krieg gegen die Ukraine macht uns wieder bewusst, wofür wir die Bundeswehr brauchen. Nach den Jahren des Sparens, der Aussetzung der Wehrpflicht und der Standortschließungen.

Mit der Zeitenwende und dem Sondervermögen können wir jetzt aus der Not des Krieges mehr und mehr eine Tugend der Wertschätzung für die Bundeswehr machen.

Die Bundeswehr ist Teil unserer Gesellschaft. Dazu gehört für mich auch, dass sie in der Gesellschaft Anerkennung und Respekt erfährt.

Nur dann werden wir auch in Zukunft engagierte junge Menschen wie Sie finden, für die der Dienst bei der Bundeswehr ein attraktiver Beruf ist.

Trotz aller Mängel und Nachholbedarfe betone ich ausdrücklich: Unsere Bundeswehr gehört in einigen Einsatzbereichen zur Weltspitze. Sie zeigt militärische Fähigkeiten, auf die wir stolz sind.  

Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten, dass wir dies zeitnah für alle Einsatzbereiche sagen können.

Sehr geehrte Damen und Herren,
ich war vor wenigen Wochen im Einsatzführungskommando der Bundeswehr.
Dort habe ich auch mit Soldatinnen und Soldaten im Auslandseinsatz gesprochen.

Ich sehe immer wieder mit Hochachtung, wie motiviert und professionell Sie arbeiten.
Egal ob bei Heer, Marine oder Luftwaffe.
Egal ob in Deutschland oder im Auslandseinsatz.

Sie leisten einen existentiellen und komplexen Dienst für unser Land.
Sie begeben sich in Gefahr, damit wir in Freiheit und Sicherheit leben können.
Sie sind vor Ort bei den Menschen, wenn große Not herrscht.

Während der Flutkatastrophen in Nordrhein-Westfalen und in Rheinland-Pfalz im vergangenen Sommer zum Beispiel.
Oder bei Ihrer wertvollen Unterstützung der Gesundheitsämter und der Impfzentren während der Pandemie.
Auch dafür danke ich Ihnen und Ihren Kameradinnen und Kameraden noch einmal sehr.


Liebe Rekrutinnen und Rekruten,
Sie entscheiden sich heute für einen einzigartigen und vielseitigen Beruf.
Der soldatische Dienst fordert vollen Einsatz.
Und bringt eine besondere Belastung für Ihre Familien und Freunde mit sich.
Ich kenne dieses besondere Belastung, aber auch diesen Stolz auch aus meiner eigenen Familie.

Deswegen möchte ich auch in Richtung Ihrer Familien und Angehörigen sagen: Danke, dass Sie unsere Rekrutinnen und Rekruten auf diesem Weg unterstützen.
Auch Sie leisten mit Ihrer Unterstützung einen wichtigen Beitrag für Sicherheit, Demokratie und Menschenrechte.
 

Liebe Rekrutinnen und Rekruten,
gleich werden Sie Ihre feierliche Verpflichtung als Soldatin oder Soldat sprechen.
Bitte sprechen Sie Ihr Gelöbnis auch in dem Bewusstsein, dass der Deutsche Bundestag und die deutsche Bevölkerung hinter Ihnen stehen.

Ich wünsche Ihnen auch im Namen der Abgeordneten beruflich und persönlich alles Gute und viel Soldatenglück für Ihre Laufbahn.


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16.09.2022 | Parlament

Eröffnung durch Bundestagspräsidentin Bärbel Bas: G7-Konferenz der Parlamentspräsidentinnen und Parlamentspräsidenten

[Es gilt das gesprochene Wort]

Liebe Kolleginnen und Kollegen, 
auch heute begrüße ich Sie sehr herzlich 
– hier im Deutschen Bundestag. 

Schon unser gemeinsamer Abend gestern hat viel Gelegenheit geboten, Gedanken auszutauschen. 

Ich hatte gestern darüber gesprochen: 
Viele Orte unserer Hauptstadt erzählen von den Themen, denen sich unsere Konferenz widmet. 

Für das Reichstagsgebäude, gilt das ganz besonders. 
Sein Wahrzeichen ist die Kuppel. 
Gefertigt aus Glas und Stahl 
– ein Symbol für Offenheit, Transparenz und Stabilität. 
Das wünschen wir uns auch für die Demokratie, die wir in diesem Land aufgebaut haben. 

Wir werden heute Nachmittag darüber sprechen, welche Rolle politische Bildung spielt, um Demokratien ein solides Fundament zu sichern. 

Zuvor geht es um eine ganz andere Form von Architektur: 
Die Sicherheitsarchitektur Europas und der Welt. 
Der russische Überfall auf die Ukraine hat vieles niedergerissen, was wir in den vergangenen Jahrzehnten aufgebaut haben. 
Oder wie Politikwissenschaftler Professor Herfried Münkler schrieb. 
Er hat die „europäische Friedensordnung nicht nur erschüttert, sondern buchstäblich zertrümmert“.
Zitat Ende. 

Der Angriff auf die Ukraine hat die deutsche G7-Präsidentschaft überschattet und geprägt. 
Er ist zugleich ein Angriff auf unsere gemeinsamen Werte und unsere Vorstellungen von freiheitlichen Gesellschaften.  

Mit dem Ausschluss Russlands aus diesem Kreis haben wir bereits nach der Annexion der Krim 2014 ein Zeichen gesetzt. Dieser Schnitt war zweifelsohne richtig, wenn auch wohl sehr spät.
Warnzeichen gab es schon früher: 
Schritt für Schritt hat sich Russland unter Putin von den Prinzipien der Demokratie abgewandt.

Macht wurde monopolisiert, 
die Presse- und Meinungsfreiheit massiv beschnitten, 
Menschenrechte systematisch verletzt. 

Tschetschenien, Georgien oder Syrien wurden zu Sinnbildern für Putins kompromisslose Bereitschaft, seine Ziele mit Gewalt zu verfolgen. 

Ich sage selbstkritisch: 
Gerade wir in Deutschland haben zu lange gebraucht, um daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen. 
Wir unterlagen zu lange dem Trugschluss, Russland durch wirtschaftliche Verflechtung einbinden zu können. 

Und wir haben denen zu wenig zugehört, die uns gewarnt haben. 

Die Schreckensbilder der Bombardements in der Ukraine und aus Butscha, Irpin und anderen Orten zeugen von der unmenschlichen Kriegsführung der russischen Armee. 
Russlands Präsident bricht mit allen Regeln des Völkerrechts. 

Für ihn ist Freiheit eine Bedrohung, 
Toleranz ein Makel, 
Empathie eine Schwäche. 

Aber: Putin hat nicht mit unserer Geschlossenheit und nicht mit unserer Entschlossenheit gerechnet. 

Unsere Regierungschefs haben in Elmau ein klares Signal ausgesendet: Dieser Gipfel war Ausdruck unserer festen Solidarität mit der Ukraine. 

Diese Solidarität heißt konkret: 
Weitere harte Sanktionen gegenüber Russland, konkrete finanzielle und militärische Hilfe 
sowie politische Unterstützung für die Ukraine. 

Ich bin überzeugt: Die ukrainische Zukunft liegt in der Europäischen Union. 
Wir müssen das Land auf dem Weg dorthin nach Kräften unterstützen.
Im Deutschen Bundestag haben wir erhebliche Mittel mobilisiert: 
Um die Ukraine in ihrem Verteidigungskampf zu stärken. 
Um das Leid der Menschen zu lindern. 
Und die internationalen Auswirkungen des Kriegs abzufedern.

Die Kriegsfolgen treffen sehr viele Menschen hart – überall auf der Welt. 
Oft gerade die Menschen, die ohnehin mit großen Problemen zu kämpfen haben. 

Für über 800 Millionen weltweit hungernde Menschen, ist durch den Krieg Getreide unerschwinglich geworden. 

Eine lebensbedrohliche Entwicklung.
Bei uns zeigen sich die Auswirkungen des Konflikts momentan vor allem in steigenden Preisen. 
Und auch hier trifft dieses Problem am härtesten diejenigen, die schon lange auf vieles verzichten müssen. Die weder hohe Einkommen noch große Ersparnisse haben. 

Trotzdem stehen die Deutschen in ihrer überwiegenden Mehrheit dazu, die Ukraine zu unterstützen. 
Und nehmen dafür auch persönliche Einbußen in Kauf. 

Weil es richtig ist, zu helfen. 

Die Menschen in der Ukraine kämpfen nicht nur um ihr Leben, sondern um die Souveränität ihres Landes. 

Sie haben Freiheit und Demokratie gewählt. 
Wir dürfen sie in diesem Kampf nicht alleine lassen. 

Täglich wächst die Zahl der Toten und Verwundeten, das Ausmaß der Zerstörung. 
Die Zahl der Geflüchteten wird auf mehr als 10 Millionen geschätzt. 

Der Widerstand der Ukrainerinnen und Ukrainer ist mehr als beeindruckend. Er zeigt gerade in den vergangenen Tagen große Erfolge. Insgesamt bleibt die militärische Offensive Russlands weit hinter den Zielen ihrer Planer zurück. 
Auch, weil sich die Ukraine auf die Hilfe ihrer internationalen Partner verlassen kann. Auf uns. 

Umso wichtiger ist es, nicht nur unsere Unterstützung, sondern auch die Sanktionen gegenüber Russland aufrechtzuerhalten. 
Sie zeigen Wirkung. 

Dennoch müssen wir uns fragen, 
wie wir sie noch treffsicherer ausgestalten können. 
Und wie wir die Kollateralschäden minimieren, die uns selbst treffen.

Es gilt zugleich vorauszudenken. 
An die Zeit, wenn die Waffen hoffentlich irgendwann wieder schweigen. 

Die Ukraine muss wiederaufgebaut werden. Planvoll, konsequent, nachhaltig. 
Auch dabei braucht sie unsere Hilfe. 

Was folgt aus dem Krieg für unsere Staatenwelt? Und wie können wir uns im Kreise der demokratischen Mächte für das Kommende wappnen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen,
den von Putin entfesselten Krieg spürt die ganze Welt. 
Er hat Krisen hervorgebracht, bestehende Gefahrenlagen verschärft. 
Er raubt uns Kraft für wichtige Aufgaben, die keinen Aufschub dulden. 

Wir stehen vor einer weltweiten Zwillingskrise:  Sicherheitspolitik einerseits – Klima- und Umweltpolitik andererseits. 

Nur mit großer Entschlossenheit, Geschlossenheit und langem Atem werden wir sie bewältigen. 

Wir brauchen eine souveräne Ukraine und eine stabile globale Sicherheitsordnung. 

Auf dieser Basis können wir uns wieder auf die Weltrisiken konzentrieren, die uns bedrohen: 

Den Raubbau an unserem Planeten, mit all seinen Folgen – Extremwetter und Artensterben, Hunger und Missernten. 

Neue Pandemien drohen, neue Ressourcenkonflikte zeichnen sich ab: 
Um Trinkwasser, Rohstoffe und Energie. 
Mit Folgen für die globale Dynamik von Flucht, Migration – und Krieg. 

Der Ausgang dieses Krieges wird entscheiden: 
Wie viele Autokraten schrecken wir davon ab, mit militärischem Einsatz auf politischen Gewinn zu spielen?

Es liegt an uns, Autokraten wie Putin in ihre Schranken zu weisen. Die Kraft dazu haben wir: ökonomisch, militärisch, politisch. 

Und wir müssen zusammenstehen, gemeinsame Perspektiven und Positionen entwickeln und verfechten. 
Wir müssen uns besinnen: Auf den besonderen Wert unserer Wertegemeinschaft. 
Darauf, dass sie zugleich eine Schicksalsgemeinschaft ist. 
Die beweisen muss, dass Demokratien die Mittel und die Kraft haben, die Zukunft zu meistern. 

Liebe Kolleginnen und Kollegen,
die Demokratie als Staatsform hat im Jahr 2022 keinen einfachen Stand. 

Die Hoffnung auf ihren unaufhaltsamen Siegeszug hat sich nicht erfüllt. 
In Teilen scheint sie sogar auf dem Rückzug zu sein. 

Die jüngere Vergangenheit hat uns gelehrt: Demokratie ist kein Selbstläufer. 
Sie lässt sich nicht aufzwingen. 
Sie stellt sich nicht einfach so ein, wo Handel blüht. 

Trotzdem hat sie eine Kraft, die ihren Gegnern Furcht einjagt. Darum haben sie ihr den Kampf angesagt – nicht zuletzt mit Manipulation, Desinformation und Propaganda.

Online und offline säen die Feinde der Demokratie Angst und Zwietracht. 
Sie verbreiten Lügen, Vorurteile und Verschwörungsmythen. 
Auch dem müssen wir uns entgegenstellen. 
Mit Fakten und Argumenten. 
Mit den Mitteln des Rechtsstaats, der Wissenschaft und – selbstverständlich –  der politischen Bildungsarbeit. 

Als Demokratien müssen wir die Menschen in unseren Ländern auf diesem Weg mitnehmen. Als Parlamente haben wir dazu viele Möglichkeiten.

Indem wir den Dialog suchen. 
Indem wir polarisierende Kräfte zusammenführen,  
gesellschaftlicher Spaltung entgegenwirken, indem wir integrieren und deeskalieren. 

Aber auch klar widersprechen, wenn es notwendig ist.

Indem wir gemeinsam Strategien gegen Populismus, Demagogie und Extremismus suchen. Längst nicht nur im Angesicht dieses Krieges. 

Wir müssen dafür sorgen, dass die Stimme der Vernunft im öffentlichen Diskurs hörbar bleibt.

Liebe Kolleginnen und Kollegen,
in vielerlei Hinsicht sind wir als G7 wieder da, wo wir in den 70er Jahren aufgebrochen sind: 

Wir sind konfrontiert mit einer großen, vielschichtigen Krise – zu groß, als dass wir als einzelne Nationen einen Ausweg finden können. 

Wir sind konfrontiert mit den Grenzen des Wachstums, die uns der Club of Rome bereits vor einem halben Jahrhundert aufgezeigt hat. 

Wir sind konfrontiert mit der Notwendigkeit eines sicherheitspolitischen Umdenkens, das damals in Form des KSZE-Prozesses seinen Niederschlag fand.

Wir haben damals viele Weichen gestellt, die Dinge zum Guten zu wenden. 
Aber auf die Fragen der Gegenwart brauchen wir neue Antworten. 

Ich bin überzeugt, dass wir auch diesmal kluge Antworten finden. 
Und ich freue mich darauf, die Suche gemeinsam mit Ihnen und den Abgeordneten Ihrer Parlamente anzugehen. 

Mit großer Entschlossenheit, 
mit großer Geschlossenheit 
und mit langem Atem.

Herzlichen Dank!
 

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06.09.2022 | Parlament

Begrüßung des israelischen Staatspräsidenten Isaac Herzog im Deutschen Bundestag durch Bundestagspräsidentin Bärbel Bas

[Stenografischer Bericht]

Präsidentin des Deutschen Bundestages, Bärbel Bas:

Sehr geehrter Herr Präsident Herzog!

Sehr geehrte Frau Herzog!

Sehr geehrter Herr Bundespräsident!

Sehr geehrte Frau Büdenbender!

Sehr geehrter Herr Bundeskanzler!

Sehr geehrter Herr Bundesratspräsident!

Sehr geehrter Herr Präsident des Bundesverfassungsgerichts!

Exzellenzen!

Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Verehrte Gäste!

„Die Weltgeschichte kennt kein Beispiel für den Vernichtungsfeldzug, den das nationalsozialistische Deutschland gegen das jüdische Volk geführt hat. … Es ist … keine Sühne denkbar für die Vernichtung des Lebens dieser Millionen von Unschuldigen.“ - Zitat Ende.

Diese Sätze wurden vor 70 Jahren nicht gesagt, als das Luxemburger Abkommen unterzeichnet wurde. Der israelische Außenminister Mosche Scharett verzichtete auf die vorbereitete Ansprache. Auf Bitte Deutschlands.

Konrad Adenauer war das Abkommen mit Israel eine moralische Pflicht. Und eine Herzensangelegenheit. Er war bereit, das Abkommen gegen Widerstände durchzusetzen. Auch gegen Widerstände im damaligen Deutschen Bundestag. Adenauer wusste: Die Mehrheit der Deutschen war damals nicht bereit, die Wahrheit zu hören.

Das Luxemburger Abkommen wurde schweigend unterzeichnet.

Wir eröffnen heute im Deutschen Bundestag eine Ausstellung, die sich diesem Abkommen widmet. Sie zeigt, wie kontrovers die deutschen Zahlungen auch in Israel waren - auch wie zwiespältig sie von den Betroffenen empfunden wurden. Die Ausstellung wurde im Auftrag des Bundesfinanzministers von der Jewish Claims Conference und dem Knesset-Museum konzipiert. Allen Beteiligten möchte ich schon jetzt Danke sagen im Namen des ganzen Hauses.

(Beifall)

Ich zitiere noch einmal Mosche Scharett:

„Die Weltgeschichte kennt kein Beispiel für den Vernichtungsfeldzug, den das nationalsozialistische Deutschland gegen das jüdische Volk geführt hat. … Es ist … keine Sühne denkbar für die Vernichtung des Lebens dieser Millionen von Unschuldigen.“

Diese Worte vor 70 Jahren - sie wurden nicht ausgesprochen. Für uns heute unvorstellbar.

Wir übernehmen heute die Verantwortung für die deutschen Verbrechen. Diese Einsicht hat sich erst im Laufe der Jahrzehnte und gegen starke Widerstände durchgesetzt. Wir verdanken sie unter anderem der Arbeit der Gedenk- und Erinnerungsstätten. Und vor allem dem Engagement vieler Opfer von einst, die die Kraft gefunden haben, über ihre Erlebnisse zu sprechen.

(Beifall)

So wie die Auschwitz-Überlebende Eva Szepesi, die gemeinsam mit ihrer Enkelin an der heutigen Ausstellungseröffnung teilnimmt.

Sehr geehrte Frau Szepesi, herzlich willkommen im Deutschen Bundestag!

(Beifall)

Deutschland kann nicht wiedergutmachen, was nie mehr gutzumachen ist: der millionenfache Mord an den europäischen Juden.

Umso mehr müssen wir die Erinnerung an die Opfer wachhalten. Und sie auch an künftige Generationen weitergeben. Deswegen freut es mich, auf der Tribüne auch viele junge Menschen begrüßen zu können, die sich für ein Gedenken und gegen Antisemitismus engagieren.

(Beifall)

Um es noch einmal sehr deutlich zu betonen: Aus der Vergangenheit folgt für uns Deutsche die Verantwortung auch für die Gegenwart.

Jüdinnen und Juden müssen in Deutschland sicher sein - deutsche Juden, israelische Juden, Juden aus aller Welt. Es ist zutiefst schmerzhaft, wenn wir diesem Anspruch nicht gerecht werden.

(Beifall)

So wie bei dem Attentat auf die israelische Olympia-Mannschaft in München, an dessen Opfer wir gestern erinnert haben.

Auch ich möchte Sie, Herr Präsident, und Angehörige der Opfer um Vergebung für die Fehler und Versäumnisse Deutschlands von 1972 und in den quälenden Jahrzehnten danach bitten.

(Beifall)

Ich bin froh, dass die Bundesregierung und die Angehörigen der Opfer eine Einigung gefunden haben. Keine Entschädigungszahlung kann diese Morde ungeschehen machen oder die tiefen Wunden der Angehörigen heilen. Aber diese Einigung bedeutet eine Anerkennung ihres Leids. 50 Jahre nach dem entsetzlichen Attentat liegt darin zwar ein spätes, aber ein wichtiges Zeichen der Verantwortung. Und es ist wichtig, dass die Geschehnisse von damals untersucht und aufgearbeitet werden.

(Beifall)

Auch heute gibt es Hass, der sich gegen Juden und gegen Israel richtet. Es ist eine Schande, dass jüdische oder israelische Einrichtungen nur unter Polizeischutz sicher sind. Dass auf Demonstrationen gegen Israel gehetzt wird. Dass in sozialen Netzwerken Israel der Tod gewünscht wird.

Wir alle müssen entschieden gegen diesen Hass und diese Hetze vorgehen. Mit allen Mitteln, die uns zur Verfügung stehen.

(Beifall)

Antisemitische Taten kommen nicht aus dem Nichts. Sie werden auch möglich durch Wegsehen, durch falsch verstandene Toleranz, durch Selbstgewissheit.

Antisemitismus ist nicht nur ein Problem der Vergangenheit. Nicht nur ein Problem der anderen. Der Extremisten. Antisemitismus ist mitten unter uns, in der Mitte der Gesellschaft.

Ihm in allen Formen entschieden entgegenzutreten, ist unser aller Verpflichtung.

(Beifall)

Hinzu kommt: Antisemitismus ist subtiler geworden. Er zeigt sich in neuen Formen, die die alte Judenfeindschaft auf den heutigen Staat Israel übertragen. Getarnt als Israelkritik gibt es Antisemitismus auch bei jenen, die sich im Dienst einer guten Sache sehen.

Dem Antisemitismus darf kein Forum geboten werden - nirgendwo auf der Welt und erst recht nicht bei uns in Deutschland!

(Beifall)

Dies gilt übrigens genauso für jeden Versuch, die Einzigartigkeit des Holocausts zu relativieren.

Herr Präsident, Deutschland steht fest an der Seite Israels. Israels Sicherheit ist für Deutschlands Außenpolitik eine Verpflichtung. Deutschland und Israel verbinden gemeinsame Werte von Freiheit und Demokratie. Werte, die in der Ukraine auf brutale Weise verletzt werden. Es ist unerträglich, dass jeden Tag Menschen in einem Angriffskrieg leiden, vertrieben werden oder sogar sterben müssen. Darunter auch Holocaustüberlebende.

Deutschlands Beziehungen zu Israel werden immer von der Vergangenheit geprägt sein. Es ist oft gefragt worden: Können die Beziehungen zwischen Deutschen und Israelis normal sein? Eine Mehrheit in beiden Ländern bejaht das mittlerweile.

Für viele Deutsche ist Israel längst eine Herzensangelegenheit. Sie sind fasziniert von seinem Unternehmergeist, seinem technologischen Know-how, von Israels Kunst und Kultur, Landschaft und Lebenswandel - und vor allem von seinen Menschen. Zwischen unseren Ländern gibt es einen regen Austausch, und es ist wichtig, dass möglichst viele Menschen daran teilnehmen - auch jene, die nicht studieren, in internationalen Unternehmen arbeiten oder sich privat lange Flugreisen leisten können.

Partnerschaften zwischen Betrieben können helfen, Begegnungen möglich zu machen. Der Bundestag profitiert seit vielen Jahren von einem regelmäßigen Austausch mit der Knesset. Ich würde es auch begrüßen, wenn es uns gemeinsam gelingt, ein deutsch-israelisches Jugendwerk einzurichten; zumindest werde ich mich dafür einsetzen.

(Beifall)

Wir brauchen die persönliche Begegnung für ein tiefgreifendes und auch nachhaltiges Verständnis füreinander. 35 Jahre nach dem Luxemburger Abkommen - im Jahr 1987 - besuchte zum ersten Mal ein israelischer Präsident Deutschland. Er war auch hier im Reichstagsgebäude zu Gast. Damals stand die Mauer noch in Sichtweite. In seiner Berliner Rede sprach Chaim Herzog von einer - ich zitiere - „unsichtbaren Mauer zwischen unseren beiden Völkern, einer Mauer, vor der wir nur schweigend stehen können“.

Herr Präsident, Ihr Vater war der erste Präsident Israels, der das Reichstagsgebäude aufsuchte. Sie sind der fünfte israelische Präsident, der vor diesem Deutschen Bundestag heute das Wort ergreift.

So unglaublich es Ihrem Vater erschien - es ist uns gelungen, die Mauer des Schweigens abzutragen. Für uns Deutsche ist es ein Geschenk: Israelis und Deutsche sprechen miteinander - über die zutiefst schmerzhafte Vergangenheit, aber auch über die gemeinsame hoffnungsvolle Zukunft.

(Beifall)

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07.09.2022 | Parlament

Worte von Bundestagspräsidentin Bärbel Bas vor Eintritt in die Tagesordnung zur Würdigung Michail Gorbatschows

[Stenografischer Dienst]

Präsidentin Bärbel Bas:

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich eröffne die Sitzung.

Sehr geehrter Herr Bundespräsident! Sehr geehrter Herr Bundeskanzler! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir trauern um Herrn Michail Sergejewitsch Gorbatschow, der am 30. August verstorben ist.

Präsident Gorbatschow war ein Mann des Friedens. Er veränderte die Welt. Zum Besseren. Er machte möglich, was über Jahrzehnte undenkbar schien: den Kalten Krieg friedlich zu beenden und die Teilung unseres Landes und unseres Kontinents zu überwinden.

Wir Deutschen haben Michail Gorbatschow viel zu verdanken.

(Beifall im ganzen Hause)

Er hat die Geschichte unseres Landes und das Leben von Millionen Menschen verändert. Sein Mut und seine Haltung waren entscheidend für die Wiedererlangung unserer staatlichen Einheit - diesen einzigartigen und großen Moment unserer Geschichte. Das werden wir nicht vergessen.

Er war Wegbereiter der Wiedervereinigung. Mit seinem unverhofften Aufbruch in eine neue Politik hat er den Menschen in der DDR Mut gemacht, sich selbst zu ermächtigen. Glasnost und Perestroika - warum sollte das nicht auch in der DDR möglich sein? Auch sein Besuch in Ostberlin im Oktober 1989 zum 40. Staatsjubiläum der DDR trug dazu bei, dass die Deutschen in der DDR gegen die SED-Diktatur aufbegehrten.

Als Frauen und Männer 1989 in immer größerer Zahl in Plauen, in Leipzig, in Ostberlin, in Dresden, in Schwerin, in Magdeburg und an vielen anderen Orten in der DDR auf die Straße gingen, fragten sich viele: Werden wieder Panzer rollen? - Doch die sowjetischen Soldaten blieben in ihren Kasernen. Das Ende der DDR und die deutsche Wiedervereinigung erfolgten friedlich. Die US-amerikanische Publizistin Anne Applebaum schrieb - ich zitiere -: Gorbatschows radikalste Handlung war der Verzicht auf Gewalt. - Zitat Ende.

Gorbatschow versuchte letztlich nicht, das Sowjetimperium mit militärischer Gewalt oder nuklearen Drohungen zusammenzuhalten. Oder sich selbst mit Gewalt an die Macht zu klammern. Seine Politik des erklärten Gewaltverzichts und seine Aufgabe des Moskauer Herrschaftsanspruchs gegenüber den Satellitenstaaten stärkten die Bürgerrechtsbewegungen in Mittel- und auch Osteuropa. Seine Entscheidungen führten zur Freiheit für viele Millionen Menschen. Michail Gorbatschow selbst sagte dazu 1999, zehn Jahre nach dem Mauerfall, hier an diesem Rednerpult - ich zitiere ihn -:

... die Tatsache, dass die Wiedervereinigung gerade damals und gerade auf diese Art und Weise stattgefunden hat, ist ein Verdienst der Völker selbst.

Die Warschauer-Pakt-Staaten sollten selbst über ihren Weg entscheiden können. 1989 und 1990 respektierte Gorbatschow ausdrücklich das Selbstbestimmungsrecht der Völker.

„Der Kalte Krieg ist zu Ende“, verkündete er im Dezember 1989 bei seinem Treffen mit US-Präsident George Bush vor Malta.

Bei seinem Gipfeltreffen mit Helmut Kohl im Nordkaukasus im Sommer 1990 stimmte er auch der NATO-Mitgliedschaft des künftigen wiedervereinigten Deutschlands zu.

Am Ende eines von zwei Weltkriegen, der Blockkonfrontation und der nuklearen Abschreckung geprägten Jahrhunderts erlebten wir einen friedlichen Wandel, der für mich im historischen Rückblick ehrlicherweise ein ganz großes Glück war. Insbesondere für unser Land. Ein Glück, für das wir Michail Gorbatschow dankbar bleiben werden.

(Beifall im ganzen Hause)

Mit seiner Versöhnungsbereitschaft leistete er Unschätzbares für die historische Aussöhnung zwischen Deutschen und Russen. Die Frage nach den künftigen deutsch-sowjetischen Beziehungen bewegte ihn, wie er auch 1990 immer wieder an Helmut Kohl schrieb. Auch wir in Deutschland haben uns eine vertrauensvolle Partnerschaft mit Russland gewünscht. Ich sage mit großem Bedauern, dass eine Partnerschaft mit Russland derzeit nicht möglich ist.

Gorbatschow bezeichnete Vertrauen als den „wichtigsten Faktor in der Weltpolitik“. Mit Vertrauen veränderte er die Welt. Sein Vertrauen zu Bundeskanzler Kohl und auch zu Deutschland öffnete den Weg zur Einheit unseres Landes. Für mich war er einer der großen Vertrauensstifter des vergangenen Jahrhunderts.

Dialog und Vertrauen. Das war die Grundlage seines politischen Handelns. Er hatte den Mut, eingefahrene Wege zu verlassen, die sich als Sackgassen erwiesen. Er baute Vertrauen auf zu US-Präsident Reagan. Und er setzte Vertrauen an die Stelle von Abschreckung und Konfrontation. Das war eine radikale Kursänderung. Dieses Vertrauen wuchs auch, als Gorbatschow von Kompromissen sprach. Diese Vokabel hatte man vorher selten aus Moskau gehört. So brach er ausweglos erscheinende Konflikte auf.

Gorbatschow brachte ein neues Denken in den Kreml. Er suchte die Abkehr vom Gleichgewicht des nuklearen Schreckens. Mit dem INF-Vertrag über die Vernichtung der atomaren Mittelstreckenwaffen läuteten Gorbatschow und Reagan 1987 das Ende des nuklearen Wettrüstens zwischen den Großmächten ein. Mit der Abrüstung wurde der Weg zum friedlichen Ende des Kalten Krieges bereitet. Nach vier Jahrzehnten Ost-West-Konfrontation in Europa!

Für seine Abrüstungspolitik und für seinen neuen Weg in der Außenpolitik erhielt Gorbatschow 1990 den Friedensnobelpreis.

Als Gorbatschow 1985 an die Spitze der Sowjetunion aufstieg, befand sich das Land bereits im Niedergang. Seine Bürgerinnen und Bürger lebten in Resignation. Gorbatschow wollte mit Reformen das Leben der Sowjetbürger verbessern, den Sozialismus weiterentwickeln, ihm ein menschliches Antlitz geben.

Er wollte die Angst in der Beziehung zwischen dem Volk und der Staatsführung ersetzen. Durch Dialog. Auf einmal mischte sich dieser junge Staatsmann bei seiner ersten Dienstreise in das damalige Leningrad unters Volk. Er fragte die Menschen nach ihren Sorgen und Problemen. Und er versprach Änderungen. Seine Offenheit und sein aktives Werben um die Bevölkerung waren geradezu unerhört. Hatte doch das Volk in Angst vor der Macht gelebt und die Macht in Angst vor dem Volk.

„Glasnost“ und „Perestroika“ gingen in den internationalen Sprachgebrauch ein. Die neuen Freiheiten weckten große Hoffnungen. Nun konnte man in der Sowjetunion frei sprechen - ohne Haft befürchten zu müssen. Sogar über die Verbrechen des Stalinismus und den Gulag wurde gesprochen. Archive wurden geöffnet. Neue Zeitungen, Bücher, Erinnerungen erschienen.

Doch den Niedergang des kolonialen Imperiums konnte Gorbatschow nicht mehr aufhalten. Die Sowjetunion war nicht mehr reformierbar. Gorbatschow, der Schritt für Schritt vorgehen wollte, entglitt die Kontrolle über sein eigenes Land. Im August 1991 wurde gegen ihn geputscht. Die Völker der Sowjetunion strebten nach Freiheit und Unabhängigkeit. Am 25. Dezember 1991 löste sich die Sowjetunion auf.

Es gibt wohl wenige Politiker, die in Deutschland so sehr verehrt wurden wie er. Und wir werden ihn als großen Freiheitsgeber in Erinnerung behalten.

Die sehr unterschiedlichen Reaktionen in Russland, Mittel- und Osteuropa und auch in Deutschland nach seinem Tod zeigen nicht nur die Vielschichtigkeit seines Wirkens. Sie zeugen auch von grundlegenden Missverständnissen und der Tragik seines politischen Lebens. Er wurde einsam im eigenen Land.

In Russland werden ihm der Zerfall des Sowjetimperiums und die Not der 90er-Jahre angelastet. Er litt unter dieser Entfremdung von seinem eigenen Volk.

Im Südkaukasus und im Baltikum erinnert man sich schmerzhaft an das brutale Vorgehen gegen friedliche Demonstranten 1989 in Tiflis, den Schwarzen Januar 1990 in Aserbaidschan und den Blutsonntag von Vilnius 1991 während seiner Amtszeit.

Es fand später - trotz aller Bewunderung und Dankbarkeit - auch eine gewisse Entfremdung mit dem Westen statt, etwa in der Bewertung der russischen Außenpolitik von Putin. Gorbatschow war vom Westen durchaus auch enttäuscht. Er machte es sich dabei aber nicht leicht; er zog sich nicht zurück, sondern engagierte sich weiter.

Gorbatschows Verdienste um das Ende des Kalten Krieges und die Wiedervereinigung unseres Landes und unseres Kontinents bleiben einzigartig. Die unterschiedlichen Reaktionen zeigen aber - wie Reinhard Veser in der „FAZ“ vergangene Woche anmerkte -, welche Missverständnisse und Enttäuschungen seit Jahren zwischen Russland und dem Westen bestehen.

Gerade wir Deutschen haben zu lange Gorbatschows Streben nach Verständigung, Frieden und Partnerschaft als Grundlage unserer Beziehungen mit Russland vorausgesetzt. Dabei haben wir übersehen oder vielleicht auch nicht wahrhaben wollen, dass sich Russland unter Putin längst und radikal von Gorbatschows Zielen abgewandt hatte.

Die Entwicklung in seiner Heimat besorgte Gorbatschow. Er rief die Regierenden in Russland auf, keine Angst vor den Menschen zu haben und auch ihre Freiheit nicht zu unterdrücken. Gleichzeitig setzte er Vertrauen in die russische Zivilgesellschaft - besonders in die jungen Menschen. „Russlands Zukunft kann nur Demokratie bedeuten“, schrieb er 2019. Gorbatschow war trotz aller Rückschläge und Defizite zutiefst davon überzeugt, dass es letztlich kein Zurück zur totalitären Vergangenheit gebe. Er war sich sicher, dass nur eine demokratische Entwicklung seinem Land eine Zukunft bieten kann.

Vor wenigen Jahren sagte Michail Gorbatschow in einem Interview:

Wir wollten die Mauer des Misstrauens zwischen Ost und West beseitigen, überhaupt jede Mauer zwischen Staaten, zwischen Völkern, zwischen Menschen.

Zwischen Russland und Europa klafft heute ein tiefer Graben, dort, wo nach Gorbatschows Vision ein gemeinsames europäisches Haus entstehen sollte. Mit Russland und mit einer gemeinsamen Sicherheitsarchitektur. Im Juni 1990 schrieb er an Helmut Kohl, dass die Überwindung des Blocksystems und die Gestaltung neuer Sicherheitsstrukturen im gesamteuropäischen Geiste zu suchen sei. Es ist Russland, das unter Putin mit diesem Geist gebrochen hat. Und das ist ein tragischer Fehler.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der FDP und der LINKEN sowie bei Abgeordneten der AfD)

Es ist Russland, das die Ukraine angreift und mit Waffengewalt die europäische Friedensordnung zerstört.

Gorbatschow war ein Mann des Friedens. Als Kind hatte er den Zweiten Weltkrieg erlebt. Und er wollte die Welt von ihrer größten Bedrohung befreien. Immer wieder mahnte er zur atomaren Abrüstung und warnte eindringlich vor der Gefahr eines neuen Krieges. Eine neuerliche Konfrontation Russlands mit dem Westen blieb bis zuletzt seine größte Sorge.

Michail Gorbatschow stand für Gewaltverzicht, für Freiheit und für die Selbstbestimmung der Völker. Er stand für eine Weltordnung, in der Staaten durch Dialog und auf Grundlage des Rechts Konflikte beilegen und gemeinsame Lösungen für globale Probleme suchen. Es schmerzt uns zutiefst, dass alles, wofür er stand, heute auf so eklatante Weise verletzt und zerstört wird.

Gorbatschows Mut kann uns aber auch in diesen dunklen Stunden Zuversicht vermitteln für die großen Herausforderungen, vor denen wir jetzt stehen. Er war Humanist. Er glaubte an die Menschen und ihre Möglichkeiten. „Man kann, wenn man will“, betonte er immer wieder. Selbst unter schwierigen Bedingungen lassen sich, so meinte er, neue Lösungen im Interesse der Weltgemeinschaft finden. Man darf nicht aufgeben. Und sein Handeln war das beste Beispiel dafür.

(Beifall im ganzen Hause)

Die Welt muss nicht bleiben, wie sie ist. Auch nicht nach diesem brutalen Krieg, den Russland gegen die Ukraine führt. Es kann ein besseres Morgen, ein besseres Übermorgen geben. Aber der Weg dahin wird sicherlich lang und auch steinig. Wir brauchen mutige Menschen, die für eine friedliche, gerechte und nachhaltige Welt bereit sind, Risiken einzugehen und eingetretene Pfade zu verlassen, die bereit sind, neu zu denken - und neu zu handeln, Politiker und Persönlichkeiten wie Michail Sergejewitsch Gorbatschow.

Mit ihm verliert das deutsche Volk einen treuen Freund.

Ich verneige mich vor dem großen Weltveränderer und dem großartigen Menschen.

Ich möchte Sie jetzt bitten, sich als Zeichen des Respekts, unserer Dankbarkeit und unserer Trauer im Gedenken an Michail Gorbatschow für eine Schweigeminute von den Plätzen zu erheben.

(Die Anwesenden erheben sich)

Ich danke Ihnen. Bitte nehmen Sie wieder Platz.

Wir unterbrechen die Sitzung jetzt und werden um 9.30 Uhr mit der Sitzung fortfahren.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der AfD und der LINKEN)

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09.09.2022 | Parlament

Würdigung Ihrer Majestät Königin Elizabeth II. durch Bundestagspräsidentin Bärbel Bas

[Stenografischer Dienst]

Präsidentin Bärbel Bas:

Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie heute Morgen. Die Sitzung ist eröffnet. Bitte nehmen Sie Platz.

Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir gedenken heute Ihrer Majestät Königin Elizabeth II., Königin des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland. Königin Elizabeth II. verstarb gestern im Alter von 96 Jahren. Über 70 Jahre war sie Staatsoberhaupt des Vereinigten Königreichs und der anderen Staaten des Commonwealth, so lange wie kein britischer Monarch vor ihr. Die meisten Menschen können sich eine Welt ohne Königin Elizabeth II. nicht vorstellen. Sie war die Monarchin des Jahrhunderts.

1926 geboren, umfasste ihr Leben tiefgreifende politische und soziale Umbrüche im Vereinigten Königreich und in Europa. Sie erlebte den Zweiten Weltkrieg, das Ende des britischen Kolonialreichs, den Kalten Krieg und den Fall der Mauer, den Nordirland-Konflikt, den Beitritt Großbritanniens zur Europäischen Union und auch den Brexit und die Coronapandemie. Sie stand für Frieden in Europa und sorgte sich schon vor Jahren, dass eine neue Trennlinie in Europa drohte.

Erst im Juni hat das Vereinigte Königreich ihr 70. Thronjubiläum gefeiert. Es waren Tage der Freude und des Stolzes auf die Queen als Staatsoberhaupt im Vereinigten Königreich und im gesamten Commonwealth. Sie führte ein Leben im Dienst ihres Volkes - mit Klarsicht, Weisheit und großer Disziplin. Aber auch mit Humor hat sie den Zusammenhalt im Vereinigten Königreich gestärkt. Zur Neutralität verpflichtet, wirkte sie mit ihrer moralischen Autorität. Königin Elizabeth II. stand für Werte und Beständigkeit - in sieben Jahrzehnten, die durch so viele tiefgreifende Umbrüche geprägt waren.

Sie war eine Ausnahmepersönlichkeit und ein Vorbild weit über die Grenzen des Vereinigten Königreichs hinaus. Überall auf der Welt genoss sie Respekt, Bewunderung und Sympathien. Das lag auch an ihrem Einsatz für den Frieden. Wir Deutschen sind ihr zutiefst dankbar dafür.

Während ihrer Regentschaft wurde aus den Beziehungen der einstigen Kriegsgegner Großbritannien und Deutschland eine Freundschaft. Daran hatte Königin Elizabeth II., die im Zweiten Weltkrieg in der Frauenabteilung des britischen Heeres diente, erheblichen Anteil.

Bei ihrem Staatsbesuch 2015, der ihr letzter Staatsbesuch überhaupt bleiben sollte, bezeichnete sie die Beziehungen zwischen unseren Ländern als „eine der unumkehrbaren Veränderungen zum Besseren“ in ihrer Lebenszeit. Es ging ihr, wie sie es ausdrückte, um eine „vollständige Aussöhnung“. Immer wieder hat sie sich für diese Aussöhnung und Freundschaft starkgemacht. Welche Bedeutung unsere Verständigung für sie hatte, zeigen ihre vielen und ausführlichen Staatsbesuche in Deutschland, die uns noch in klarer und sehr guter Erinnerung sind. Auch die, die Jahrzehnte zurückliegen.

Jeder ihrer Besuche in Deutschland brachte viele Tausend Bewunderer auf die Straße. Britische Medien berichteten 1965 über ein wahres Queen-Fieber in Deutschland. Als erstes britisches Staatsoberhaupt seit dem Zweiten Weltkrieg und erste britische Monarchin seit 1909 besuchte die Queen 1965 die Bundesrepublik Deutschland. Elf Tage lang reiste die Königin, begleitet von ihrem Mann Prinz Philip, damals durch die Bundesrepublik. 20 Stationen umfasste diese erste Reise, darunter auch meine Heimatstadt Duisburg. Immer wieder besuchte sie danach Deutschland. So reiste sie im Oktober 1992 fünf Tage durch das wiedervereinte Deutschland.

Deutschland hat Königin Elizabeth II. viel zu verdanken. Trotz aller schwierigen Phasen, die in ihre Regentschaft fielen, setzte sie sich bis an ihr Lebensende für Zusammenhalt und Zuversicht ein. In ihrer Grußbotschaft an ihr Volk zum 70. Thronjubiläum sagte sie:

Indem wir darüber nachdenken, was wir in den letzten 70 Jahren erreicht haben, blicken wir auch der Zukunft mit Zuversicht und Enthusiasmus entgegen.

Wir trauern um eine große Staatsfrau.

Der königlichen Familie und dem Vereinigten Königreich gilt unser tief empfundenes Mitgefühl. Wir stehen in diesem Moment der Trauer fest an der Seite des Vereinigten Königreichs.

Ich möchte Sie nun bitten, sich als Zeichen des Respekts, unserer Dankbarkeit und unserer Trauer im Gedenken an Ihre Majestät Königin Elizabeth II., Königin des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland, von den Plätzen zu erheben für eine Schweigeminute.

(Die Anwesenden erheben sich)

- Ich danke Ihnen. Bitte nehmen Sie wieder Platz.

(Die Anwesenden nehmen wieder Platz)

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06.09.2022 | Parlament

Rede von Bundestagspräsidentin Bärbel Bas zur Eröffnung der Ausstellung „70 Jahre Luxemburger Abkommen zwischen Deutschland, Israel und der Jewish Claims Conference“

[Es gilt das gesprochene Wort]

Sehr geehrte Frau Staatssekretärin!
Sehr geehrter Herr Schneider!
Sehr geehrter Herr Dr. Fuksman-Shal!
Liebe Frau Szepesi!
Liebe Frau Schwarz!
Lieber Herr Mahlo!
Liebe Kolleginnen und Kollegen Abgeordnete!
Liebe Gäste!

Herzlich willkommen im Deutschen Bundestag!

Wir eröffnen heute die Ausstellung „70 Jahre Luxemburger Abkommen“. Ich hätte diese Ausstellung gern mit dem israelischen Präsidenten Isaac Herzog eröffnet, der heute im Plenum eine eindrucksvolle Rede gehalten hat. Er musste sich allerdings direkt im Anschluss auf den Weg zur Gedenkstätte Bergen-Belsen machen. 

Ich freue mich aber sehr, dass wir im Vorfeld einen gemeinsamen Rundgang durch die Ausstellung machen konnten. Das war uns beiden sehr wichtig. 

Sehr geehrte Damen und Herren, 
Wiedergutmachung?! Das Wort ist eine Zumutung. So schrieb vor kurzem die Jüdische Allgemeine. Kann es für das Menschheitsverbrechen der Shoa Wiedergutmachung geben? Eine rhetorische Frage. Mit einer klaren Antwort: Selbstverständlich nicht. Wofür kann das so genannte Wiedergutmachungsabkommen dann gut sein? Die Ausstellung stellt diese Frage in den Mittelpunkt. 

Für die Opfer der Shoa war es eine Zumutung, Geld aus dem Land der Mörder anzunehmen. Nahum Goldmann, der für die neugegründete Claims Conference die Verhandlungen mit Deutschland führte, musste sich als Verräter beschimpfen lassen. Er konnte sich nur unter Personenschutz bewegen. In der Knesset gab es emotionale Debatten. Auf den Straßen Tel Avis heftige Tumulte. In der Ausstellung sehen Sie Bilder davon. 

Auch Konrad Adenauer musste für das Abkommen kämpfen. Gegen starke Widerstände in der Politik und in der Gesellschaft. Einer Umfrage zufolge unterstützten damals nur elf Prozent der Deutschen das Abkommen ohne Vorbehalte. Auch deshalb wurde das Luxemburger Abkommen auf Bitten Deutschlands schweigend unterzeichnet. Dieses Schweigen ist heute unvorstellbar.

Sehr geehrte Damen und Herren, 
vor 70 Jahren war es unvorstellbar – und doch hat das Abkommen im Laufe der Jahre zur Annäherung zwischen Deutschland und der jüdischen Welt beigetragen. Mit Israel verbindet Deutschland mittlerweile eine enge Freundschaft. Das ist ein unverhofftes Geschenk. 

Im Namen des Deutschen Bundestags sage ich: Es war mir eine große Ehre, Präsident Herzog zu empfangen. Für uns Deutsche ist es ein Geschenk, dass heute wieder Jüdinnen und Juden selbstbewusst in Deutschland leben. Ich betone ausdrücklich, was ich heute vor dem Plenum gesagt habe: Jüdisches Leben zu fördern und seine Sicherheit zu garantieren ist eine Verpflichtung unseres Staates. Und eine Aufgabe unserer Gesellschaft. Wir alle müssen entschieden gegen jede Form von Antisemitismus vorgehen. 

Für die Annäherung Deutschlands an das Judentum war und ist es wichtig, dass wir Deutschen uns der Wahrheit stellen. Anders als 1952. Wir können nicht wiedergutmachen, was nicht wiedergutzumachen ist. Leid lässt sich nicht aufwiegen. Aber wir können seine Folgen lindern und Verantwortung für die Opfer übernehmen. 

Die Zahlungen aus Deutschland waren und sind für die Überlebenden ein wichtiges Symbol. Das ihnen zugefügte Unrecht wird anerkannt – nicht abstrakt, sondern gegenüber jeder und jedem Einzelnen. Oft ist das Geld auch eine wichtige Hilfe im Alltag.

Doch der Antragsprozess ist auch zwiespältig. Wenn die Opfer als Bittsteller ihr Leid minutiös beweisen müssen. Immer wieder werden Fälle erst vor Gericht entschieden. Das unfassbare Unrecht der Shoa lässt sich aber nicht in juristische Kategorien pressen.  Es bleibt ein Widerspruch. Wir können diesen Widerspruch nicht auflösen. Aber wir sollten ihn erträglicher machen. Mit Respekt für die Opfer. Das gehört zu unserer historischen Verantwortung. 

Das persönlich erlittene Unrecht, die Qualen und Leiden verjähren nicht. Viele Überlebende finden erst im hohen Alter die Kraft, einen Antrag auf Leistungen zu stellen, oder erstmals öffentlich über ihre Erlebnisse zu sprechen. So wie Eva Szepesi, die wir nachher im Gespräch mit ihrer Enkelin Celina Schwarz hören werden.
Frau Szepesi, Frau Schwarz, ich danke Ihnen herzlich, dass Sie heute hierher zu uns in den Deutschen Bundestag gekommen sind. 

Die Verantwortung für das Menschheitsverbrechen Shoa endet nicht. Viele Opfer von einst leiden noch heute unter den Folgen der Misshandlungen. Sie sind auf Pflege angewiesen und brauchen medizinische Unterstützung. Selbst im 21. Jahrhundert ist die Shoa noch gegenwärtig. Auch davon erzählt die Ausstellung. 

Diese Ausstellung wird präsentiert vom Bundesfinanzministerium, das in diesem Jahr mit mehreren Veranstaltungen an den Abschluss des Luxemburger Abkommens erinnert. Die Jewish Claims Conference hat die Ausstellung inhaltlich konzipiert, gemeinsam mit dem Knesset-Museum. Allen Beteiligten sage ich im Namen des gesamten Deutschen Bundestags: Herzlichen Dank!
Dieser Dank geht nicht zuletzt an die Beschäftigten der Bundestagsverwaltung, die diese Ausstellung innerhalb kürzester Zeit nach dem Tag der Ein- und Ausblicke aufgebaut haben.

Wir hören jetzt einen Musikbeitrag zweier französischer Künstlerinnen mit einem Lied, das in einem Konzentrationslager entstanden ist. Ich danke auch den Musikerinnen. 

Und ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
 

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22.09.2022 | Parlament

Würdigung von Wolfgang Schäuble durch Bundestagspräsidentin Bärbel Bas anlässlich seines 80. Geburtstages

[Stenografischer Dienst]

Präsidentin Bärbel Bas:

Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich wünsche einen schönen guten Morgen. Die Sitzung ist eröffnet.

Zunächst gratuliere ich dem Kollegen Dietrich Monstadt nachträglich zum 65. Geburtstag. Im Namen des ganzen Hauses alles Gute für das neue Lebensjahr!

(Beifall)

Dann gestatten Sie mir bitte, einen ganz besonderen Glückwunsch heute Morgen auszusprechen. Am vergangenen Sonntag hat Wolfgang Schäuble seinen 80. Geburtstag begangen.

Sehr geehrter Herr Dr. Schäuble, 50 Jahre im Deutschen Bundestag, 14-mal direkt gewählt - eine Bilanz, die in diesem Hause, denke ich, einmalig ist. Deshalb werden wir uns auch im Dezember die Zeit nehmen, um Ihr 50. Jubiläum als Bundestagsabgeordneter angemessen zu würdigen.

Ihr 80. Geburtstag ist selbstverständlich auch Grund genug, schon heute an Ihre Verdienste kurz zu erinnern. Das wichtigste ist zweifellos die deutsche Einheit. Wenig später haben Sie auch hier Ihre vielleicht sogar berühmteste Rede gehalten. Auch dank Ihres Plädoyers für den Umzug nach Berlin tagen wir nämlich heute hier in diesem historischen Reichstagsgebäude.

Sie waren darüber hinaus stets ein überzeugter Europäer und haben die heutige Europäische Union mitgebaut.

Vor allem unsere Beziehungen zu Frankreich liegen Ihnen ganz besonders am Herzen. Das beste Beispiel dafür ist sicherlich die Deutsch-Französische Parlamentarische Versammlung.

Über Jahrzehnte haben Sie politische Verantwortung getragen. Dieses Parlament haben Sie aus nahezu allen Perspektiven betrachten können: als Abgeordneter, als Fraktionsvorsitzender, von der Regierungsbank aus und nicht zuletzt auch hier oben als Präsident dieses Hauses.

Sie streiten mit Leidenschaft für die parlamentarische Demokratie. Und Sie mahnen uns immer wieder, dass die Demokratie keine Selbstverständlichkeit ist.

Sie haben für Deutschland - und für dieses Parlament - insgesamt viel geleistet. Dafür danke ich Ihnen im Namen des ganzen Hauses und auch ganz persönlich. Herzlichen Glückwunsch dazu!

(Beifall - Die Anwesenden erheben sich)

Vielen Dank. Im Dezember werden wir das etwas ausführlicher machen, Herr Dr. Schäuble.

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23.09.2022 | Parlament

Worte von Bundestagspräsidentin Bärbel Bas vor Eintritt in die Tagesordnung zum Tod des MdB Rainer Kellers

[Stenografischer Dienst]

Präsidentin Bärbel Bas:

Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, guten Morgen! Die Sitzung ist eröffnet. Bitte nehmen Sie Platz.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, gestern ist unser Kollege Rainer Keller im Alter von nur 56 Jahren gestorben.

(Die Anwesenden erheben sich)

Wir sind tief bestürzt über seinen plötzlichen Tod. Mit Rainer Keller verlieren wir einen überaus engagierten Kollegen.

Vor einem Jahr wurde er direkt in den Bundestag gewählt. Rainer Keller gehörte drei Ausschüssen an und war unter anderem auch stellvertretendes Mitglied im Untersuchungsausschuss Afghanistan.

Wir haben ihn als einen Abgeordneten erlebt, der seine Lebenserfahrung aktiv in Debatten einbrachte. Er stand für seine Überzeugungen ein und pflegte das offene und klare Wort. Die Menschen sollten wissen, wofür er steht. Das war sein Credo. Der Krankenpfleger und Notfallsanitäter war immer da, wenn er gebraucht wurde. Er engagierte sich mit viel Herzblut für seinen Wahlkreis Wesel I, aber auch für Menschenrechte, Demokratie und Pluralismus weltweit.

Seine aufrichtige Art und sein Einsatz für die Menschen werden uns fehlen. Wir trauern mit seiner Familie und seinen Angehörigen.

Sie haben sich von den Plätzen erhoben. Ich bitte Sie jetzt noch um eine Minute im Gedenken für den Verstorbenen. - Vielen Dank.

(Die Anwesenden nehmen wieder Platz)

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Parlament

Rede von Bundestagspräsidentin Bärbel Bas beim Jahresempfang der Wehrbeauftragten 2022

[Es gilt das gesprochene Wort.]

Sehr geehrte Frau Wehrbeauftragte,
sehr geehrter Herr Generalinspekteur,
sehr geehrte Fraktions- und Ausschussvorsitzende,
liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem Deutschen Bundestag,
sehr geehrte Soldatinnen und Soldaten,
sehr geehrte Damen und Herren,

ich bin sehr froh, dass wir heute endlich wieder persönlich zum traditionellen Jahresempfang der Wehrbeauftragten zusammenkommen können. 
In dieser Zeit ist unser Austausch wichtiger denn je. 
In dieser Woche hat Putin wieder gezeigt, dass er entschlossen ist, den Krieg gegen das ukrainische Volk mit aller Brutalität zu führen. 

Ich verurteile die perfiden russischen Raketenangriffe auf ukrainische Städte auch im Namen des Deutschen Bundestages auf das Schärfste. 

Die Bombardierungen von Zivilisten und ziviler Infrastruktur sind ein eklatanter Bruch des humanitären Völkerrechts. 
Sie sind durch nichts zu rechtfertigen. 

Wir werden die Ukraine gemeinsam mit unseren Partnern noch entschlossener unterstützen. 

Sehr geehrte Damen und Herren, 

wir führen gerade grundlegende Debatten über unsere Sicherheit. 
Manche dieser Debatten hätten wir schon früher führen sollen. 

Mit dem russischen Angriff auf die Ukraine hat sich die Welt am 24. Februar verändert. 
Putin hat auch unsere europäische Friedensordnung angegriffen. 

Russland hat jeden Gedanken an eine gemeinsame Sicherheitsordnung aufgekündigt.  Putin hat klargemacht, dass er kein Partner sein will. 

Wir müssen nun das tun, was wir mit dem Ende des Kalten Krieges für überwunden gehalten haben: Wir müssen uns selbst und unsere Partner wieder vor Russland schützen. 

Es ist nun wieder die wichtigste Aufgabe der Bundeswehr, unsere Grenzen, unsere Bevölkerung und unsere Alliierten zu schützen. 

Viele Jahre wurde die Bundeswehr vor allem als Einsatzarmee betrachtet. 
Die NATO war für manche ein Relikt. 

Jetzt müssen wir unsere  Landes- und Bündnisverteidigung wieder stärken. 
Auch das neue Strategische Konzept der NATO zeugt von dieser Wende. 

Deutschland hat lange vom Schutz der  NATO profitiert. 
Nun ist es an uns zu zeigen, dass sich unsere Partner in der Allianz auch auf uns verlassen können.

Deutschland nimmt seine Beistandspflichten gegenüber seinen Verbündeten sehr ernst. 
Unser Einsatz zur Absicherung der Bündnis-Ostflanke zeigt das deutlich. 

Ich war im Mai in Warschau. 
Dort habe ich in allen Gesprächen gespürt, wie unmittelbar die russische Bedrohung in unseren Nachbarländern und im Baltikum empfunden wird. Unser Engagement in den östlichen NATO-Staaten, insbesondere in Rukla, wird dort sehr geschätzt. 
Sehr geehrte Damen und Herren, 

die Welt hat sich seit dem Kalten Krieg gewandelt. 
Wir leben in einer multipolaren und dynamischen Welt. 
Chinas Macht und die stärkere Ausrichtung der USA auf den indo-pazifischen Raum machen uns bewusst, dass wir Europäer mehr Verantwortung übernehmen müssen. 

Wir müssen unsere Sicherheit stärker in unsere eigenen Hände nehmen. 
Wir müssen unsere verteidigungspolitischen Strukturen und unsere Verteidigungsfähigkeiten auch innerhalb Europas stärken. 
Die Diskussion über Vergemeinschaftungen in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik sollten wir ohne Scheuklappen führen. 
Auf Deutschland als größtem Mitgliedstaat der EU ruhen besondere Erwartungen. 

Verteidigungsministerin Lambrecht, die heute leider nicht hier sein kann, führte vor einem Monat in ihrer Grundsatzrede aus, dass wir bereit sein müssen, eine Führungsrolle zu übernehmen. 

Aus meinen Gesprächen mit meinen mittel- und osteuropäischen Kolleginnen und Kollegen weiß ich, dass man sich dort eine starke Rolle von uns erhofft. 

Sehr geehrte Damen und Herren, 

die neue Lage erfordert eine moderne Armee. 
Es war wichtig, dass der Deutsche Bundestag ein Sondervermögen zur Ausstattung der Bundeswehr von 100 Milliarden Euro beschlossen hat. 

Dieser parteiübergreifende Konsens zur Grundgesetzänderung hat gezeigt, welche zentrale Rolle eine einsatzbereite Armee für unseren Staat spielt. 

Sicherheit und Verteidigung sind zentrale Aufgaben unseres Staates. 
Wir sind entschlossen, für unsere Sicherheit und die unserer Partner einzustehen. 

Wir müssen die Soldatinnen und Soldaten in die Lage versetzen, ihren Auftrag zu erfüllen. 
Schon lange haben sie unter veralteter und unzureichender Ausrüstung gelitten. 

Die Truppe hat aber auch unter diesen schwierigen Bedingungen hervorragende Arbeit geleistet. Auch das möchte ich hier betonen. 
Dennoch: Zu lange wurde an der Bundeswehr gespart. Das war ein Fehler. 

Der Zustand der Kasernen, die unzureichende Ausstattung selbst bei einfacher Ausrüstung wie Schutzwesten oder die nicht zeitgemäße Kommunikationsinfrastruktur zeigen:
Es sind bei weitem nicht nur die Waffensysteme, die wir auf den neuesten Stand bringen müssen. 
Eine angemessene Ausstattung ist essentiell für unseren Schutz und den unserer Bündnispartner. 

Das Sondervermögen markiert die Zeitenwende. Doch wir müssen langfristig und nachhaltig denken. Es reicht nicht, die Bundeswehr einmal hochmodern auszustatten. Sie muss dauerhaft ausreichend finanziert werden.  

Wichtig ist jetzt, dass die Ausstattung der Bundeswehr zügig in der Praxis umgesetzt wird. 
Deswegen haben wir im Deutschen Bundestag im Juli das Beschaffungsbeschleunigungsgesetz verabschiedet. 

Es lohnt sicher, auch weiter zu prüfen, wie die Beschaffung vereinfacht und beschleunigt werden kann. 

Sehr geehrte Damen und Herren, 

die sicherheits- und verteidigungspolitische Zeitenwende ist nicht nur eine Frage des Geldes oder der technischer Ausstattung. 
Die Zeitenwende muss auch in den Köpfen stattfinden. 

Das ist mir in aller Deutlichkeit bei meinem Aufenthalt in Kiew, Butscha und Irpin im Mai klargeworden. 

Vielen in der Bevölkerung – aber auch in der Politik, ich nehme mich persönlich nicht aus! – ist erst mit dem 24. Februar wieder bewusst geworden, wie  sich unsere Soldatinnen und Soldaten in den Dienst unseres Landes stellen.
Diese Frauen und Männer sind bereit, unser Land und unsere Bürgerinnen und Bürger zu verteidigen. 

Im Ernstfall unter Einsatz ihres Lebens. 

Ich danke allen, die diesen fordernden und lebensgefährlichen Beruf wählen und uns schützen.

Unsere Soldatinnen und Soldaten verdienen besondere Wertschätzung.
Sehr geehrte Damen und Herren, 

als ich vor einigen Monaten im Einsatzführungskommando in Potsdam war, habe ich dort auch mit Soldatinnen und Soldaten in Auslandseinsätzen gesprochen.
Für mich war dabei sehr deutlich zu spüren, wie wichtig diese Wertschätzung ist. 

Als Bundestagspräsidentin möchte ich mein Amt auch nutzen, um diese Anerkennung auszudrücken und zu stärken.
Daher habe ich mich sehr über die Postkartenaktion der Wehrbeauftragten am Tag der Ein- und Ausblicke im Bundestag gefreut – und selbst eine Karte geschrieben .
Die Tatsache, dass ich heute beim Empfang der Wehrbeauftragten zu Ihnen spreche, zeigt auch: Die Bundeswehr ist eine Parlamentsarmee. 

Wir Abgeordneten tragen eine besondere Verantwortung. 
Wenn wir Soldatinnen und Soldaten in Auslandseinsätze schicken, müssen wir das gut begründen. 

Genau deshalb stimmen wir über diese Einsätze in der Regel namentlich ab, um ihnen ein großes Maß an Aufmerksamkeit zu geben. 

Wir müssen uns sehr gründlich fragen, mit welchem Ziel wir einen Auslandseinsatz beschließen.

Die Soldatinnen und Soldaten müssen wissen, was ihr Auftrag ist. 
Sie müssen wissen, wofür sie die Risiken eines Auslandseinsatzes auf sich nehmen. 

Welche Gefahren ein Auslandseinsatz mit sich bringen kann, sehen wir in Mali. 
Es ist mir wichtig, dass wir über diesen Einsatz eine ehrliche und konstruktive Diskussion führen. 
Wir müssen bald eine Entscheidung treffen, ob wir den Einsatz fortsetzen können. 

Dabei geht es insbesondere auch um die Sicherheit unserer Soldatinnen und Soldaten. Sie brauchen Klarheit, wie es weitergeht. 

Sehr geehrte Damen und Herren, 

wir haben im Deutschen Bundestag den Untersuchungsausschuss Afghanistan und die Enquete-Kommission „Lehren aus Afghanistan für das künftige vernetzte Engagement Deutschlands“ eingesetzt.
Nach 20 Jahren ist es wichtig, dass der Gesamteinsatz in Afghanistan von einer Kommission aus Abgeordneten und Expertinnen und Experten umfassend bewertet wird. 

Die Erkenntnisse aus Untersuchungsausschuss und Enquete-Kommission müssen praxisnah und zukunftsgerichtet aufbereitet werden. 

Ich bin mir sicher: Der Deutsche Bundestag wird die richtigen Lehren ziehen für die Gestaltung zukünftiger Auslandseinsätze. 

Auch wenn wir uns von nun an wieder auf die Landes- und Bündnisverteidigung als Kernaufgabe der Bundeswehr konzentrieren, wird unser internationales Engagement weiter erforderlich bleiben.

Sehr geehrte Damen und Herren, 

unsere Soldatinnen und Soldaten verteidigen nicht nur unsere Grenzen und unsere Sicherheit, sondern auch unsere Art zu leben. 
Sie stehen für die Werte des Grundgesetzes, 
für unsere Demokratie ein. 
Die Innere Führung ist für das Selbstverständnis unserer Bundeswehr und für ihre Verankerung in der Gesellschaft von entscheidender Bedeutung. 

Die Wehrbeauftragte hat auf die Innere Führung immer ein wachsames Auge. 

Liebe Eva Högl, 

als „Anwältin der Soldaten“ leisten Sie eine wertvolle Arbeit. 
Mit Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern bearbeiten Sie rund 4000 Vorgänge im Jahr. 
Sie setzen sich für eine angemessene Ausstattung und die verdiente Wertschätzung der Soldatinnen und Soldaten ein. 
Für diese engagierte Arbeit danke ich Ihnen und Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sehr!

Sie lenken den Blick innerhalb der Bundeswehr und auch in Parlament und Öffentlichkeit immer wieder auf die Soldatinnen und Soldaten. 

Die beste Ausrüstung genügt nicht. 
Wir brauchen Menschen, die bereit für diesen schwierigen Dienst sind, 
die qualifiziert und motiviert sind. 
Die ihren Auftrag verstehen und mittragen. 

Erst sie machen die Bundeswehr stark und einsatzbereit. 

Die Truppe soll in den nächsten Jahren um 20.000 Frauen und Männer aufgestockt werden. Schon jetzt sind zu viele Stellen unbesetzt. 
Um ihren Auftrag zu erfüllen, muss die Bundeswehr als Arbeitgeberin attraktiv sein. 
Für Frauen genauso wie für Männer.

Das Thema Vereinbarkeit von Beruf und Familie trifft immer noch stärker die Frauen. 
Bei allen Verbesserungen: Auch die Bundeswehr muss sich fragen, wie sie noch mehr Frauen gewinnen kann. 

Auch diese wichtige Frage zeigt übrigens, dass unsere Armee ein Spiegel unserer Gesellschaft und fest in ihr verankert ist. 

Die Zeitenwende müssen wir gemeinsam mit der Gesellschaft gestalten. 

In der Bevölkerung, im Bundestag und in der Regierung brauchen wir dafür eine breite Debatte über unsere strategische Neuausrichtung. 

Wir Politikerinnen und Politiker müssen auch weiter das Gespräch mit den Bürgerinnen und Bürgern über die Rolle der Bundeswehr, über unsere Sicherheit in Europa suchen.

Sehr geehrte Damen und Herren, 

unsere Gesellschaft unterstützt die Zeitenwende in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Und sie ist weiter außerordentlich solidarisch mit den Ukrainerinnen und Ukrainern. 

Auch jetzt, wo viele Menschen in unserem Land Sorge vor der Inflation, der Rezession und der Energiekrise haben. 

Es ist mir wichtig, die Solidarität unserer Bevölkerung mit der Ukraine hochzuhalten. 
Wir dürfen nicht zulassen, dass berechtigte Ängste in der Bevölkerung instrumentalisiert und gegen die Solidarität mit der Ukraine ausgespielt werden.

Wir müssen die Ukraine weiter nach Kräften unterstützen. 

Unsere Unterstützung für die Ukraine liegt in unserem eigenen Interesse. 
Es geht um unsere künftige Sicherheitsordnung in Europa. 
Und um die Grundlagen unserer internationalen Ordnung. 

Auch die Annexionen vom 30. September zeigen, wie perfide Putin alle Grundsätze der Staatengemeinschaft mit Füßen tritt.
Wir werden diese völkerrechtswidrigen Annexionen niemals akzeptieren. Putins Drohungen müssen wir ernstnehmen. 

Aber wir dürfen uns auch nicht einschüchtern lassen. Wir dürfen und werden nicht nachlassen in unserer Unterstützung für die Ukraine. 

Dazu gehört auch, dass wir uns weiter fragen, wie wir die Ukraine gerade jetzt bestmöglich unterstützen können.
Die entsetzlichen Angriffe dieser Woche zeigen, wie wichtig es ist, dass Deutschland mit der Lieferung des IRIS-T-Flugabwehrsystems dazu beiträgt, die ukrainische Luftverteidigung zu stärken. 

Als Bundestagspräsidentin ist mir wichtig, dass wir auch weiter eine ehrliche Diskussion führen, welche Waffensysteme wir liefern können und auf welche Weise.  

Die Ukrainerinnen und Ukrainer zeigen, wie viel man erreichen kann, wenn man weiß, wofür man kämpft. 

Sie zeigen, wie existentiell es ist, dass wir in unsere Sicherheit investieren. 

Sie zeigen, dass man seine Existenz und seine Freiheit im Ernstfall verteidigen können muss. 

Meine Damen und Herren, 

wir haben heute Abend und in der kommenden Zeit viel zu besprechen. 

Ich danke Ihnen für Ihr Engagement für unsere Sicherheit und Verteidigung. 

Und ich danke Eva Högl für die Einladung und freue mich auf unsere Gespräche heute Abend. 

Vorher dürfen wir uns aber noch auf die Kombo des Stabsmusikkorps freuen. 

Auch von mir ein ganz besonderer Dank an Oberfeldwebel Sebastian Henzl und den Musikerinnen und Musikern!

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04.11.2022 | Parlament

Rede von Bundestagspräsidentin Bärbel Bas beim Internationalen Club la Redoute in Bonn

[Es gilt das gesprochene Wort.]

Sehr geehrter Herr Professor Mayer (Präsident des Internationalen Clubs),
Sehr geehrte Damen und Herren,

„Es ist eine deutsche Eigentümlichkeit, nie zufrieden zu sein.“ Zitatende. 

Kein schmeichelhaftes Urteil über uns Deutsche. Es stammt von einem Diplomaten.

Nämlich von André François Poncet. 
Er war in den 1930er Jahren französischer Botschafter in Deutschland und nach dem Zweiten Weltkrieg französischer Hoher Kommissar in der Bundesrepublik. 

Und: Er war der erste Präsident des Internationalen Clubs la Redoute. 

Ist an dem undiplomatischen Diplomatenwort über die deutsche Unzufriedenheit etwas dran? 
Und was bedeutet das für unsere Demokratie in dieser Zeit großer Herausforderungen?

Wenn es um unsere Demokratie geht, scheint es jedenfalls mit der Zufriedenheit aktuell nicht weit her. Das legt zumindest die Demoskopie nahe. 
Zum Beispiel der ARD-Deutschlandtrend von Anfang Oktober:
Gerade noch die Hälfte (51 Prozent) der Deutschen zeigt sich zufrieden, wie die Demokratie in Deutschland funktioniert. 
13 Punkte weniger als im Oktober 2020. 

Die gute Nachricht ist: Trotzdem ist die große Mehrheit weiterhin überzeugt, Demokratie sei ganz allgemein eine gute Regierungsform. 

Das stimmt mich optimistisch. Die Menschen glauben an die Kraft unserer liberalen Werte und die Kraft demokratischer Systeme. 

Auch wenn die Zeiten schwierig sind. 
Auch wenn unsere Demokratien international unter Druck stehen. 
Auch wenn sie sich beweisen müssen – im Wettbewerb mit Staaten, die unsere Vorstellungen von Freiheit und Demokratie nicht teilen. 

Im Frühjahr warnte das Stockholmer Friedenforschungsinstitut SIPRI vor einer globalen Zwillingskrise. 
Einer Krise gefährlicher Wechselwirkungen von Umweltrisiken auf der einen und Sicherheitsrisiken auf der anderen Seite. 

Man könnte auch von einer Drillingskrise reden. Denn die Corona-Pandemie ist noch nicht ganz ausgestanden. 

Das macht vielen Menschen große Sorgen. 
Gerade erst hat eine Studie die größten Ängste der Deutschen gemessen. Am meisten fürchten sie, dass
die Lebenshaltungskosten weiter steigen (67 %), 
dass das Wohnen unbezahlbar wird (58 %) und sich die Wirtschaftslage verschlechtert (57 %). 

Die Bürgerinnen und Bürger treibt vor allem um, wie sie durch den Winter kommen sollen.

Aber kurz dahinter, auf Platz 7, folgt (mit 47 %) die Angst, dass autoritäre Herrscher weltweit immer mächtiger werden könnten. 

Auf lange Sicht überwiegt jedoch auch hier der Optimismus. Das ist eine weitere gute Nachricht. 

Sie kommt von Renate Köcher vom Allensbach-Institut. (Und damit sozusagen aus ihrer beruflichen Vergangenheit, lieber Herr Professor Mayer).

Ich zitiere: 
„Nur eine Minderheit von 16 Prozent der Bevölkerung glaubt an einen langfristigen Siegeszug autoritärer Systeme;
60 Prozent sind dagegen überzeugt, dass sich die westlichen Leitideen von Freiheit und Demokratie durchsetzen werden.“ Zitatende.

Es wird also deutlich: die Menschen sorgen sich auch um die Stärke der Demokratie. 
Sie wünschen sich, dass die Demokratie den Wettstreit der Systeme für sich entscheidet. 
Sie wissen um den elementaren Wert von Meinungs- und Versammlungsfreiheit, von Rechtsstaatlichkeit und freier Presse. 

Weil ein Blick in die Nachrichten reicht, um mitzubekommen, dass diese Ideen an vielen Orten der Welt blutig unterdrückt werden.
Dass Menschen, die für ihre Rechte kämpfen, andernorts mit Gewalt zum Schweigen gebracht werden. 
Dass sie verhaftet werden und dann einfach verschwinden. Bis man sie irgendwo tot auffindet – oder sie einfach verschollen bleiben.


Diese Eindrücke gehen vielen Menschen nahe. Sie haben ein gutes Gespür dafür, wo konkrete Gefahren für diese wichtigen Errungenschaften unserer Demokratie liegen. 


Ich komme noch einmal auf den ARD-Deutschlandtrend vom Oktober zurück: 

Für ein Fünftel der Befragten sind es vor allem Rechtsextremismus und Rechtspopulismus, die unser demokratisches Gemeinwesen bedrohen. 

Dahinter wird als zweitgrößte Gefahr für unser politisches System das Thema „soziale Ungleichheit und Armut“ (elf Prozent) benannt. 


Fast gleichauf mit der Wahrnehmung, dass „abgehobene Politiker und fehlerhafte Entscheidungen“ (elf Prozent) ein Risiko für die Demokratie darstellen. 

All das erreicht uns Abgeordnete auch im Deutschen Bundestag und in den Wahlkreisen. 

Wir registrieren, wie sich die Stimmung im Land verändert – übrigens nicht nur in Form von Umfrageergebnissen. Sondern ganz konkret – bei Bürgersprechstunden, Unternehmensbesuchen und in Parteiversammlungen. 

Offenbar ist vielen Menschen sehr bewusst, dass unser Gemeinwesen vor allem dann in Gefahr gerät, wenn Angst umschlägt in Menschen- und Demokratiefeindlichkeit. 
Gerade wenn wirtschaftliche Ängste gegen die Demokratie selbst in Stellung gebracht werden. 

Und sie weisen uns, den Politikerinnen und Politikern im Bund, in den Ländern und in den Kommunen eine wichtige Rolle zu, auf diese Bedrohungen zu reagieren und dagegenzuhalten. 

Damit haben sie Recht: Wir dürfen  nicht zulassen, dass Sorgen gegen Solidarität ausgespielt werden. 

Von Hetzern und Hassern, die Neid, Misstrauen und Missgunst schüren, um ihr giftiges politisches Süppchen zu kochen – auf Kosten des gesellschaftlichen Zusammenhalts.


Sehr geehrte Damen und Herren,

Freiheit und Demokratie müssen sich in diesem Jahr besonders behaupten. Seit dem 24. Februar hat der russische Überfall auf die Ukraine den Krieg nach Europa zurückgebracht. Putin und seine Gefolgsleute führen auch einen Krieg gegen unsere europäische Sicherheitsordnung und gegen unsere liberalen Demokratien, gegen unsere Art zu leben. 

Die Kriege unserer Zeit sind hybride Kriege, die nicht nur mit militärischen Mitteln geführt werden. Was das heißt, zeigt das russische Arsenal: Darin ist Migration eine Waffe, 
Hunger ist eine Waffe, 
Energie ist eine Waffe. 
Und Propaganda ist eine Waffe.
Das Internet ist voll von russischer Kriegspropaganda. Mit Lügen über angebliche schmutzige Bomben und verminte Dämme. 
Mit gefälschten Nachrichtenseiten und gezieltem Rufmord an Kritikern und Gegnern. 
Mit einer Armee bezahlter Online-Trolle.

Sie bereiten Falschinformationen – Fake News – hochprofessionell auf, streuen sie strategisch. Und lassen sie millionenfach teilen. 

Gezielt wird an Verschwörungskonstrukten und populistischen Lügengebäuden mitgewerkelt, um zu spalten und zu polarisieren. 

Etwa, dass die Ukraine eine Marionette der Nato und des Westens sei. Und der Krieg ein Instrument, um Russland zu schwächen.
Wir dürfen die toxische Wirkung dieser Desinformation nicht unterschätzen. 
Sie fällt auch in Teilen der deutschen Bevölkerung auf fruchtbaren Boden. 

Desinformation nutzt unsere Meinungsfreiheit – eine der wertvollsten demokratischen Errungenschaften – und setzt sie als Waffe gegen die Demokratie selbst ein. 

Welchen Schaden dieser Missbrauch anrichtet, zeigt sich immer deutlicher. Vor allem in den sozialen Netzwerken und in den Kommentaren von Leserinnen und Lesern der Massenmedien. 

Teile der Gesellschaft scheinen immer weiter in eine gefährliche Scheinwelt abzudriften. 
Eine Welt, in die nur noch das vordringt, was durch das Raster der geschürten Vorurteile passt. 

Wie gehen wir damit um? Was tun wir dagegen? 

Die Politik, die Medien und die Wissenschaft sind gefordert, Antworten zu liefern. Dringend. 

Unsere gemeinsame Grundlage steht auf dem Spiel: Der mit vernünftigen Argumenten geführte Meinungsstreit, untermauert mit nachprüfbaren Fakten. 

Wie Barack Obama es formulierte: Man kann darüber diskutieren, ob ein Tisch zu hoch oder zu niedrig ist. Aber wenn jemand sagt: „Nein, das ist kein Tisch, das ist ein Baum!“ und nichts anderes akzeptiert, dann wird es schwierig. 
Wir müssen uns über grundlegende Tatsachen verständigen können. 
Nur auf dieser Basis können wir fruchtbar miteinander diskutieren. 
Nur auf dieser Basis lassen sich gute Lösungen und Kompromisse finden. 

Die Politik ist gut beraten, die Wissenschaft hier als Verbündete zu sehen.
Die Politik braucht die Wissenschaft, ihre Expertise, ihren Rat. 
Selbstverständlich und ausdrücklich auch die Politikwissenschaft, lieber Herr Professor Mayer. 

Für alle Disziplinen gilt: Der Stand der Forschung kann den Abgeordneten nicht die Verantwortung der Entscheidung abnehmen. Das wird in diesen Zeiten besonders deutlich.
Sehr geehrte Damen und Herren,

Demokratie und Freiheit sind nicht selbstverständlich. 
Ihre Voraussetzungen müssen immer wieder aufs Neue geschaffen und verteidigt werden. 

Der mutige Kampf der Ukrainerinnen und Ukrainer gegen den brutalen Angriffskrieg Russlands führen uns vor Augen, wie bedrohlich übersteigerter Nationalismus, Geschichtsrevisionismus und eine gezielte Missachtung der Menschenrechte für unsere Gesellschaften sind. 

Der Bundeskanzler hat am 27. Februar im Deutschen Bundestag zu Recht von einer Zeitenwende gesprochen. 
Ich bin überzeugt, dass unser Land die Kraft hat, in dieser Zeitenwende zu bestehen. 

Indem es seine Kräfte bündelt, seine Potentiale aktiviert, seinen Zusammenhalt zeigt. 

Die Zeitenwende bezieht sich nicht nur auf die Ausstattung der Bundeswehr oder unsere Energieversorgung – auch wenn beides große und überragend wichtige Aufgaben für unser Land sind. Die Zeitenwende bezieht sich auch auf unser Denken, unser Selbstverständnis. 

Eine Zeitenwende war dieser Krieg auch für mich persönlich. Weil er mich gezwungen hat, Teile meines politischen Koordinatensystems zu überdenken. 
Bis zum 24. Februar war auch ich der festen Überzeugung, dass „Frieden schaffen“ nur „ohne Waffen“ geht. 

Mein Besuch in Kiew, Butscha und Irpin im Mai war für mich ein einschneidendes Erlebnis. 
Er hat mich zu dem Schluss geführt: Wir müssen die Ukraine weiter unterstützen – in aller Konsequenz und solange wie nötig: 
Politisch und humanitär, 
wirtschaftlich und finanziell, 
vor allem aber auch militärisch.

Jetzt während des Krieges und beim Wiederaufbau und der europäischen Integration. 

Das ist eine Frage der Menschlichkeit und der Solidarität. 
Vergessen wir nicht: Putin und seine militärischen Befehlshaber überziehen das ukrainische Volk mit brutalem und gezielten Terror. 

In diesem Krieg Russlands gegen das ukrainische Volk geht es auch um unsere europäische Sicherheitsordnung und das Fundament der internationalen Ordnung. Unsere Unterstützung ist zugleich auch eine Bekräftigung aller Überzeugungen, für die wir stehen. 

Die Ukrainerinnen und Ukrainer verteidigen unsere Werte: Freiheit und Demokratie. Russland darf und wird diesen Krieg nicht gewinnen.

Wie isoliert Russland ist, hat die VN-Generalversammlung zuletzt am 12. Oktober demonstriert. 
Mit ganz überwältigender Mehrheit bekräftigte sie die Grundsätze unserer internationalen Staatengemeinschaft. 

Und auch die EU hat seit dem 24. Februar große Entschlossenheit und Solidarität gezeigt. 

Hier hat sich Putin massiv verkalkuliert. 
Genau wie er den Freiheitswillen, den Mut und die Entschlossenheit der Ukrainerinnen und Ukrainer unterschätzt hat. 

Wir stark die internationale Solidarität ist, konnte ich in der vergangenen Woche erneut spüren. Bei der Parlamentarischen Konferenz der Krim-Plattform in Zagreb. 
Wir waren uns einig, die Ukraine weiter nach Kräften zu unterstützen. Russland darf und wird mit seinen Verbrechen nicht durchkommen. 

In der Vergangenheit haben wir Fehler gemacht. Wir haben die Gefahr, die von Russland ausgeht, nicht ernst genug genommen. 
Und wir haben zu wenig auf die gehört, die uns schon lange gewarnt haben. 
Insbesondere unsere Nachbarn in Mittel- und Osteuropa. 

Jetzt gilt es, die Solidarität aufrecht zu erhalten. Auch wenn der Winter nicht einfach wird. Davon müssen wir die Bürgerinnen und Bürger überzeugen. Mit klugen politischen Entscheidungen, mit gut abgestimmten, effektiven Hilfen und Maßnahmen. 
Innerhalb der internationalen Gemeinschaft. Aber auch hier bei uns in Deutschland. 

Dafür ist mitentscheidend, dass wir unsere eigene Demokratie stark, also wehrhaft und handlungsfähig, halten.

Ich bin überzeugt, dass wir auf diesem Weg schon einiges richtig machen. 
Aber wir können noch besser werden. 

Das beziehe ich auch auf unser Parlament und meine eigene Arbeit als Bundestagspräsidentin.

Der Deutsche Bundestag muss mit der Zeit gehen.
Die Herausforderung ist, den Bürgerinnen und Bürgern ein gleichermaßen attraktives und realistisches Bild ihres Parlaments zu vermitteln. 
 
Um Ängste zu mindern, Sorgen zu lindern und um gemeinsam gut durch diese Zeit zu kommen, kommt es in erster Linie auf eine kluge Politik an. 
Aber wir müssen auch unsere Kommunikation verbessern. Mit einer klaren, verständlichen Sprache. 

Mit einem starken Parlament. 
Das heißt für mich: Ein Parlament, das zuhört – und dem zugehört wird. 
Weil es eine spannende und trotzdem von Respekt getragene Debattenkultur bietet. 
Weil die Abgeordneten dort nachvollziehbar diskutieren, arbeiten und entscheiden. 

Politik muss nicht nur gehört, sondern auch verstanden werden. 
Die Grundlagen hierfür legt  politische Bildung. Sie kann Verständnis für politische Entscheidungsprozesse vermitteln. 
Und sie kann die Notwendigkeit von Kompromissen in einer von pluralen Interessen geprägten Gesellschaft erklären. 

Deswegen sehe ich es als eine zentrale Aufgabe an, die politische Bildung – insbesondere für junge Menschen – zu stärken. 
Sie versetzt Bürgerinnen und Bürger in die Lage, politische Nachrichten zu bewerten und einzuordnen. 
Sie hilft ihnen, Information von Desinformation zu unterscheiden. 
Und sie ist unverzichtbar, um Verständnis für unser parlamentarisches System zu vermitteln.  

Damit sich die Menschen mit der Demokratie identifizieren. Damit sie souverän am politischen Leben teilnehmen können. 

Eine besondere Herausforderung liegt darin, wie wir diejenigen wieder näher an unsere parlamentarische Demokratie heranführen, denen Parteien und Parlamente fremd geworden sind. 

Menschen die bisher keine Berührungspunkte mit Politik hatten. 
Weil dafür in ihrem Leben einfach kein Platz war. 
Weil das Interesse fehlt, die Zeit oder die Möglichkeiten. 
Hier wird politische Bildung auch ganz klar zu einer Gerechtigkeitsfrage. 

Alle Bürgerinnen und Bürger haben ein Recht auf politische Teilhabe. Und wir haben die Pflicht dafür zu sorgen, dass alle die gleichen Chancen haben, dieses Recht wahrzunehmen. 

Bürgerräte sind eine Möglichkeit, mehr Menschen einzubeziehen. Im Bundestag haben wir in der vergangenen Wahlperiode gute Erfahrungen mit diesem Format gemacht. 
Aber auch gelernt, was wir besser machen müssen. Das Verfahren war aufwendig – aber es war die Mühe wert. 

Wir haben gesehen: Bürgerräte können in einer Demokratie zu besseren Entscheidungen beitragen. 

Sie sind eine gute Ergänzung zu den bekannten Instrumenten der parlamentarischen Meinungsbildung, wie Expertenanhörungen und Fachkommissionen. 

Sie machen für die Beteiligten Politik greifbar und erlauben es ihnen, sich besser in die Rolle von Entscheidungsträgern hineinzuversetzen. 
Damit können Bürgerräte unseren Parlamentarismus um eine wertvolle Perspektive erweitern. 

Allerdings können sie das nur leisten, wenn wir sie richtig anwenden. Und zeigen, dass wir Politikerinnen und Politiker ihre Ergebnisse auch wirklich aufgreifen. 

Wir haben im Ausland gesehen: 
Wer die Umsetzung der Vorschläge von Bürgerinnen und Bürgern verspricht, muss Wort halten. 
Wo das unterbleibt, wächst eher Enttäuschung. 

Das bietet jenen zusätzliche Munition, die darauf zielen unsere Demokratie zu beschädigen. 
Die Zweifel, Zwietracht und Unzufriedenheit streuen wollen. Gegenüber den Institutionen und den Verfahren der repräsentativen Demokratie. 

Ein Wundermittel für die Probleme unserer Demokratie sind Bürgerräte nicht. 

Nur Parlamente verknüpfen die Macht zu entscheiden mit der Pflicht, sich dafür öffentlich zu rechtfertigen und politische Verantwortung zu übernehmen. 

Das ist der zentrale Unterschied, zwischen einem gelosten Bürgerrat und einem gewählten Parlament. 
Der eine kann das andere zwar gut ergänzen, aber nicht ersetzen. 
Genau wie direktdemokratische Verfahren. Manche fürchten sich ja, diese auch auf Bundesebene zu ermöglichen. 
Ich habe davor ehrlich gesagt weitaus weniger Angst. 
Sie alle sind Instrumente, um demokratisch legitimierte Entscheidungen zu treffen. 

Wir haben als Parlament allen Grund, uns selbstbewusst zu zeigen. 
Auch im Angesicht von Krisen und Epochenumbrüchen. 
Auch gegenüber der Exekutive. 
Auch – und gerade – wenn es darum geht, dass unser Land solide Politik macht. 
In der Sache und im Verfahren. 

Der Deutsche Bundestag wird auch in Zukunft alle Vorhaben, die an ihn herangetragen werden, gründlich prüfen, beraten und bewerten. Und Änderungen vornehmen, wo es notwendig ist.

Sehr geehrte Damen und Herren,
ich weiß nicht, ob Unzufriedenheit wirklich – wie eingangs angedeutet – etwas Deutsches ist. Ich vermute eher nicht.

Was ich aber sicher weiß: Wir müssen uns vor Unzufriedenheit nicht fürchten. 
Sie ist wichtig, um uns zu zeigen, was wir besser machen können und sollten. 

Die Demokratie zeichnet aus, dass sie öffentliche Unzufriedenheit zulässt und moderiert. 
Ihre Stärke liegt darin, Kritik, Einwände und Sorgen zu hören und auf friedlichem Wege in politische Entscheidungen einzubeziehen. 
Sie lernt dazu und wandelt sich. 
Das zeichnet sie aus und macht sie attraktiv. 

Und das macht ihren Gegnern Angst. 

Es ist diese Stärke unserer Demokratie, die mir Mut macht. Trotz der schwierigen Entscheidungen, die für unser Land anstehen. Trotz der Belastungen und Entbehrungen, die uns abverlangt werden. 

Unsere Demokratie hat die Kraft, die Menschen auf dem Weg durch die schwierigen Zeiten mitzunehmen. Sie für das Notwendige zu gewinnen. 
Unser Parlament und seine Abgeordneten spielen dabei eine wesentliche Rolle. Indem wir aufmerksam zuhören, uns Vertrauen erarbeiten, Zusammenhalt zeigen und Orientierung bieten. 

Herzlichen Dank!

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25.10.2022 | Parlament

Rede von Bundestagspräsidentin Bärbel Bas beim parlamentarischen Treffen der Internationalen Krim-Plattform in Zagreb

[Es gilt das gesprochene Wort.]

Sehr geehrter Herr Präsident Jandroković, 
Sehr geehrter Herr Präsident Stefantschuk, 
Exzellenzen,
liebe Kolleginnen und Kollegen,
sehr geehrte Damen und Herren!

Ein Blick in diesen Raum genügt, um zu verstehen, wie stark die Allianz der Länder an der Seite der Ukraine ist.

Wir alle hier stellen uns gegen die Aggressionen Russlands. 
143 Staaten haben am 12. Oktober die jüngsten völkerrechtswidrigen Annexionen Russlands eindeutig verurteilt – so wie es die VN-Generalversammlung auch 2014 mit Blick auf die Krim getan hat. 

Wir werden diese illegalen Annexionen -  einschließlich der völkerechtswidrigen Annexion der Krim  - niemals anerkennen. 
Die Krim gehört zur Ukraine. 
Wir verurteilen die anhaltenden systematischen Menschenrechtsverletzungen auf der Krim durch Russland. 
Eine Staatengemeinschaft kann nur auf der Grundlage internationalen Rechts funktionieren und Frieden bewahren. 
Die Frage von Krieg und Frieden ist existenziell. Sie gehört selbstverständlich in die Parlamente. In diesem Sinne ist es gut und richtig, das exekutive Format der Krim-Plattform um eine parlamentarische Dimension zu erweitern.
Ich danke unseren Kollegen Gordan Jandroković und Ruslan Stefantschuk - und allen, die in kurzer Zeit diese Krim-Plattform ermöglichen.  

Unsere gemeinsame Erklärung ist eindeutig. 
Wir bekennen uns: 
zur Souveränität, 
zur Unabhängigkeit, 
zur Einheit 
und zur territorialen Integrität der Ukraine innerhalb der international anerkannten Grenzen.
Seit acht Monaten bringt dieser Krieg täglich Tod und Leid für viele Menschen.
Die planmäßige Zerstörung der zivilen Infrastruktur - gerade in den vergangenen Tagen - ist ein weiterer Gipfel der Barbarei. 
Ich verurteile auch diese Angriffe im Namen des Deutschen Bundestages auf das Schärfste. 

Das mutige ukrainische Volk lässt sich von solchen Angriffen nicht einschüchtern. Ihnen gilt unsere volle Solidarität. 

Russland setzt alles daran, uns zu spalten.  
Wir lassen uns aber weder spalten noch erpressen. Im Gegenteil.

Für Deutschland kann ich sagen: Wir investieren massiv und dauerhaft in unsere Armee. 
Wir nehmen unsere Beistandspflichten gegenüber unseren Verbündeten sehr ernst. 
Wir haben nicht vergessen, wer die Freiheit der Bundesrepublik über Jahrzehnte garantiert hat!

Zusammen mit unseren Verbündeten unterstützen wir die Ukraine auch militärisch. 
Gerade haben wir das Luftverteidigungssystem Iris-T SLM geliefert. Weitere Lieferungen folgen. 

Die freie und demokratische Welt steht fest an der Seite der Ukraine. Solange wie nötig und mit aller Kraft. 

Wir müssen gemeinsam weiter Druck auf Russland ausüben, um die vorübergehende russische Besatzung der Krim zu beenden und die ukrainische Kontrolle wiederherzustellen. 
Ich glaube fest daran, dass die Demokratie, die Freiheit, der Parlamentarismus und das Recht siegen werden. 

Ich danke Ihnen.

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07.11.2022 | Parlament

Eröffnung der achten Sitzung der Deutsch-Französischen Parlamentarischen Versammlung durch Bundestagspräsidentin Bärbel Bas

[Es gilt das gesprochene Wort.]

Sehr geehrte Frau Präsidentin, 
liebe Yaël Braun-Pivet,
sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete,
sehr geehrter Herr Botschafter Delattre,
liebe Gäste auf der Tribüne,
liebe Zuschauerinnen und Zuschauer im Livestream!

Ich begrüße Sie herzlich zur achten Sitzung der Deutsch-Französischen Parlamentarischen Versammlung. 
Insbesondere begrüße ich unsere Kolleginnen und Kollegen aus der Assemblée nationale. 

Herzlich willkommen im Deutschen Bundestag! Ich freue mich sehr, dass Sie heute hier sind!

Liebe Kolleginnen und Kollegen, 

unsere Zusammenarbeit und unser Zusammenhalt sind wichtiger denn je. 

Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine verändert unseren Kontinent dauerhaft. 

Wir müssen Sicherheit in Europa neu denken. 

Wir Europäer sind aufgerufen, unsere Handlungsfähigkeit in der Außen- und Sicherheitspolitik auszubauen. 
Wir müssen unsere Sicherheit stärker in unsere eigenen Hände nehmen. 
Auch mit Blick auf die Rolle Chinas und die stärkere Ausrichtung der USA auf den indo-pazifischen Raum. 

Wir müssen für unsere Werte und unsere Art zu leben einstehen. 
Und die Souveränität der EU stärken. 

Auch bei der Energieversorgung. 
Russlands Angriff erfordert auch in der Energiepolitik eine strategische Neubewertung. 
Unsere Energie-Unabhängigkeit zu stärken, ist eine Priorität geworden. 
Auch in der veränderten Lage halten wir an unseren Klimaschutzzielen fest. 
Es ist eine unserer großen Aufgaben, Energie-Sicherheit und die ökologische Transformation miteinander zu vereinbaren. 

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

14 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer wurden laut UNHCR  seit dem 24. Februar aus ihren Häusern vertrieben. 

Die humanitäre Lage in der Ukraine wird sich angesichts der gezielt zerstörten Infrastruktur im  Winter weiter verschärfen. 
Russland hat gezeigt, dass es auch Hunger skrupellos als Kriegswaffe einsetzt. 
Mit verheerenden Folgen – weltweit. 

Auch viele Europäer sorgen sich vor dem Winter. 

Die Kriegsfolgen sind auch bei uns spürbar. Zwei Punkte sind mir daher besonders wichtig: 

1.    Wir müssen die Solidarität mit der Ukraine aufrechterhalten.
2.    Wir müssen den Zusammenhalt und die Geschlossenheit in Europa wahren.

Wir dürfen uns nicht spalten lassen. 
Die enge deutsch-französische Zusammenarbeit ist in dieser Lage noch wichtiger geworden. 
Ja, Deutschland und Frankreich haben in einigen Fragen unterschiedliche Herangehensweisen.  Und ja, auch unterschiedliche, aber jeweils legitime Interessen. 

Das gehört zu einer echten Freundschaft. 
Unsere Stärke lag immer darin, diese Unterschiede in Fortschritte für Europa zu verwandeln.

Hierzu trägt auch diese Versammlung bei. 

Gerade jetzt sind wir Parlamentarierinnen und Parlamentarier besonders gefordert. 
Ergreifen wir gemeinsam die Initiative! 
Geben wir Impulse für die Zukunft Europas!

Jean Monnet erklärte die Bedeutung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl einmal sinngemäß so: „Es geht nicht um Kohle. Und nicht um Stahl. Es geht – um Europa.“

Heute müssten wir vielleicht sagen: 
Es geht zwar auch ums Gas. 
Es geht auch um Strom. 
Aber vor allem geht es um den Frieden und den Zusammenhalt auf unserem Kontinent. 

Vor wenigen Tagen haben die G7-Außenminister und –ministerinnen in Münster, der Stadt des Westfälischen Friedens, beraten: 
zur Unterstützung der Ukraine in diesem Winter, aber auch zum Umgang mit China und der Situation im Iran. 

Gleich haben wir die Gelegenheit, Staatssekretärin Laurence Boone in Vertretung für Außenministerin Catherine Colonna und Bundesaußenministerin Annalena Baerbock zu diesen und anderen Themen zu befragen. 

Ich danke Ihnen Beiden sehr, dass Sie diesen Termin möglich gemacht haben!

Zunächst darf ich nun das Wort an Sie übergeben, Frau Präsidentin! 

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10.11.2022 | Parlament

Worte von Bundestagspräsidentin Bärbel Bas vor Eintritt in die Tagesordnung zum Tode des ehemaligen MdB und MdEP Werner Schulz am 9. November 2022

[Stenografischer Dienst]

Präsidentin Bärbel Bas:

Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich wünsche einen guten Morgen. Die Sitzung ist eröffnet.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, gestern verstarb das frühere langjährige Mitglied des Deutschen Bundestages und des Europäischen Parlaments Werner Schulz im Alter von 72 Jahren. Wir trauern mit seiner Witwe Monika Schulz und seinen Angehörigen. Wir sind tief bestürzt über diesen großen Verlust. Sein Tod kam plötzlich und viel zu früh.

Der DDR-Bürgerrechtler und spätere Grünenpolitiker verstarb während einer Veranstaltung im Schloss Bellevue mit dem Titel „Wie erinnern wir den 9. November? Ein Tag zwischen Pogrom und demokratischen Aufbrüchen“. Ausgerechnet am 9. November endete sein Leben. Werner Schulz hatte sich dafür eingesetzt, dieses Datum, das auch der Tag des Mauerfalls ist, zum Nationalfeiertag unseres wiedervereinigten Landes zu machen.

Werner Schulz stand für seine Überzeugungen ein. Aufrichtig und mutig. Oft unbequem und gegen den Strom. Mit scharfer Zunge und klarem Blick. Und immer der freiheitlichen Demokratie verpflichtet.

Für seinen jahrzehntelangen Einsatz für die Demokratie und für die Opposition in Russland wurde er im Juni mit dem Deutschen Nationalpreis geehrt. Der frühere Bundespräsident Joachim Gauck sagte in seiner Laudatio über Werner Schulz - ich zitiere -:

Sein Leben hat ihn gelehrt, dass unsere Ängste nicht das letzte Wort haben dürfen, wenn wir tun, was wir tun müssen.

1968, als Panzer den Prager Frühling niederwalzten, war Werner Schulz gerade 18 Jahre alt. Um in der DDR studieren zu dürfen, musste er seine Sympathien für den Prager Frühling verleugnen. Schriftlich. Er unterzeichnete eine Resolution, die den Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen befürwortete.

Dieses Handeln gegen die eigene Überzeugung prägte ihn. Er vergaß es nie. Diesen Schmerz wollte er nicht noch einmal erleben. Er wollte seinen Werten und der Wahrheit verpflichtet handeln.

Dieser Anspruch führte ihn in die Opposition. Seit den 1970er-Jahren engagierte er sich in der kirchlichen Friedens-, Umwelt- und Bürgerrechtsbewegung. Sein Name wird mit der Friedlichen Revolution und der Wiedervereinigung unseres Landes verknüpft bleiben. Seit 1982 engagierte er sich im Pankower Friedenskreis - dem ersten unabhängigen Friedenskreis unter dem Dach der Kirche.

1989 kritisierte er offen die gefälschten Kommunalwahlen und wurde Mitbegründer des Neuen Forums, das er sechsmal am Zentralen Runden Tisch der DDR vertrat. Während des Wiedervereinigungsprozesses setzte er sich für eine neue Verfassung nach Artikel 146 Grundgesetz ein.

Werner Schulz war Mitglied der ersten frei gewählten Volkskammer der DDR und des ersten Bundestags, der aus gesamtdeutschen Wahlen hervorging. In diesem Bundestag war er Sprecher der acht ostdeutschen bündnisgrünen Abgeordneten. Er war Mitbegründer von Bündnis 90 als Partei und ein Motor der Vereinigung mit den westdeutschen Grünen 1993.

Als Bundestagsabgeordneter und später als Abgeordneter des Europäischen Parlaments erhob er immer wieder und frühzeitig die Stimme für Freiheit und Demokratie. Manche seiner Positionen - wie zu Militärinterventionen in Bosnien oder zu Waffenlieferungen an die Ukraine - fanden erst später Zustimmung.

Er vergaß nie die Unterstützung der westdeutschen Grünen für die demokratische Opposition in der DDR vor 1989. Als er 2006 in Sankt Petersburg die Journalistin Anna Politkowskaja kennenlernte und von ihr über die Repressionen in Russland erfuhr, erinnerte er sich an diese Hilfe und unterstützte seitdem die russische Opposition.

Früher als andere, früher als die meisten von uns, sah er Putins Gefährlichkeit und Skrupellosigkeit sehr klar. Als Putin 2001 hier im Deutschen Bundestag sprach, verließ er vorzeitig das Plenum. Schon vor Jahren kritisierte er, dass die westliche Staatengemeinschaft Russlands aggressivem Imperialismus entschieden Einhalt hätte gebieten müssen und die Ukraine stärker schützen müsste.

Im Frühjahr sagte Werner Schulz in einem Interview:

Zur Demokratie gehört Zivilcourage, sich nicht zu verbiegen und sich nicht anzubiedern.

Seine Haltung und seine Unabhängigkeit machten ihn - über Parteigrenzen hinweg - zu einem hochgeschätzten Politiker und Menschen.

Dieser mutige und aufrichtige Kämpfer für die freiheitliche Demokratie wird unserem Land fehlen.

Ich möchte Sie nun bitten, sich für eine Schweigeminute als Zeichen unserer Dankbarkeit und unserer Trauer um Werner Schulz von den Plätzen zu erheben.

(Die Anwesenden erheben sich)

- Ich danke Ihnen.

(Die Anwesenden nehmen wieder Platz)

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Parlament

Rede zum 50. Jubiläum der Otto Brenner Stiftung (OBS) in Frankfurt am 26.11.2022

[Es gilt das gesprochene Wort.]


Sehr geehrter Herr Hofmann, 
Sehr geehrter Herr Legrand, 
Sehr geehrte Frau Pinkall, 
sehr geehrte Damen und Herren,
Liebe Kolleginnen und Kollegen,

erst einmal: Herzlichen Glückwunsch zu 50 Jahren Otto Brenner-Stiftung. 

Heute spreche ich zu Ihnen nicht nur als Präsidentin des Deutschen Bundestages. Sondern auch als überzeugte Gewerkschafterin. 
Es freut mich sehr, mit Ihnen und Euch auf 50 Jahre Otto Brenner Stiftung zurück zu blicken.
Auf eine Geschichte, an deren Anfang ein zu frühes Ende stand. Und eine zukunftsweisende Entscheidung. 

Am 15. April 1972 starb Otto Brenner, mit nur 64 Jahren. Statt ihm mit „Kranz- und Blumenspenden“ zu gedenken, wählte man einen weitsichtigeren Weg: 

Die Gründung der Otto Brenner Stiftung. 
Als Wissenschaftsstiftung der IG Metall trägt sie sein Vermächtnis in die Zukunft. 
Seit einem halben Jahrhundert. 

Auf der Trauerfeier sprach auch Bundeskanzler Willy Brandt. Er würdigte Otto Brenner als einen „der großen Gewerkschaftsführer unseres Landes“. Zitat Ende.

Das war Otto Brenner zweifelsohne: 
„Sein Name ist mit allen wichtigen politischen und sozialen Kämpfen der Nachkriegszeit verbunden.“ Zitat Ende

So beschrieb es Werner Thönessen, sein langjähriger Pressechef.

Brenner war ein visionärer Demokrat. 
Ein sozialer Demokrat, der als Jugendlicher den Aufbruch in die Republik von Weimar erlebte. 

Der Zeuge wurde, wie diese junge Republik immer weiter aus dem Gleichgewicht kam – erschüttert durch Krisen, zerrissen durch innere Konflikte. 
Und wie sie schließlich in den Abgrund der NS-Diktatur und des Krieges taumelte. 
Zwei Jahre zwangen ihn die Nationalsozialisten in Haft.

Diese Erfahrungen machten Otto Brenner zu einem entschlossenen Streiter für den demokratischen Neuanfang in der Bonner Republik. 

20 Jahre stand er an der Spitze der IG-Metall, der mitgliederstärksten Einzelgewerkschaft im DGB. 

Für Otto Brenner war Demokratie immer mehr als ein „formales Prinzip“. 
Er sah sie als „reale Kraft, die mehr und mehr alle gesellschaftlichen Bereiche durchdringen muss“. Zitat Ende. 

Das hieß für ihn, Staat, Wirtschaft und Gesellschaft zu verbessern.  

Für Otto Brenner war politische Teilhabe nur auf Basis sozialer Teilhabe möglich. 
Der Mensch sollte nicht „Spielball“ der herrschenden Kräfte sein. 
Sondern selbst „handelnde Kraft“ werden, 
die Zukunft in die eigenen Hände nehmen. 

Er sollte frei sein und mitbestimmen – in allen Bereichen des Lebens.
Sehr geehrte Damen und Herren, 

in den vergangenen fünf Jahrzehnten hat sich die Otto Brenner-Stiftung dem Ziel gewidmet, diese Vision in Ehren zu halten: 
Die Vision einer umfassenden Demokratisierung von Wirtschaft und Gesellschaft.

Immer gestützt auf wissenschaftliche Erkenntnisse. Auch damit knüpfte die Stiftung unmittelbar an das Vorbild Otto Brenners an. 

In seinem „Brain Trust“ versammelte Brenner einen ausgesuchten Kreis von Fachleuten – gewissermaßen seine gewerkschaftseigene Ideenschmiede. 

Konsequent pflegte er den engen Kontakt mit führenden Köpfen der Wissenschaft. 
Damals wie heute keine Selbstverständlichkeit.

Der Sozialwissenschaftler Eugen Kogon schrieb in einer Festschrift zu Brenners 60. Geburtstag im Jahr 1967 über uns Abgeordnete:  
„Die allermeisten von ihnen sind zur Zeit nichts als Pragmatiker von Ereignis zu Ereignis, von Zustand zu Zustand.“ Zitat Ende.

Offenbar gab es auch damals den Wunsch nach Entscheiderinnen und Entscheidern, die sich nicht nur von den Umständen der Zeit treiben lassen. 
Nach einer Politik, die in langen Bahnen denkt. 
Nach Politikerinnen und Politkern mit einem offenen Ohr für die wissenschaftliche Debatte. 
Schon damals zeigte sich: Je komplexer die Herausforderungen, umso mehr brauchen wir die Expertise und den Rat der Wissenschaft. 
Otto Brenner wusste das früh.

Vorauszudenken war für ihn essentiell.   
In Mitbestimmungsfragen. 
Beim Thema Automation und den Folgen technischer Neuerungen für die Arbeitswelt. 
In Fragen der Kernenergie. 
Und auch beim Konflikt zwischen Wirtschaft und Umwelt. So fragte Brenner in einem Grundsatzreferat:
„Aber muss auf diese Weise produziert werden? Hat es Sinn, die unablässige Vermehrung des Reichtums damit zu bezahlen, dass wir im Wohlstandsmüll versinken und in einer verseuchten Welt leben müssen?“ Zitat Ende.
Das Zitat stammt aus dem Jahr 1971. 

Also noch bevor der Club of Rome – im Folgejahr – seinen Bericht zu den Grenzen des Wachstums vorstellte. 

Ich erinnere daran auch deshalb, weil wir im Kampf gegen den Klimawandel zu langsam vorankommen. 
Im Pariser Klimaabkommen haben wir uns auf das 1,5 Grad Ziel verständigt. 
Aktuell steuern wir auf eine Erderwärmung von mehr als 2 Grad zu. 

Die Folgen wären verheerend. 
Was sie bedeuten, bekommen wir gerade erst zu spüren. 
Wir dürfen den Klimawandel nicht ausblenden. 
Auch nicht angesichts des Ukrainekriegs und seiner Folgen. Wir müssen den ökologischen Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft jetzt nach Kräften vorantreiben. Sonst schaffen wir es nicht mehr, die Lebensgrundlagen unserer Zivilisation zu bewahren. 
Es ist höchste Zeit!

Sehr geehrte Damen und Herren, 

Otto Brenner war auf der Höhe der Zeit– und manchmal ihr weit voraus. 
Genau wie die nach ihm benannte Stiftung. 

Vor allem in den 1970er und 1980er Jahren, als es um die Fortentwicklung des Arbeitsrechts ging. 
Auch nach der Wiedervereinigung leistete  die Stiftung Pionierarbeit. Sie legte einen Schwerpunkt auf das Zusammenwachsen der Lebens- und Arbeitswelten von Ost und West. 

Ihre Studien veränderten den Blick auf die Beschäftigten in den – damals neuen – Bundesländern. 
Über die 2008 gegründete „Stiftung neue Länder“ unterstützt sie zum Beispiel junge Menschen, Migrantinnen und Migranten oder Langzeitarbeitslose bei Ausbildung und Arbeitssuche. 

Junge Menschen brauchen Perspektiven. 
Sie müssen ihre Talente entfalten können 
und die Chance erhalten, durch Bildung und Arbeit aufzusteigen. 
Das ist auch im Interesse unserer Gesellschaft. Vor allem wenn es darum geht, Umbrüche zu bewältigen und Transformation zu gestalten.

Umwälzungen, wie sie auch unsere östlichen Nachbarn in der Nachwendezeit durchlebt haben.
Die Otto Brenner Stiftung hat diese Transformation aktiv unterstützt. 
Gerade mit ihren Mittelosteuropa-Konferenzen bot sie ein wichtiges Forum für den Austausch. 

Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine zeigt, wie wichtig die Zusammenarbeit mit unseren mittel- und osteuropäischen Nachbarn ist. 

Er führt uns schmerzhaft vor Augen, dass wir besser auf unsere Nachbarn hätten hören sollen. 
Angesichts der Krisen unserer Zeit, brauchen wir die internationale Solidarität der Demokratinnen und Demokraten. 

Ob es um unsere internationale Sicherheitsordnung geht oder um die Neuausrichtung der Weltwirtschaft. 
Um ein stabiles Klima und intakte Ökosysteme – mit einer lebendigen Artenvielfalt. 
Oder den Kampf gegen Hunger und Armut.

Wohin Entsolidarisierung führt, konnten wir in den 1990er Jahre sehen. 
Einer Zeit, in der sich die Fallstricke der Globalisierung zeigten. 
Einer Zeit im Zeichen von Neoliberalismus und Deregulierung.
Für die Gewerkschaften waren das keine einfachen Jahre. 
Diese Jahre haben den Sozialstaat – und auch die Sozialdemokratie – verändert. 
Viele Fragen ergeben sich aus den gesellschaftspolitischen Weichenstellungen von damals. Bis hin zur Bürgergeld-Diskussion.

Die Otto Brenner Stiftung hat diese Entwicklungen kritisch begleitet, Schieflagen angeprangert und mit ihren Mitteln dagegengehalten. Sie war immer eine wichtige Stimme im gesellschaftspolitischen Diskurs. 

Sehr geehrte Damen und Herren,
unsere Wirtschafts- und Arbeitswelt sozial und demokratisch zu gestalten. Das war Otto Brenner ein zentrales Anliegen. 
Nach wie vor sind die Teilhabechancen in unserer Gesellschaft ungleich verteilt. Von den globalen Ungerechtigkeiten ganz zu schweigen. 

Nach wie vor entscheiden Bildungshintergrund und soziale Herkunft zu stark darüber, wie gut Menschen sich in unserer Demokratie politisch einbringen können. 

Das dürfen wir nicht hinnehmen. 

Teilhabe ist in einer Demokratie ein Recht aller Bürgerinnen und Bürger. 
Und noch mehr als das: erst eine breite Teilhabe macht eine Demokratie stark und lebendig. 

Eine Demokratie braucht ihre Bürgerinnen und Bürger. 
Als Demokratinnen und Demokraten ist es deshalb unsere Pflicht, möglichst allen gleiche Chancen zu bieten, dieses Recht auch wahrnehmen zu können. 

Nach wie vor gilt betriebliche Mitbestimmung vielen Arbeitgebern als Störfaktor, bestenfalls als notwendiges Übel. 

Dabei ist sie ein Erfolgsfaktor – für unsere Betriebe aber auch für unsere Demokratie als Ganzes. 

Für eine soziale Demokratie zu kämpfen, heißt immer auch für Mitbestimmung zu streiten! 

Sehr geehrte Damen und Herren, 
seit Ende der 1990er widmete sich die Stiftung verstärkt auch einer anderen Gefahr für unsere freiheitliche und demokratische Gesellschaft: 
Der Bedrohung von rechts außen. 

Seit 1990 hat rechtsextreme Gewalt in Deutschland eine dreistellige Zahl von Todesopfern gefordert. 

Elf Jahre ist es her, dass sich der NSU selbst enttarnte. 
Vor dreißig Jahren brannte das Sonnenblumenhaus in Rostock-Lichtenhagen. 

Mölln, Solingen, Halle, Hanau – vier Ortsnamen, die für viele weiterer Hassverbrechen stehen.

Allein im vergangenen Jahr verzeichneten die Behörden mehr als 20.000 rechtsextremistische Straf- und Gewalttaten.

Jedes dieser Verbrechen muss uns zutiefst beschämen.

Die dahinter steckenden Ideologien – Rassismus, Antisemitismus und Nationalismus – findet sich keineswegs nur an den gesellschaftlichen Rändern. 

Das haben nicht zuletzt Studien deutlich gemacht, die unter Beteiligung der Otto Brenner-Stiftung entstanden sind. 

Wie die Leipziger Autoritarismus-Studien. 
Die neueste Studie ist diesen Monat erschienen. Sie verweist auch auf positive Entwicklungen:
Ich zitiere: „Der ‚harte Kern‘ antidemokratischer Milieus wurde kleiner, die Zahlen belegen eine starke Abnahme des Personenkreises mit geschlossen rechtsextremem Weltbild, insbesondere in Ostdeutschland.“ Zitat Ende. 

Grund zur Entwarnung ist das keinesfalls: Ausländerfeindliche Aussagen treffen in Westdeutschland bei jedem zehnten Menschen auf Zustimmung.  
Im Osten – bei steigender Tendenz – sogar bei jedem Dritten.
Auch dieses düstere Bild zeigt die Studie. 
Hinzu kommt: Führende Köpfe der extremen Rechten versuchen seit Jahren, ihren Einfluss auf Kultur und Zivilgesellschaft auszubauen. 

Wir müssen wachsam bleiben. 
Und nach Kräften dagegen halten. 
Das Grundversprechen unserer Verfassung gilt:  Die Würde des Menschen ist unantastbar! 
Jede und jeder muss sich bei uns sicher und respektiert fühlen können. 

Menschenfeindliche, rassistische oder antisemitische Äußerungen sind nie legitim! 

Sie haben auf Straßen und Schulhöfen nichts zu suchen, 
nicht in Zeitungskolumnen und Internetforen. 
Und auch nicht im Deutschen Bundestag.
Wir müssen wachsam bleiben, Zivilcourage an den Tag legen und fördern. Wir müssen unsere Demokratie verteidigen.

Die Otto Brenner Stiftung trägt dazu noch in einer weiteren Form bei: 
Sie hat ein Auge darauf, wie sich die demokratische Öffentlichkeit und insbesondere der Journalismus verändern. 

Die Sphäre politischer Diskussion ist zersplittert. Sie zerfällt in immer kleinteiligere Teilöffentlichkeiten, zerstritten im Kampf um Aufmerksamkeit und Zustimmung, 
um Reichweite und Marktanteile. 

Je weiter diese Entwicklung fortschreitet, umso mehr prägt sie auch unseren Blick auf das Politische. 

Um angesichts der verschärften Konkurrenz zu bestehen, passt sich die Politik den Gesetzen des Marktes an. 

Ich bin überzeugt, dass Parlamente und Abgeordnete gut daran tun, verständlich zu kommunizieren und Empathie zu zeigen. 

Es ist mir wichtig, dass wir uns nicht hinter Bürokratendeutsch und Fachterminologie verschanzen. 

Gleichzeitig müssen wir deutlich machen: Politik ist kein Unterhaltungsformat, Parlamentarismus keine Show. 

Am Ende geht es um Inhalte, komplexe Abwägungen und sorgfältig zu begründende Entscheidungen. 

Mir ist es wichtig, dass das auch im Deutschen Bundestag immer wieder deutlich wird.
Wenn wir zu leichtfertig vereinfachen, 
leidet die Substanz unserer Demokratie.

Sehr geehrte Damen und Herren,

heute Abend werden zum 18. Mal die Otto-Brenner-Preise verliehen. 
Ich bedauere sehr, später nicht mit dabei sein zu können, wenn die Auszeichnungen vergeben werden.

Zugleich freut es mich zu sehen, dass die Jury auch in diesem Jahr hervorragende Beispiele für kritischen Journalismus auszeichnet. 

Den Preisträgerinnen und Preisträgern schon an dieser Stelle herzlichen Glückwunsch!

Hinter dem Preis steht einer der berühmtesten Leitsätze Otto Brenners, formuliert 1968:
„Nicht Ruhe, nicht Unterwürfigkeit gegenüber der Obrigkeit ist erste Bürgerpflicht, sondern Kritik und ständige demokratische Wachsamkeit.“ Zitat Ende. 

Damals kämpfte Otto Brenner an der Spitze seiner Gewerkschaft gegen die Notstandsgesetze. Er lehnte sie aufgrund seiner Erfahrungen als Verfolgter des NS-Regimes aufs Schärfste ab. 

Seinerzeit hatte die Bonner Republik gerade erst zaghaft – und gegen Widerstände – begonnen, die Geschichte der nationalsozialistischen Diktatur aufzuarbeiten. 

Umso wichtiger war es, kritisch auf die Entwicklung der Demokratie in den Institutionen von Staat und Gesellschaft zu blicken. 

Heute herrscht an öffentlicher Kritik gegenüber der Politik und den Parlamenten eigentlich kein Mangel. 
Aber natürlich braucht die Demokratie auch weiterhin kritische und engagierte Bürgerinnen und Bürger.

Es gehört zu den großen Stärken der Demokratie, dass sie fähig ist zu lernen. 
Sie wächst an Kritik und Selbstkritik – gerade im Parlament.

Auch der Deutsche Bundestag muss weiterhin bereit sein, dazu zu lernen. 
Als Abgeordnete  müssen wir uns gegenüber neuen Perspektiven aufgeschlossen zeigen und neue Instrumente erproben. 

Während aktuell eine Vielzahl von Transformationsprozessen parallel ablaufen, müssen wir unsere Demokratie zukunftsfest machen.  
Dafür brauchen wir Wissenschaft, Stiftungen und – nicht zuletzt – Gewerkschaften. 

Die Otto Brenner Stiftung war unserer Demokratie immer eine wichtige Begleiterin. 
Ich danke allen, die daran in den vergangenen fünf Jahrzehnten Anteil hatten. 
Für ihre Arbeit und für Ihr Engagement. 

Ich gratuliere Ihnen nochmals sehr herzlich zu diesem besonderen Jubiläum. 

Und wünsche Ihnen auch für die nächsten 50 Jahre: Viel Erfolg und alles Gute!
 

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Parlament

Worte von Bundestagspräsidentin Bärbel Bas vor Eintritt in die Tagesordnung zum 50. Jahrestag der Wahl von Annemarie Renger zur Bundestagspräsidentin und zum 50. MdB-Jubiläum von Wolfgang Schäuble

[Stenografischer Dienst]

Präsidentin Bärbel Bas:

Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich wünsche Ihnen allen einen schönen guten Morgen. Die Sitzung ist eröffnet.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße heute Morgen auf der Ehrentribüne auch die frühere Präsidentin der freien Volkskammer der DDR, Frau Dr. Bergmann-Pohl,

(Beifall)

sowie den früheren Bundestagspräsidenten Dr. Wolfgang Thierse.

(Beifall)

Ich begrüße sehr herzlich auch Frau Schäuble und Familie sowie weitere Weggefährten Wolfgang Schäubles auf der Ehrentribüne. Herzlich willkommen!

(Beifall)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, der 13. Dezember 1972 ist ein besonderes Datum in unserer Geschichte. An diesem Tag hat der Deutsche Bundestag zum ersten Mal eine Frau zur Präsidentin gewählt. Die Zeitung „Das Parlament“ titelte damals: „Der zweite Mann im Staat - eine Frau!“ Nicht nur im geteilten Deutschland war dies eine Premiere: Annemarie Renger war weltweit die erste Frau an der Spitze eines frei gewählten Parlaments.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Wahlbeteiligung lag 1972 bei traumhaften 91,1 Prozent.

(Beifall)

Der Frauenanteil im Parlament allerdings war so niedrig wie nie zuvor und übrigens auch danach. Zu Beginn der 7. Wahlperiode gehörten nur 30 Frauen dem Bundestag an - 5,8 Prozent der Abgeordneten.

(Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Unvorstellbar!)

In ihrer Antrittsrede sagte Annemarie Renger:

Die Wahl einer Frau … für dieses Amt hat verständlicherweise einiges Aufsehen erregt. Das Erstmalige und mithin Ungewohnte gerät in die Gefahr, zum Einmaligen und Besonderen erhoben zu werden.

In der Tat dauerte es 12 Jahre, bis mit Rita Süssmuth wiederum eine Frau an der Spitze des Bundestags war. Und nach Rita Süssmuth dauerte es sogar 23 Jahre bis zur dritten Bundestagspräsidentin. 

Heute nehmen Frauen selbstverständlich ihren Platz in Politik und in der Gesellschaft ein. Das verdanken wir auch der parlamentarischen Pionierarbeit von Annemarie Renger.

(Beifall)

Sie ebnete Frauen den Weg in die Politik und in der Politik. Annemarie Renger nutzte ihre Stellung als Bundestagspräsidentin, um, wie sie selbst sagte, „der Sache der Frauen zu dienen“. Sie wusste: Politisches Engagement und Familienleben lassen sich nur vereinbaren, wenn die Rahmenbedingungen passen. Das gilt noch heute, und nicht nur im Parlament. Für Annemarie Renger gehörte dazu, den Frauen der Bundestagsverwaltung die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu ermöglichen. Die Eröffnung der Bundestagskita im Jahr 1970 geht auch auf ihre Initiative zurück.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Frauenanteil ist mit knapp 35 Prozent auch im aktuellen 20. Bundestag zu niedrig.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der FDP und der LINKEN)

Frauen sind in Führungspositionen unterrepräsentiert. Sie verdienen oft weniger. Sie leisten mehrheitlich die Carearbeit, mit allen Folgen. Der Weg zu echter Gleichstellung ist noch weit. Annemarie Renger kann uns aber mit ihrer Beharrlichkeit Vorbild sein.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, Annemarie Renger wurde 1919 geboren - im Jahr der Einführung des Frauenwahlrechts. Ihr sozialdemokratisches Elternhaus stand in Opposition zum Nationalsozialismus. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Kurt Schumacher ihr politischer Mentor und Vertrauter. 37 Jahre gehörte sie dem Deutschen Bundestag ununterbrochen an. Sie war die erste Parlamentarische Geschäftsführerin der SPD-Fraktion, vier Jahre Bundestagspräsidentin und 14 Jahre Vizepräsidentin.

Ihr half dabei, dass sie „eine gehörige Portion Selbstbewusstsein“ besaß, wie sie sagte.

(Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU): Ja!)

Als Abgeordnete behielt sie immer ihren eigenen Kopf - nicht immer zur Freude ihrer Fraktion. Den Deutschen Bundestag führte sie souverän mit natürlicher Autorität und mit Charme.

Annemarie Renger hat nicht nur bewiesen, dass Frauen es können - sie prägte die damalige Politik in vielen Fragen: Sie führte Bürgergespräche im ganzen Land, sie trieb die Parlamentsreform voran, sie etablierte den Wissenschaftlichen Dienst des Deutschen Bundestages, sie stärkte das Petitionswesen und intensivierte die Arbeit der Enquete-Kommissionen.

Ihre Herzensangelegenheit war die Aussöhnung mit Polen und Israel; 14 Jahre lang leitete sie die Deutsch-Israelische Parlamentariergruppe. Der glücklichste Augenblick ihres politischen Lebens war für sie aber der 9. November 1989. Als sich die Nachricht vom Fall der Mauer verbreitete, leitete sie gerade als Vizepräsidentin die Beratungen im Bundestag in Bonn.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, Annemarie Renger war als Bundestagspräsidentin auch deshalb so erfolgreich, weil sie einen feinen Humor besaß. In ihrer Antrittsrede würdigte sie die jungen Abgeordneten mit folgenden Worten - ich zitiere -:

In unserer Mitte begrüße ich die neuen Mitglieder dieses Hauses, die mit ihrer großen Anzahl jüngerer Abgeordneter zum ersten Mal das Durchschnittsalter des Bundestages unter die 50-Jahres-Grenze gedrückt haben.

(Heiterkeit und Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der FDP und der LINKEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Und damit begrüßte Annemarie Renger auch Sie, lieber Herr Kollege Schäuble. Sie waren gerade 30 Jahre alt, ein promovierter Jurist und Finanzbeamter. Wenn ich auf Ihr Lebenswerk blicke, kann ich eines kaum glauben: Nach eigener Auskunft waren Sie eigentlich ein Verlegenheitskandidat der CDU in Ihrem Wahlkreis.

(Heiterkeit - Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das glauben wir nicht!)

Seit einem halben Jahrhundert gehören Sie nun ununterbrochen dem Deutschen Bundestag an. Das ist einmalig in der gesamten Geschichte des deutschen Parlamentarismus. Das ist eine Ära.

(Beifall)

Sie haben sogar August Bebel übertroffen, der „nur“ 44 Jahre Reichstagsabgeordneter war.

(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Sönke Rix (SPD), an den Abg. Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU) gewandt: Das nehmen wir Ihnen übel!)

Lieber Herr Schäuble, Ihre Wählerinnen und Wähler haben Sie 14-mal in Folge mit einem Direktmandat betraut und Ihnen damit ihr Vertrauen geschenkt - das wichtigste Kapital in einer parlamentarischen Demokratie. Sie haben die Geschicke unseres Landes in den vergangenen Jahrzehnten wie nur wenige geprägt. Als Kanzleramtsminister haben Sie maßgeblich die deutsch-deutschen Beziehungen gestaltet. Als Innenminister unter Helmut Kohl haben Sie den Einigungsvertrag entworfen und den Wiedervereinigungsprozess entscheidend mitgelenkt. Sie sind zum Architekten der deutschen Einheit geworden.

Als Innenminister unter Angela Merkel haben Sie zum Beispiel die Islam-Konferenz ins Leben gerufen - einen Meilenstein in der Integrationspolitik. Als Finanzminister haben Sie Deutschland und Europa durch die Finanz- und Eurokrise navigiert. Christine Lagarde nannte Sie einmal einen „Felsen“, einen „Giganten“. Als Bundestagspräsident haben Sie beispielsweise die Deutsch-Französische Parlamentarische Versammlung etabliert und mit dem Bürgerrat ein neues Instrument zur Belebung unserer Demokratie auf den Weg gebracht.

Für mich sind Sie ganz besonders ein großer Europäer, der sich mit Leidenschaft und aus tiefster Überzeugung für die Einheit Europas einsetzt. Dieses Engagement wurde übrigens auch im Jahr 2012 mit dem Karlspreis gewürdigt. Angela Merkel hat Ihre politischen Verdienste einmal so zusammengefasst: „Wolfgang Schäuble ist ein Glücksfall für die deutsche und europäische Politik.“

Wie Annemarie Renger haben Sie sich immer mit unglaublicher Disziplin und großem Pflicht- und Verantwortungsbewusstsein in den Dienst unseres Staates gestellt - und mit Freude an der Politik. In einer Festschrift wurden Sie einmal als „fröhlicher Sisyphos“ betitelt. Ich denke, mit dieser Beschreibung können Sie ganz gut leben.

(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Lieber Herr Schäuble, nicht ohne Grund gelten Sie als ein Mann der Exekutive. Ihre Gestaltungskraft und Ihr Gestaltungsdrang sind berühmt. Ich habe jetzt einige Wegmarken Ihres Wirkens erwähnt. Zugleich sind Sie aber bis heute Parlamentarier aus Leidenschaft. Sie kennen den Bundestag aus verschiedenen Perspektiven: als einfacher Abgeordneter, Parlamentarischer Geschäftsführer, Fraktionschef, Oppositionsführer, Alterspräsident und Bundestagspräsident. In jeder dieser Positionen waren Sie ein großer Verfechter des demokratischen Streits im Respekt vor dem Gegenüber.

Als Fraktionsvorsitzender waren Sie ein gefürchteter Debattenredner. Ihr Wort hat Gewicht und Überzeugungskraft. Ihre mitreißende Rede in der Berlin-Bonn-Debatte am 20. Juni 1991 ist dafür ein starkes Beispiel. Ihre Plenarrede war eine der entscheidenden Reden, die am Ende zum Beschluss für Berlin als Parlaments- und Regierungssitz führte und Ihnen ganz nebenbei auch die Ehrenbürgerschaft der Hauptstadt einbrachte.

(Beifall)

„Streit ist das Salz der Demokratie“ - das war immer Ihre Devise. Zum konstruktiven Streit haben Sie uns Abgeordnete als Parlamentspräsident immer ermuntert, auch in herausfordernden Zeiten. Sie haben das Parlament immer angehalten, gegensätzliche Standpunkte auch auszuhalten. Den politischen Streit haben Sie nie als Selbstzweck verstanden, sondern als ein Instrument, um widerstreitende Interessen in Rede und Gegenrede zu artikulieren und bei drängenden Zukunftsfragen auch wirklich voranzukommen. Über den Bundestag haben Sie gesagt - ich zitiere -:

Hier ist der Ort, an dem wir streiten dürfen. An dem wir streiten sollen. Fair und nach Regeln. Leidenschaftlich, aber auch mit der Gelassenheit, die einer erregten Öffentlichkeit Beispiel geben kann.

Lieber Herr Schäuble, auch nach 50 Jahren dienen Sie dem Parlament mit Ihrer unvergleichlichen Erfahrung, mit Ihrer Weitsicht und Ihrem intellektuellen Scharfsinn. Wir sind jetzt gespannt auf Ihre Ausführungen. - Herr Schäuble, Sie haben das Wort.

(Beifall)

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Parlament

Begrüßung durch Bundestagspräsidentin Bärbel Bas bei der Diskussionsveranstaltung „Gedenken bedeutet Handeln!“

[Es gilt das gesprochene Wort]

Sehr geehrter Herr Metzner,
sehr geehrte Frau Engels, 
sehr geehrter Herr Dworek, 
sehr geehrter Herr Neumärker,
liebe Kolleginnen und Kollegen,
liebe Gäste, 
liebe Queers, 

Schön, dass Sie hier sind.  
Es ist ein wichtiges Zeichen, dass diese Podiumsdiskussion heute in den Räumen des Deutschen Bundestags stattfindet. 
Als Auftakt zur morgigen Gedenkstunde. 
Ich bin ganz beeindruckt vom großen Interesse: Wir hatten 280 Anmeldungen und waren schon letzte Woche ausgebucht. Das zeigt einmal mehr, wie wichtig das Thema ist. 

Liebe Gäste, 

morgen schließen wir eine Lücke in unserer Erinnerungskultur: Zum ersten Mal legt der Deutsche Bundestag in der Gedenkstunde für die Opfer des Nationalsozialismus einen Schwerpunkt auf die verfolgten sexuellen und geschlechtlichen Minderheiten.

Das war mir persönlich ein wichtiges Anliegen. 
Und im Übrigen auch allen anderen Mitgliedern des Bundestagspräsidiums.
Lieber Herr Schirdewahn, 
Sie werden morgen über Ihre Verfolgung in der Bundesrepublik und die Bedeutung des Gedenkens sprechen.  
Danke, dass Sie diese Aufgabe übernehmen. 

Heute Abend sind viele Menschen hier, 
die die Petition zum Erinnern an sexuelle und geschlechtliche Minderheiten unterstützt haben. Auch bei Ihnen allen bedanke ich mich. 

Lieber Herr von Dijk, liebe Frau Engels, 
Ihnen danke ich besonders. 
Der Austausch mit Ihnen bei der Vorbereitung der Gedenkstunde war für uns im Deutschen Bundestag besonders wichtig. 

Und liebe Frau Kats, 
Sie selbst gehören keiner sexuellen Minderheit an, engagieren sich aber sehr für die Erinnerung an deren Verfolgung. 
Sie schildern uns morgen, warum Ihnen das vor dem Hintergrund Ihrer eigenen Geschichte wichtig ist. 
Ich freue mich, dass Sie heute Abend hier sind.

Und ich freue mich, dass diese Gedenkstunde auch viel Unterstützung von anderen Opfergruppen bekommt.
Alle Opfer verbindet eine schmerzhafte Erfahrung: 
Wo Hass um sich greift, ist niemand sicher. 

Der Verfolgungswahn der Nationalsozialisten gegen sexuelle und geschlechtliche Minderheiten war beispiellos: 
Zehntausende Menschen wurden verhaftet. Viele davon in Konzentrationslager deportiert. 

Auch wer der direkten Verfolgung entkam, musste sich verstecken und verstellen. 
Die Nationalsozialisten wollten unsichtbar machen, was nicht in ihre Ideologie passte.
Das Gedenken dient darum auch dazu, Schicksale sichtbar zu machen. 

Die Propaganda der Nationalsozialisten zielte vor allem auf homosexuelle Männer. Aber auch andere Minderheiten gerieten ins Visier der Behörden: 
Lesbische Frauen genauso wie Menschen, die die Geschlechtszuweisungen der Gesellschaft nicht leben konnten.
Menschen, die wir heute „queer“ nennen, 
waren damals von Verfolgung bedroht. 

Wir sind allen Opfern schuldig, das ihnen angetane Unrecht klar zu benennen. 
Das ist lange nicht geschehen. 

Oft ist von „vergessenen Opfern“ die Rede. 
Die verfolgten sexuellen und geschlechtlichen Minderheiten wurden aber nicht „vergessen“. 
Ihre Verfolgung wurde lange bewusst verschwiegen. 
Weil sie sich auch nach dem Ende des Nationalsozialismus fortsetzte. 
In beiden Teilen Deutschlands. 
Der Paragraph 175 stand weiter im Strafgesetzbuch – in der Form, wie ihn die Nationalsozialisten verschärft hatten. 

Natürlich brachte die Demokratie entscheidende Veränderungen: Sie ermöglichte es, gegen Verfolgung und Diskriminierung zu mobilisieren und für die Rechte queerer Menschen offen zu kämpfen. 

Viele engagierte Aktivistinnen und Aktivisten forderten in diesem Sinne auch die Erinnerung an die Verfolgung sexueller Minderheiten ein. 
Gegen Widerstände in der Gesellschaft. 
Aber langfristig mit Erfolg. 

Seit 2008 gibt es im Berliner Tiergarten ein Denkmal für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen. 
Auf Beschluss des Deutschen Bundestags. 
Gestern habe ich dort einen Kranz niedergelegt. 
Ebenso an der Gedenktafel „Rosa Winkel“ am Nollendorfplatz.

Der Bundestag hat mittlerweile die Urteile, die auf der Grundlage des Paragraphen 175 ergangen sind, aufgehoben. Auch die Urteile nach 1945. 
Ein beispielloser Vorgang in der Rechtsgeschichte der Bundesrepublik! 

Es stimmt: Auch in einer Demokratie kann staatliches Unrecht geschehen. 
Aber nur in der Demokratie kann Unrecht benannt – und korrigiert werden. 
Unser Land ist freier geworden – für alle. 
Queeres Leben ist heute so sichtbar wie nie zuvor. Auch im Bundestag. 
Zum ersten Mal gibt es zwei Transpersonen unter den Abgeordneten. 

Im vergangenen Jahr hat der Bundestag zum ersten Mal die Regenbogenflagge gehisst. 
Auch das war ein wichtiges Zeichen. 
Und mir ein persönliches Anliegen. 

Doch bei allem Fortschritt: 
In den letzten Jahren verzeichnet die Statistik einen Anstieg queer-feindlicher Straftaten. 
Queere Menschen sind selbst auf ihren Veranstaltungen nicht sicher. 
Das hat Maltes Tod beim Christopher Street Day in Münster besonders bestürzend gezeigt.
Unser Rechtsstaat muss mit aller Konsequenz gegen Hass und Gewalt vorgehen! 
Gleichzeitig müssen wir in unserer Gesellschaft die Akzeptanz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt fördern. 

Liebe Gäste,  
Deutschland terrorisierte im Nationalsozialismus queere Menschen wie kein anderes Land.
Aber über viele Jahrzehnte hatte Deutschland die stärkste queere Bewegung Europas. 
Dazu gehört Magnus Hirschfeld. 
Er schrieb schon 1926, vor fast 100 Jahren: 
„Über die Geschlechtszugehörigkeit eines Menschen entscheidet nicht sein Leib, sondern seine Seele; nicht die Meinung eines Sachverständigen, sondern das eigene Empfinden ist maßgebend.“
Hirschfeld gelang die Flucht vor den Nationalsozialisten, aber sein Institut wurde verwüstet. Seine Schriften verbrannt. 

„Nie wieder!“ 
Diesen Auftrag machen wir uns am Gedenktag für die Opfer der Nationalsozialisten bewusst. 

Morgen bekräftigen wir im Bundestag deutlich: Dieses „Nie wieder“ gilt selbstverständlich auch für die sexuellen und geschlechtlichen Minderheiten.

Es ist gut, dass die Diskussion heute Abend führende Stimmen der Forschung mit Aktivistinnen und Aktivisten zusammenbringt. 

Frau Professor Mangold, Herr Professor Lücke, herzlichen Dank für Ihre Vorträge. 

Frau Dr. Ehrt, Frau Sultanova, auch Ihnen danke herzlich, dass Sie heute auf dem Podium sind. 

Für die Organisation danke ich herzlich
•    dem Lesben- und Schwulenverband Deutschlands.
•    der Stiftung Denkmal und besonders Frau Borzym
•    und der Bundesstiftung Magnus-Hirschfeld-Stiftung und besonders Herrn Dr. Baranowski.

Liebe Gäste, 
Ihnen allen danke, dass Sie gekommen sind!

Viele Menschen haben auf die morgige Gedenkstunde gewartet. 

Es gibt ein riesiges Interesse, im Plenarsaal dabei zu sein. Das freut mich sehr. 

Nur leider sind unsere Plätze auf den Besuchertribünen begrenzt. 

Damit morgen früh aber so viele Interessierte wie möglich die Gedenkstunde hier im Bundestag verfolgten können, 
wird es in diesem Sitzungssaal eine Live-Übertragung geben. 

Sie alle sind dazu herzlich eingeladen. 

Liebe Gäste, 

„Nie wieder“ heißt auch: 
Wir müssen uns für die Rechte queerer Menschen einsetzen. 
Bei uns in Deutschland. 
Und in all den Ländern, wo queere Menschen oft auf brutale Weise verfolgt werden.

Gedenken bedeutet Handeln. 
Genau wie es der Titel dieser Veranstaltung fordert. 

Ich wünsche uns einen erkenntnisreichen Abend! 

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27.01.2023 | Parlament

Rede von Bundestagspräsidentin Bärbel Bas zur Begrüßung bei der Gedenkstunde für die Opfer des Nationalsozialismus

[Stenografischer Dienst]

Präsidentin Bärbel Bas:

Sehr geehrter Herr Bundespräsident!
Sehr geehrte Frau Büdenbender!
Sehr geehrter Herr Bundeskanzler!
Sehr geehrter Herr Bundesratspräsident!
Sehr geehrter Herr Präsident des Bundesverfassungsgerichts!
Exzellenzen!
Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Liebe Gäste!

„Was man auch immer über den Holocaust sagen, schreiben oder erzählen mag, es hat keine befreiende Wirkung.“ Dieser Satz stammt aus den Erinnerungen von Simone Veil, der ersten Präsidentin des Europäischen Parlaments. Als Jugendliche hat sie Auschwitz überlebt. Als eine von wenigen. Mindestens 1,3 Millionen Menschen haben die Nationalsozialisten nach Auschwitz deportiert. Darunter 1 Million Jüdinnen und Juden. Die meisten wurden gleich nach ihrer Ankunft ermordet. Auschwitz ist Tatort und Sinnbild des Völkermords an den europäischen Jüdinnen und Juden. Inbegriff des Holocaust. Eines Verbrechens, das in der Geschichte der Menschheit ohne Vergleich ist. Und für das wir Deutschen Verantwortung tragen. Simone Veil schrieb weiter: „Die Shoah bleibt allgegenwärtig. Nichts davon wird je ausgelöscht; … nichts kann, nichts darf vergessen werden.“ Zitat Ende.

Wir gedenken heute der Opfer der nationalsozialistischen Verbrechen: der ermordeten Juden Europas, der Opfer der deutschen Besatzungsherrschaft und Vernichtungspolitik insbesondere in Mittel- und Osteuropa, der Sinti und Roma, der Opfer der sogenannten „Euthanasie“, der wegen ihrer politischen Überzeugung oder ihres christlichen Glaubens verfolgten Menschen, der Zeugen Jehovas, der Angehörigen sexueller Minderheiten, der als „asozial“ Diffamierten. Wir erinnern auch an die Kriegsgefangenen und die Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter. Wir erinnern an diejenigen, die Widerstand leisteten und deswegen hingerichtet wurden. Wir gedenken aller Menschen, die von den Nationalsozialisten verfolgt, beraubt, gedemütigt, ausgegrenzt, entrechtet, gequält und ermordet wurden.

Viele der Opfer des deutschen Vernichtungskriegs im Osten waren Ukrainerinnen und Ukrainer. Mich erschüttert, dass auch Überlebende des Holocaust durch die gegenwärtigen russischen Angriffe auf die Ukraine getötet wurden. Es ist eine unerträgliche Verhöhnung der Opfer des Nationalsozialismus, den russischen Angriffskrieg mit der Befreiung Deutschlands zu vergleichen. Viele Holocaust-Überlebende in der Ukraine wurden zur Flucht gezwungen. Es berührt mich, dass mehrere von ihnen in Deutschland Zuflucht gefunden haben. In vielen Fällen mit Hilfe der Jewish Claims Conference.

Einige von ihnen sind heute unter uns. Stellvertretend für alle begrüße ich auf der Ehrentribüne Dr. Boris Zabarko, den Vorsitzenden der Allukrainischen Vereinigung der Juden.

(Beifall)

Aus Odessa zu uns gekommen ist Roman Schwarzman. Wie Boris Zabarko überlebte er als Kind die Shoah.

(Beifall)

Ich freue mich, weitere Überlebende begrüßen zu können. Insbesondere Margot Friedländer, Charlotte Knobloch und Albrecht Weinberg.

(Beifall)

Außerdem begrüße ich Gäste aus der queeren Community, unter anderem Ali Tawakoli aus Afghanistan und Edward Mutebi aus Uganda.

(Beifall)

In ihrer Heimat drohen ihnen harte Strafen für Homosexualität. Deshalb haben sie Schutz in Deutschland gefunden.

Liebe Gäste, ich danke Ihnen allen, dass Sie heute in den Deutschen Bundestag gekommen sind.

(Beifall)

Die heutige Gedenkstunde stellt eine Opfergruppe in den Mittelpunkt, die lange um Anerkennung kämpfen musste: Menschen, die von den Nationalsozialisten aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder geschlechtlichen Identität verfolgt wurden. Der § 175 Strafgesetzbuch belegte seit dem Kaiserreich den Geschlechtsakt unter Männern mit Gefängnis. Die Nationalsozialisten verschärften diesen Paragrafen noch: Küsse, Berührungen, sogar Blicke waren strafbar. Zehntausende wurden der Homosexualität beschuldigt. Schon das genügte oft, um ihre gesellschaftliche Existenz zu ruinieren. Mehr als die Hälfte der Männer wurde verurteilt, meist zu langen Haftstrafen und Zwangsarbeit. In einigen Fällen wurden Männer zur Sterilisation gezwungen. Viele in den Selbstmord getrieben.

Auch wenn der § 175 nur für Männer galt, waren lesbische Frauen vor Verfolgung keinesfalls sicher. Ebenso wenig wie die Menschen, die nicht das Geschlecht leben konnten oder wollten, das die Gesellschaft von ihnen verlangte. Wer nicht den nationalsozialistischen Normen entsprach, lebte in Angst und Misstrauen.

Am härtesten traf es die vielen Tausend Frauen und Männer, die aufgrund ihrer Sexualität - teils unter Vorwänden - in Konzentrationslager deportiert wurden. Sie standen auf einer der untersten Stufen der sogenannten Lagerhierarchie und waren der allgegenwärtigen Gewalt ungeschützt ausgesetzt. Viele wurden für medizinische Experimente missbraucht. Die meisten kamen schon nach kurzer Zeit um - oder wurden ermordet.

Heute vor 78 Jahren wurde Auschwitz befreit. Aus den Lagern befreit wurden auch die wegen ihrer Sexualität Inhaftierten. Doch für sie brachte das Ende des Nationalsozialismus kein Ende der staatlichen Verfolgung. In beiden Teilen Deutschlands galt der § 175 Strafgesetzbuch nach 1945 weiter. In der Bundesrepublik bis 1969 sogar in der Fassung der Nationalsozialisten. Aus heutiger Sicht klingt es unglaublich: Erst 1994 wurde der § 175 vollständig gestrichen. Und es dauerte noch einmal viele Jahre, bis alle Urteile aufgehoben wurden. Bis unsere Demokratie die Kraft fand, einzugestehen: Diese Urteile waren Unrecht!

Auch auf die Anerkennung als Opfer der Nationalsozialisten warteten sexuelle Minderheiten lange vergebens. In den 80er-Jahren begannen zivilgesellschaftliche Initiativen in Ost- und Westdeutschland, öffentlich an deren Verfolgungsgeschichte zu erinnern. Und stießen damit immer wieder auch auf Widerstand.

Es ist mir sehr wichtig, dass wir heute der Menschen gedenken, die wegen ihrer sexuellen Orientierung und geschlechtlichen Identität verfolgt wurden. Teil unseres Gedenkens ist, dass Überlebende hier im Parlament ihre Stimme erheben und uns von ihrem Leben und Leiden berichten.

Die letzten Überlebenden dieser Opfergruppe sind verstorben, ohne dass wir sie gehört haben. Ihre Geschichten müssen andere erzählen. Liebe Maren Kroymann, lieber Jannik Schümann, Sie beide übernehmen diese Aufgabe und tragen uns die Opferbiografien von Mary Pünjer und Karl Gorath vor. Der Historiker Lutz van Dijk hat diese Texte verfasst.

(Beifall)

Lieber Klaus Schirdewahn, Sie können aus eigenem Erleben berichten. Zum Abschluss der Gedenkstunde werden Sie über Ihre Verfolgung als Homosexueller in der Bundesrepublik sprechen.

Liebe Frau Kats, Sie haben als jüdisches Kind unter falscher Identität überlebt. Ihre Eltern wurden in Auschwitz ermordet. Zum Auftakt werden Sie uns berichten, was es bedeutet, wenn ein Mensch seine oder ihre wahre Identität entdeckt.

Ich bedanke mich bei Ihnen allen, dass Sie an dieser Gedenkstunde mitwirken.

(Beifall)

Ebenso danke ich allen, die sich im Vorfeld dafür eingesetzt und den Aufruf zum Erinnern an sexuelle Minderheiten unterstützt haben.

Noch immer wissen wir über das Schicksal einzelner sexueller Minderheiten zu wenig. Die Nationalsozialisten verfolgten lesbische Frauen und transsexuelle Menschen unter Vorwänden. Etwa als sogenannte „Asoziale“. So machten sie deren Kriminalisierung aufgrund der geschlechtlichen Identität unsichtbar. Andere Opfergruppen kommen ebenfalls erst allmählich in unseren Blick.

Für unsere Erinnerungskultur ist es wichtig, dass wir die Geschichten aller Verfolgten erzählen. Ihr Unrecht sichtbar machen. Ihr Leid anerkennen. Immer weniger Zeitzeugen können uns ihre Geschichte erzählen. Aber wir können - und müssen! - uns ihr Leid auf andere Weise vergegenwärtigen. Und ihr Zeugnis weitertragen. Wir müssen in der Erinnerungskultur neue Wege gehen.

Am Dienstag habe ich hier im Bundestag eine Ausstellung der Gedenkstätte Yad Vashem eröffnet. Gemeinsam mit dem Vorsitzenden Dani Dayan, dem ich sehr dafür danke. Die Ausstellung zeigt Alltagsgegenstände deutscher Jüdinnen und Juden: einen Chanukkaleuchter, einen Fluchtkoffer oder eine Puppe. Die Objekte werden erstmals wieder in Deutschland gezeigt. Auch wenn ihre einstigen Besitzerinnen und Besitzer nicht mehr alle selbst sprechen können: Die Gegenstände zu betrachten macht den unwiederbringlichen Verlust spürbar, den der millionenfache Mord an den europäischen Jüdinnen und Juden bedeutet.

Daher sind auch Gedenkstätten an den historischen Orten des Verbrechens so wertvoll. Vor zwei Wochen habe ich die Gedenkstätte für Opfer der NS-„Euthanasie“ in Bernburg besucht. Hier wurden 14 000 Menschen ermordet: Patientinnen und Patienten aus Heil- und Pflegeanstalten sowie Häftlinge aus Konzentrationslagern. Darunter auch Mary Pünjer, von deren Schicksal wir gleich erfahren. Der Besuch dieser Gedenkstätte hat mich sehr berührt.

Einer lebendigen Erinnerungskultur dient auch die Jugendbegegnung des Deutschen Bundestages. Hier im Saal befinden sich einige Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Auch Ihnen danke ich, dass Sie heute hier sind.

(Beifall)

Wir brauchen diese lebendige Erinnerungskultur. Denn: Viele Menschen in unserem Land glauben, Deutschland hätte sich bereits mehr als genug mit der Shoa beschäftigt. Das ist ein Irrtum. Es kann keinen Schlussstrich geben!

(Beifall)

Es ist gefährlich, zu glauben, wir hätten „ausgelernt“. Wir müssen uns weiterhin mit unserer Vergangenheit auseinandersetzen! Noch immer gibt es offene, schmerzhafte Fragen. Mich beunruhigen auch Versuche, die Einzigartigkeit des Holocausts zu relativieren. Das müssen wir entschieden zurückweisen.

(Beifall)

Mir scheint, wir waren schon einmal weiter. Antisemitismus und Antiziganismus, Rassismus und andere Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit nehmen zu. Fünf antisemitische Straftaten werden im Schnitt jeden Tag in Deutschland registriert. Gedenkstätten werden geschändet, jüdische Einrichtungen und Synagogen angegriffen. Menschen werden angefeindet, bedroht und attackiert - weil sie Jüdinnen oder Juden sind. Das ist eine Schande für unser Land!

(Beifall)

Wir alle müssen bei antisemitischen Vorfällen Zivilcourage beweisen. Niemand darf wegschauen!

Vor genau einem Jahr habe ich hier gesagt: „Antisemitismus ist mitten unter uns.“ Und ich bleibe bei meiner Aussage. Antisemitismus, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit finden sich keineswegs nur am äußersten Rand.

(Beifall)

Insbesondere Antisemitismus nimmt immer öfter auch versteckte Formen an - etwa bei der Dämonisierung des Staates Israel oder in Verschwörungsbehauptungen während der Coronapandemie. Wir müssen wachsam bleiben und genau hinschauen. Wie auch die Debatte um die Documenta 15 gezeigt hat.

(Beifall)

Wir müssen auch bei der Diskriminierung queerer Menschen genau hinschauen. Queerfeindliche Straftaten nehmen zu. Die Auschwitz-Überlebende Esther Bejarano hat uns eine eindringliche Mahnung hinterlassen - ich zitiere -: „Menschlichkeit ist unteilbar. Die Forderung “Nie wieder!„ gilt auch für die Homosexuellen.“ Nehmen wir sie beim Wort! Nehmen wir ihre Worte ernst!

(Beifall)

In den sozialen Netzwerken wird gegen queere Menschen in unerträglicher Weise gehetzt. Schwule, Lesben und Transpersonen werden beleidigt, bedrängt und angegriffen. Sogar auf den Paraden des Christopher Street Day, wie wir im vergangenen Jahr beim Tod von Malte sehen konnten. Malte war ein Transmann. Auch hier sind wir alle gefordert, gegen Diskriminierungen aufzustehen. Eine freiheitliche offene Gesellschaft ist keine Selbstverständlichkeit. „Nie wieder!“ - das ist ein Auftrag - für uns alle. Wo Hass um sich greift, ist niemand sicher.

(Beifall)

Kämpfen wir gegen Antisemitismus, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit! Engagieren wir uns für Toleranz und Vielfalt! Für eine Gesellschaft, in der die Würde aller Menschen tatsächlich unantastbar ist.

(Beifall)

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30.03.2023 | Parlament

Worte von Vizepräsidentin Yvonne Magwas vor Eintritt in die Tagesordnung zur Erinnerung an das Vorparlament

[Stenografischer Dienst]

Vizepräsidentin Yvonne Magwas:

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich wünsche Ihnen einen guten Morgen. Die Sitzung ist hiermit eröffnet.

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Besucherinnen und Besucher auf der Tribüne! Bevor wir heute in die Tagesordnung eintreten, möchte ich an zwei Schicksalstage des deutschen Parlamentarismus erinnern. Beide Jahrestage fallen in diese Sitzungswoche.

Morgen vor 175 Jahren, am 31. März 1848, kam in der Frankfurter Paulskirche das sogenannte Vorparlament zusammen, eine Versammlung von 574 Männern aus den damaligen deutschen Staaten. Das Vorparlament berief sich auf die Volksversammlungen, Demonstrationen und Aufstände in vielen Städten, zum Beispiel in München, in Dresden, in Karlsruhe oder hier in Berlin. Jetzt nahm es Deutschlands Zukunft in die Hände. Ein revolutionärer Schritt! Zugleich lenkte es die Revolution in geordnete, parlamentarische Bahnen. Es beschloss die Wahl einer Nationalversammlung - auf der Grundlage eines Wahlrechts, das zu dieser Zeit sehr fortschrittlich war. Alle deutschen Männer sollten frei abstimmen dürfen und das gleiche Stimmgewicht erhalten - ein Meilenstein in der deutschen Demokratiegeschichte.

Der zweite Schicksalstag fand fast genau ein Jahr später statt: Am 28. März 1849 verkündete die Paulskirchenversammlung eine Verfassung für einen künftigen Nationalstaat mit einem Kaiser als gesamtdeutschem Staatsoberhaupt. In vielerlei Hinsicht war diese Verfassung ein Dokument des Fortschritts. Sie sah bereits ein starkes Parlament vor. Vor allem enthielt sie umfassende Grundrechte. Sie garantierte die Presse- und Meinungsfreiheit sowie die Versammlungsfreiheit. Und sie verfügte die Gleichheit aller Deutschen vor dem Gesetz, auch die weitgehende rechtliche Gleichstellung der Juden.

So fortschrittlich die Abgeordneten der Paulskirche dachten - sie waren Männer ihrer Zeit. Frauen blieben von den Beratungen und Entscheidungen in der Paulskirche ausgeschlossen, obwohl auch sie ihre Stimme erhoben und auf den Barrikaden gekämpft hatten. Die Nationalversammlung verfehlte ihr Ziel: ein freiheitliches und geeintes Deutschland. Die Frankfurter Reichsverfassung erlangte faktisch nie Gültigkeit. Ihre Ideen aber blieben lebendig. Sie boten späteren Demokraten Orientierung. Und den Demokratinnen waren sie ein Ansporn, für ihre Rechte zu kämpfen.

Die Weimarer Verfassung knüpfte an die Arbeit der Frankfurter Nationalversammlung an. Und auch unser Grundgesetz steht in der Tradition der Paulskirchenverfassung.

Den 175. Jahrestag des ersten gesamtdeutschen Parlaments begeht der Deutsche Bundestag mit einer besonderen Ausstellung: „Odyssee einer Urkunde. Die Paulskirchenverfassung vom 28. März 1849 - Deutsche Geschichte(n) in einem Dokument“. In der Abgeordnetenlobby zeigen wir die Pergamenturkunde der Verfassung im Original mit den Unterschriften von 405 Abgeordneten.

(Dr. Götz Frömming (AfD): Sehr schön!)

Die Verfassungsurkunde hat eine wahrlich abenteuerliche Geschichte. Nach dem gewaltsamen Ende der Nationalversammlung 1849 wurde die Urkunde versteckt, und zwar in Großbritannien. Das soll am heutigen Tag des Besuchs von König Charles III. nicht unerwähnt bleiben. Das Pergament ist sehr empfindlich und kann deshalb nur für wenige Tage ausgestellt werden. Danach wird das Original durch ein Faksimile ersetzt. Umso mehr danke ich dem Deutschen Historischen Museum für diese wertvolle Leihgabe. Ebenso danke ich allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Bundestagsverwaltung, die diese Ausstellung konzipiert haben.

In der Ausstellung liegt ein Erinnerungsbuch aus, und wir alle sind eingeladen, darin einen Gedanken über die Parlamentarier zu hinterlassen, die vor 175 Jahren vorangingen - quasi als Würdigung von Abgeordneten zu Abgeordneten. Dazu möchte ich Sie in den nächsten Tagen gerne ermuntern.

Vielen Dank.

(Beifall)

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30.03.2023 | Parlament

Ansprache zur Begrüßung von I.I.M.M. König Charles III. und Königin-Gemahlin Camilla von Bundestagspräsidentin Bärbel Bas vor dem Plenum

[Stenografischer Dienst]

Präsidentin des Deutschen Bundestages, Bärbel Bas:

Majestäten,

sehr geehrter Herr Bundespräsident,

sehr geehrte Frau Büdenbender,

Exzellenzen,

sehr geehrter Herr Bundeskanzler,

sehr geehrter Herr Bundesratspräsident,

sehr geehrter Herr Präsident des Bundesverfassungsgerichts,

liebe Kolleginnen und Kollegen,

liebe Gäste!

Eure Majestät, es ist uns eine große Ehre, Sie im Deutschen Bundestag zu begrüßen.

(Beifall)

Im Namen des gesamten Hauses heiße ich Sie, die Königin-Gemahlin und Ihre hochrangige Delegation sehr herzlich willkommen.

(Beifall)

Auf der Tribüne begrüße ich außerdem zwei frühere Bundespräsidenten. Herr Gauck und Herr Wulff, seien auch Sie herzlich willkommen.

Ebenso begrüße ich vier ehemalige Parlamentspräsidentinnen und ‑präsidenten. Liebe Frau Süssmuth, liebe Frau Bergmann-Pohl, lieber Herr Thierse und lieber Herr Lammert, seien auch Sie herzlich willkommen.

(Beifall)

Die Anwesenheit so vieler hochrangiger Gäste unterstreicht die Bedeutung der deutsch-britischen Beziehungen.

Eure Majestät, zum Volkstrauertag 2020 sprachen Sie hier vor einem ausgewählten Publikum - als Prince of Wales. Heute sprechen Sie vor dem Deutschen Bundestag - als König. Und als Repräsentant einer der ältesten Demokratien der Welt.

Zeitgleich präsentieren wir im Bundestag eine besondere Ausstellung zur Verfassungsurkunde der Frankfurter Nationalversammlung 1848/49. Ein Schlüsseldokument der deutschen Demokratiegeschichte.

Diese Ausstellung erzählt auch von einem Stück deutsch-britischer Geschichte. Nach der gewaltsamen Auflösung der Nationalversammlung wurde die Verfassungsurkunde von einem mutigen Abgeordneten nach Manchester in Sicherheit gebracht. Und so für die Nachwelt gesichert. Dies ist nur eine kleine Episode aus der langen gemeinsamen Vergangenheit unserer Länder.

Im 20. Jahrhundert war die deutsch-britische Geschichte eine Geschichte der Extreme.

Großbritannien hat einen unverzichtbaren und großen Beitrag zur Befreiung Europas vom Nationalsozialismus geleistet.

(Beifall)

Dafür sind wir alle zutiefst dankbar.

Unvergessen bleibt auch: Großbritannien war ein Zufluchtsort vieler Verfolgter. In den Wochen und Monaten nach dem Novemberpogrom 1938 nahmen die Briten Tausende jüdische Kinder auf. Sie waren oft die Einzigen in ihren Familien, die überlebten. Majestät, auf Ihre Initiative hin erinnert am Bahnhof Liverpool Street ein Denkmal an diesen Akt der Menschlichkeit. Bei meinem Großbritannien-Besuch vor wenigen Wochen habe ich einige der Geretteten getroffen, und ich kann sagen: Das hat mich tief bewegt.

Auf der Tribüne begrüße ich Lisa Bechner. Sie leitet einen Verein, der sich für die Erinnerung an die Kindertransporte einsetzt. - Frau Bechner, herzlich willkommen.

(Beifall)

Nach dem Krieg unterstützte Großbritannien die Aufnahme der Bundesrepublik in die westliche Gemeinschaft und förderte die Demokratie.

Der erste ausländische Gast, der im Bundestag sprach, war der Leiter einer Delegation des Unterhauses. In seiner Rede riet Arthur Woodburn seinen deutschen Kolleginnen und Kollegen, dass eine erfolgreiche Demokratie vor allem eines brauche: Humor.

Großbritannien wurde uns Deutschen zum Freund und unterstützte die Wiedervereinigung. Auch das vergessen wir nie.

(Beifall)

Dieses Parlamentsgebäude symbolisiert unsere Freundschaft in besonderer Weise. Es war ein britischer Architekt, der das Reichstagsgebäude umbaute. Norman Fosters Kuppel ist das Wahrzeichen des Deutschen Bundestages. Lord Foster bezeichnet sie einmal als einen „Leuchtturn“, der - ich zitiere - „Signale aussendet vom Prozess der Demokratie“.

Majestät, viele Deutsche bewundern die britische Kultur und Lebensart.

Mit großem Respekt erinnern sie sich auch an Ihre Mutter. Zeit ihres Lebens hat sich Königin Elisabeth II. für die Aussöhnung unserer Länder eingesetzt. Im Jahr 2000 war sie, gemeinsam mit Ihrem Vater, Prinz Philip, auch hier im Deutschen Bundestag und hat die Kuppel besucht.

Großbritannien und Deutschland sind - und bleiben - enge Verbündete und vertrauensvolle Partner. Auch nach der Entscheidung Großbritanniens, die Europäische Union zu verlassen. Die Menschen in unseren Ländern sind verbunden durch Reisen und Handel, kulturellen und intellektuellen Austausch, oft auch durch wechselseitige Faszination. Unsere Parlamente pflegen enge Kontakte. Unsere Regierungen arbeiten eng zusammen - in vielen Organisationen und Formaten.

Großbritannien und Deutschland treten gemeinsam für eine regelbasierte Ordnung ein. Wir stehen solidarisch an der Seite der Ukraine in ihrem Kampf für Freiheit und Selbstbestimmung.

Wir teilen gemeinsame Werte. Und das Interesse, die Herausforderungen unserer Zeit entschlossen anzugehen.

Nirgendwo ist das so dringlich wie bei der existenziellen Aufgabe, für die auch Sie, Sir, sich schon seit Langem einsetzen: den Kampf gegen den Klimawandel und für den Erhalt unserer natürlichen Lebensgrundlagen.

(Beifall)

Unsere gemeinsame Verantwortung für die Zukunft betonten Sie auch vor drei Jahren, in Ihrer Rede beim Volkstrauertag 2020. Sie sagten: „Zusammen sind wir eine unverzichtbare Kraft für das Gute in unserer Welt.“

Heute brauchen wir diese Kraft mehr denn je.

Eure Majestät, Sie haben das Wort.

(Beifall)

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08.02.2023 | Parlament

Worte von Bundestagspräsidentin Bärbel Bas vor Eintritt in die Tagesordnung zum Erdbeben in der Türkei und Syrien

[Stenografischer Dienst]

Präsidentin Bärbel Bas: 
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich danke Ihnen und würde Sie bitten, einen Moment stehen zu bleiben.
Wir alle haben die Bilder des furchtbaren Erdbebens in der Türkei und in Syrien vor Augen. Viele von Ihnen haben Betroffene im Familien- und Bekanntenkreis, und uns alle erreichen Nachrichten aus unseren Wahlkreisen von Menschen, die sich große Sorgen machen und mithelfen möchten. Das Ausmaß an Tod, Zerstörung und Leid erschüttert uns alle zutiefst. 23 Millionen Menschen könnten laut WHO betroffen sein. Viele von ihnen sind Flüchtlinge, dabei auch viele Kinder. 
Tausende Menschen sind bereits ums Leben gekommen. Zehntausende sind verletzt. Viele sind noch immer unter den Trümmern verschüttet und hoffen auf Rettung. Frost, Schnee und Regen erschweren die Rettungsarbeiten. Viele Überlebende müssen die Nacht bei eisigen Temperaturen im Freien verbringen, weil ihre Häuser zerstört sind und weil die Gefahr von Nachbeben besteht. 
Das Erdbeben betrifft viele Menschen, die ohnehin in großer Not leben, gerade in Syrien. Ihre Lage verschärft sich nun weiter. Umso wichtiger ist es, dass Hilfsorganisationen schnell überall Zugang zum Katastrophengebiet bekommen. Die internationale Solidarität mit den Opfern ist groß. Auch das Technische Hilfswerk und andere Hilfsorganisationen aus Deutschland haben sich auf den Weg ins Krisengebiet gemacht. Deutschland wird selbstverständlich weiter nach Kräften unterstützen.
Im Namen des ganzen Hauses danke ich von Herzen allen, die im Katastrophengebiet unter schwierigen Bedingungen helfen, und auch allen Menschen, die von Deutschland aus zu dieser Solidarität beitragen. 
Allen Betroffenen und ihren Angehörigen und auch den Helferinnen und Helfern wünschen wir alle viel Kraft. 
In Gedanken an die Verstorbenen und ihre Familien bitte ich jetzt, noch einmal kurz innezuhalten. - Vielen Dank. Bitte nehmen Sie wieder Platz.
(Die Anwesenden nehmen wieder Platz)

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07.02.2023 | Parlament

Grußwort von Bundestagspräsidentin Bärbel Bas zum Fachgespräch „Jüdisches Leben in Deutschland heute – Drei Generationen und ihre Erfahrungen“

[Es gilt das gesprochene Wort]

Sehr geehrter Herr Krüger,
sehr geehrte Expertinnen und Experten,
liebe Elisabeth Kaiser, 
lieber Marc Henrichmann,
Liebe Kolleginnen und Kolleginnen, 
– hier im Saal und vor den Bildschirmen! 

Vor wenigen Tagen haben wir hier im Paul-Löbe-Haus die Ausstellung „16 Objekte“ eröffnet und damit das 70. Gründungsjubiläum der Gedenkstätte Yad Vashem gewürdigt. 
Die Ausstellung zeigt Alltagsgegenstände deutscher Jüdinnen und Juden. 

Auch wenn ihre einstigen Besitzerinnen und Besitzer nicht mehr alle selbst sprechen können: 
Die Gegenstände erzählen von dem unwiederbringlichen Verlust, den der millionenfache Mord an den europäischen Jüdinnen und Juden bedeutet.

Es ist mir eine Herzensangelegenheit, dass wir die Erinnerung an die Opfer der Shoa pflegen und weitertragen. 
Dafür müssen wir nach neuen Wegen des Gedenkens suchen – so wie mit der erwähnten Ausstellung. Sie zeigt, wie die Vergangenheit zu uns sprechen kann – wenn es  Zeitzeugen nicht mehr können.

Jede Generation muss sich selbst mit der Geschichte auseinandersetzen. Nur so können wir unserer Verpflichtung des „Nie wieder!“ gerecht werden. 

Wir müssen uns – und ich empfinde das als niederschmetternd – ehrlich eingestehen, dass Antisemitismus kein Problem der Vergangenheit ist. Oder nur an den Rändern unserer Gesellschaft auftaucht. 

Ich habe es letzte Woche in der Gedenkstunde bereits gesagt: Täglich werden in Deutschland antisemitische Straftaten registriert. Gedenkstätten werden geschändet, jüdische Einrichtungen und Synagogen angegriffen. Menschen werden angefeindet, bedroht und attackiert – weil sie Jüdinnen oder Juden sind. Das ist eine Schande für unser Land!

Deshalb gilt mehr denn je: Wir müssen wachsam sein. Wir müssen genau hinschauen – wie auch die Debatte um die Documenta 15 gezeigt hat. 

Wir müssen gegen jede Form des Antisemitismus aufstehen und ihn entschlossen bekämpfen. 

Das fängt mit guter Präventionsarbeit an. Dazu gehört ganz wesentlich auch politische Bildung. Wir müssen dem Antisemitismus den Nährboden entziehen. 

Ich glaube, es ist entscheidend, dass die Nichtjuden in unserem Land mehr von den Jüdinnen und Juden erfahren. Über die jüdischen Traditionen und Bräuche. Über den Alltag der Jüdinnen und Juden. Denn nichts wirkt besser gegen Stereotype und Judenhass als die persönliche Begegnung. Nichts erweitert die Perspektive und das Verständnis zuverlässiger.

Auf diese Weise können wir alle lernen. Auch Menschen, die sich mit der Vergangenheit bewusst und sensibel auseinandersetzen. 

Allzu oft sehen wir jüdisches Leben und die jüdische Kultur in unserem Land als Teil der Vergangenheit. 

Josef Schuster beklagte einmal, dass sich die Bildungsarbeit in deutschen Schulen größtenteils auf die Zeit zwischen 1933 und 1945 beschränke. Dadurch würden Juden häufig nur als Opfer betrachtet.

Josef Schuster hat Recht, wenn er sagt: Ich zitiere: 
„Nur wenn Schüler zum Beispiel wissen, welche Bedeutung jüdische Wissenschaftler, Künstler und Schauspieler in Deutschland hatten, 

wie stark die deutsche Kultur über Jahrhunderte vom Judentum geprägt wurde oder wenn sie etwas über jüdische Stetl in Osteuropa erfahren, dann können sie ermessen, welche Dimension die Vernichtung des europäischen Judentums hatte.“ Zitatende.

Wir müssen aufpassen, dass sich unser Blick nicht verengt, dass wir nicht übersehen, wie reich und vielfältig jüdisches Leben in Deutschland inzwischen wieder geworden ist. Zu unserem großen Glück!

Ich wünsche mir mehr persönliche Begegnungen. Und ein realistisches Bild der in Deutschland lebenden Jüdinnen und Juden. Ohne Vorurteile.  

Gerade junge Juden fordern ausdrücklich ein, als normaler Bestandteil der Gesellschaft wahrgenommen zu werden.

Marina Weisband formulierte es einmal so: 
„Das Judentum muss auch unabhängig vom Gedenken an die Shoah wahrgenommen werden. […] Außerhalb des Gedenkens finden wir nicht statt. Ich würde gerne mehr aus meinem Alltag teilen.“ 

Sie wolle über jüdischen Humor, jüdische Küche oder die digitale Vernetzung weltweit zerstreuter Familien sprechen.

Das Veranstaltungsjahr 1.700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland war ein wichtiger Schritt. Und ich hoffe, dass dieses Jubiläumsjahr nachhaltig wirkt und mehr Interesse an jüdischem Leben in Deutschland geweckt hat. 

Die nationale Strategie der Bundesregierung vom November 2022 sieht richtigerweise vor: 
„Die Vermittlung jüdischer Gegenwart und Geschichte sollte als eigenständiges Ziel und Thema in den Unterricht aufgenommen werden.“

Auch die heutige Veranstaltung über die Erfahrungen von drei Generationen soll unsere Wahrnehmung erweitern.   

Nach der Shoa schien es unvorstellbar, dass Deutschland, das Land der Täter, für Jüdinnen und Juden jemals wieder zur Heimat werden könnte.

Aber es gab sie: die Jüdinnen und Juden, die nach der Shoa in Deutschland lebten. Von dieser ersten Generation und dem Gefühl, auf gepackten Koffern zu leben, war vorhin schon die Rede. 

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

Ende der 1980er Jahre zählten die jüdischen Gemeinden in Deutschland knapp 30.000 Mitglieder.  

Die Situation änderte sich durch den Zuzug von Jüdinnen und Juden aus der früheren Sowjetunion ab den 1990er Jahren. Bis 2005 kamen rund 220.000 Menschen als sogenannte Kontingentflüchtlinge nach Deutschland. 

Über die Integration der Jüdinnen und Juden aus der ehemaligen Sowjetunion haben Sie heute hier schon gesprochen. 

Die Schriftstellerin Lena Gorelik sagte in einem Interview über die Demütigungen und Schwierigkeiten dieses Ankommens: 

„Ich konnte spüren, dass die Erwachsenen vollkommen überfordert waren. (….) Es gab keinerlei Hilfestellung. Sie mussten sich alles selbst erobern und waren gleichzeitig an diesem Ort, der sich so gar nicht nach Zuhause anfühlen wollte.“

Deutschland hat es diesen Frauen und Männern nicht immer leicht gemacht. 
Umso mehr freut es mich, dass jene, die als Kinder oder Enkel mit ihren Familien einwanderten, so erfolgreich angekommen sind. 

Heute sind sie Teil unserer Gesellschaft. Sie bringen sich aktiv ein und beziehen Position – wie die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der sich gleich anschließenden Podiumsdiskussion. Ich freue mich, dass Sie alle heute hier sind und uns einen Einblick in das Leben und Empfinden der jungen jüdischen Generation in Deutschland gewähren. Über das neue jüdische Selbstbewusstsein. 

Mit dem Zuzug der Jüdinnen und Juden aus den ehemaligen Sowjet-Republiken ist die jüdische Gemeinde größer, bunter und lebendiger geworden. 

Das vielfältige jüdische Leben in Deutschland ist ein Geschenk, für das ich zutiefst dankbar bin.

Im vergangenen Jahr haben die jüdischen Gemeinden auch viele neue Mitglieder aufgenommen, die vor dem Krieg aus der Ukraine geflohen sind. 
Noch einmal: Jüdisches Leben in Deutschland ist reich und vielseitig. 

Doch wir Nichtjuden wissen immer noch zu wenig über diese Vielfalt und darüber, was jüdische Identität in Deutschland heute ausmacht.  

Es ist wichtig, dass wir ins Gespräch kommen, aufmerksam zuhören, bereit sind, Dinge zu erfahren, die über unsere bisherigen Vorstellungen hinausgehen. 

Wir Abgeordnete können dieses Bewusstsein für das reiche, vielfältige jüdische Leben in unsere Arbeit einfließen lassen, es weitertragen in unsere Wahlkreise und z.B. Begegnungen oder Bildungsinitiativen unterstützen.
Ich danke der Bundeszentrale für politische Bildung und meinen Kollegen Elisabeth Kaiser und Marc Henrichmann für die Initiative zu diesem Gespräch. 

Und ich danke Ihnen allen noch einmal herzlich, dass Sie Ihre Erfahrungen, Beobachtungen und Gedanken heute in diesem Kreis diskutieren. 

Ich wünsche Ihnen auch für den zweiten Teil bereichernde Diskussionen!

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18.03.2023 | Parlament

Grußwort von Bundestagspräsidentin Bärbel Bas zum 175. Jahrestag der Märzrevolution am 18. März 2023 auf dem Friedhof der Märzgefallenen in Berlin

[Es gilt das gesprochene Wort]

Sehr geehrte Frau Präsidentin, 
sehr geehrte Frau Regierende Bürgermeisterin, 
sehr geehrte Frau Klebba,
sehr geehrte Frau Buchwald, 
sehr geehrter Herr Schröder,
liebe Düzen Tekkal, 
sehr geehrte Damen und Herren, 

erst einmal vielen Dank für die freundliche Begrüßung, sehr geehrte Frau Dr. Kitschun,
Der Friedhof der Märzgefallenen ist ein besonderer Ort. 

Die Berliner Stadtbevölkerung hat ihn vor 175 Jahren selbst geschaffen: 
als letzte Ruhestätte der Opfer der Märzrevolution.
Und als Symbol für den Aufbruch in die Freiheit. 

Ein Ort, der von Beginn an umkämpft war, 
der mahnte und mobilisierte, 
der ausradiert oder umgedeutet werden sollte. 

Wir verdanken vor allem dem Paul-Singer-Verein, dass dieser Friedhof heute ein Ort des würdigen Gedenkens an die Opfer der Revolutionen von 1848 und von 1918 ist. 
Ich danke Sigrid Klebba und den vielen Engagierten, die sich mit Herzblut und Tatkraft um diesen besonderen Ort kümmern. 

Hier wird deutsche Demokratiegeschichte sichtbar.  
Und mit der neuen Ausstellung 
und dem geplanten Besucherzentrum 
hoffentlich bald noch besser vermittelbar!


Sehr geehrte Damen und Herren, 

das Jahr 1848 war – so hieß es zeitgenössisch – ein „tolles“ Jahr. 
Die Ereignisse überschlugen sich. 
Eine revolutionäre Welle erfasste fast ganz Europa. 
Plötzlich schien möglich, was lange unvorstellbar war: 
Königen und Kaisern das Recht auf demokratische Mitbestimmung abzuringen. 
Oder ihre Macht womöglich ganz hinwegzufegen. 

Die Berliner Märzrevolution – heute auf den Tag genau vor 175 Jahren – forderte fast 300 Tote. 
Meist fielen junge Frauen und Männer dem brutalen Vorgehen des Militärs zum Opfer. 
Viele stammten aus unteren sozialen Schichten.

Sie wollten einfach nur ein besseres Leben 
für sich und ihre Familien. 
Sie wollten über ihre Zukunft mitbestimmen. 


Sehr geehrte Damen und Herren, 

in diesem Jubiläumsjahr hören wir viel von der Nationalversammlung in Frankfurt, 
vom parlamentarischen Ringen um Freiheit und nationale Einheit, 
von der Reichsverfassung mit ihrem wegweisenden Grundrechtekatalog. 

Zu Recht! 

Das Parlament in der Paulskirche und der Barrikadenkampf in Berlin sind zwei Seiten der selben Medaille: 

Ohne die Revolution auf der Straße hätte es Parlamente und Verfassungen nicht gegeben. 

Und ohne die Parlamente wären die Forderungen der Revolutionäre nicht in einen demokratischen Prozess überführt worden. 

Die Paulskirchenverfassung trat nie in Kraft. 

Aber die erste Verfassung Preußens - vom König verfügt - sah Grundrechte vor: 
etwa Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit, Religionsfreiheit und die Gleichstellung von Menschen jüdischen Glaubens.
Dass Frauen gleichberechtigt sein sollten, 
fanden damals übrigens nicht einmal die radikalsten Revolutionäre richtig.

Auch wenn mit der Gegenrevolution vieles zurückgenommen wurde: 
Nach 1848 gab es kein Zurück mehr. 
Ohne Wahlen und Parlamente kamen auch Monarchien nicht mehr aus. 
Selbst wenn nach Einkommen gewählt wurde und Abgeordnete nur wenig zu sagen hatten. 

Die Revolutionszeit war eine Lehrstunde in demokratischen Grundfertigkeiten: 
sich Meinungen über öffentliche Angelegenheiten bilden, 
Standpunkte austauschen,  
sich mit Gleichgesinnten zusammenschließen. 

All dies ließ sich zwar niederhalten, aber nicht mehr aus der Welt schaffen. 

Die Revolutionsjahre erwiesen sich als Katalysator der politischen Öffentlichkeit. 
Als Geburtsstunde einer vielfältigen gesellschaftlichen Interessenorganisation. 

Die Arbeiterbewegung und die Parteien nahmen damals ihren Anfang. 

Auch Frauen begannen, eigene Clubs und Zeitungen zu gründen. Oft genug verächtlich gemacht von ihren männlichen Zeitgenossen.

Die Revolution von 1848/49 steht für den demokratischen Aufbruch in die Moderne. 

Für die Selbstermächtigung des Volkes. 

„Ideen können nicht erschossen werden“, prophezeite der Wiener Barrikadenkämpfer Hermann Jellinek, bevor er im November 1848 standrechtlich erschossen wurde. 


Sehr geehrte Damen und Herren, 

Freiheit und Demokratie sind auch 175 Jahre später mächtige Ideen. 
Die Sehnsucht nach einem selbstbestimmten Leben lässt sich nicht dauerhaft unterdrücken. 

Das zeigen alle Menschen, die diktatorischen Regimen mutig die Stirn bieten. 

Wie die vielen Frauen und Männer, die im Iran oder in der Ukraine für ihre Freiheit kämpfen. 
Ich bin überzeugt: Die Idee von Freiheit und Demokratie lässt sich selbst an den vermeintlich hoffnungslosesten Orten nicht unterdrücken – weder mit Propaganda, noch mit Repressionen.

Der Rückblick auf die Märzrevolution erinnert uns daran, dass das Fundament unserer Freiheit in opferreichen Kämpfen gelegt wurde. 


Sehr geehrte Damen und Herren, 

unsere freiheitliche Demokratie fußt auf  Grundrechten, dem Rechtsstaatsprinzip und der Akzeptanz von Mehrheitsentscheidungen. 

Aber Verfahren und Institutionen allein reichen nicht. Unsere Demokratie muss auch das Versprechen auf ein besseres Leben erfüllen. 

Es braucht ein Mindestmaß an Wohlstand und sozialer Gerechtigkeit. 

Deshalb spricht unser Grundgesetz ganz bewusst in Artikel 20 Absatz 1 davon, dass die Bundesrepublik Deutschland ein demokratischer und sozialer Bundesstaat ist.


Sehr geehrte Damen und Herren, 

ein „Wochenende für die Demokratie“ zu feiern, 
ist richtig und wichtig. 

Noch wichtiger ist, dass viele Menschen mitmachen: 
Nicht nur meckern, nicht nur kritisieren, sondern selbst etwas verändern wollen. 

Unsere freiheitliche Demokratie ist nicht selbstverständlich. 

Sie braucht das Engagement von Demokratinnen und Demokraten für ein Gemeinweisen, in dem es sich zu leben lohnt. 

Es erfordert heute bei uns keinen blutigen Kampf mehr gegen übermächtige Obrigkeiten. 
Aber es kostet etwas: 
Beharrlichkeit, Kraft und manchmal Nerven. 
Und oft genug auch einen sehr langen Atem.

Die „Aktion 18. März“ kann ein Lied davon singen. 
Seit mehr als 40 Jahren setzt sie sich dafür ein, dass der 18. März zum nationalen Gedenktag wird – mit guten Gründen.  

Robert Blum, ein führender Kopf der Revolution, hat gewusst: „Es hätte … überhaupt nichts Gutes und Großes gegeben, wenn jeder stets gedacht hätte: Du änderst doch nichts.“ Zitatende.

Auch dafür steht der 18. März. 
Es muss nichts bleiben, wie es gestern war und heute ist. 
Ob aus Ideen Wirklichkeit wird, 
hängt von uns ab! 

Vielen Dank. 

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17.03.2023 | Parlament

Worte von Bundestagspräsidentin Bärbel Bas vor Eintritt in die Tagesordnung zur Würdigung von Antje Vollmer

[Stenografischer Dienst]

Präsidentin Bärbel Bas:

Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich wünsche Ihnen einen schönen guten Morgen. Die Sitzung ist eröffnet. Bitte nehmen Sie Platz.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben eine herausragende Parlamentarierin verloren. Antje Vollmer ist tot. Sie starb vorgestern nach langer Krankheit.

1983 zog Antje Vollmer auf der Liste der Grünen in den Bundestag ein - zu ihrer eigenen Überraschung. Sie selbst war damals noch nicht mal Parteimitglied. Als sie 2005 aus dem Parlament ausschied, war sie weit über die Grünen hinaus bekannt und anerkannt als eine der profiliertesten Frauen in der deutschen Politik. Dazwischen lagen fünf Wahlperioden, in denen sie ihre Partei und den Deutschen Bundestag mitprägte.

Immer wieder gehörte sie zu den Ersten: zu den ersten grünen Abgeordneten im Parlament. Und zu den ersten Frauen der Bonner Republik, die selbstbewusst ihren Platz in der Politik einforderten. Sie war Teil des legendären grünen Feminats, des ersten rein weiblichen Fraktionsvorstands in der deutschen Parlamentsgeschichte. Das war eine feministische Machtdemonstration. Den Frauen ging es aber nicht um ihre Person, sondern um das Prinzip. Jahre später sagte Antje Vollmer einmal über sich: „Ich habe viel mitgestaltet. Die vorderen Plätze sind mir nicht so wichtig wie die Autorenschaft an Ideen.“

1994 war Antje Vollmer wieder einmal eine Pionierin. Sie wurde die erste grüne Vizepräsidentin dieses Hauses. Ihre Wahl war das Ergebnis einer schwarz-grünen Zusammenarbeit. Auch das eine Premiere! Antje Vollmer sah darin - ich zitiere - „das Akzeptieren der Grünen auf allen Ebenen des Parlaments“. Ihrer Partei gab sie zugleich zu bedenken, auch sie sei nun - Zitat - „Teil des zu reformierenden Apparats“. Sie formulierte damit ihren eigenen Anspruch. Sie machte sich immer wieder stark für eine Parlamentsreform.

Ihr Amt füllte sie mit Leidenschaft aus und mit einer Würde, die den einen oder anderen überraschte. Der „Spiegel“ nannte sie schon bald die „grüne Weizsäckerin“. Das entsprach ihrem Politikverständnis. Sie wollte über Lager- und Milieugrenzen hinweg wirken. Sie besuchte die Sudentendeutschen ebenso wie die Atomkraftgegner in Gorleben. Auch wenn ihr das Kritik einbrachte: Sie setzte auf Dialog - zwischen den Flügeln ihrer Partei ebenso wie zwischen den verhärteten Fronten der Gesellschaft. Sie glaubte an die Kraft des Dialogs auch zwischen Staaten.

Sie war eine überzeugte Pazifistin und blieb dies auch, über alle Zeitenwenden hinweg. Sie engagierte sich außenpolitisch und betrieb zum Teil eine unermüdliche Reisediplomatie. Besondere Verdienste erwarb sie sich um die deutsch-tschechische Aussöhnung. Dafür wurde sie 1997 mit der Gedenkmedaille der Prager Karls-Universität geehrt. Auch Tibet lag ihr sehr am Herzen. Immer wieder setzte sie sich bei der chinesischen Regierung für die Menschen in dieser Region ein. 1995 empfing sie den Dalai-Lama im Deutschen Bundestag.

Nach ihrem Ausscheiden aus dem Amt blieb sie dem Parlament verbunden. Sie moderierte ehrenamtlich den Runden Tisch „Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren“, den der Deutsche Bundestag angestoßen hatte. Sie schrieb Bücher und Artikel. Bis zum Schluss.

Antje Vollmer wird uns fehlen. Ich bitte Sie, sich nun für eine Schweigeminute von Ihren Plätzen zu erheben.

(Die Anwesenden erheben sich)

- Vielen Dank. Bitte nehmen Sie wieder Platz.

(Die Anwesenden nehmen wieder Platz)

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08.02.2023 | Parlament

Worte von Bundestagspräsidentin Bärbel Bas vor Eintritt in die Tagesordnung zum Tod von Gero Storjohann am 29.01.2023

[Stenografischer Dienst]

Präsidentin Bärbel Bas: 
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, guten Tag! Die Sitzung ist eröffnet, und ich bitte Sie, Platz zu nehmen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir trauern um unseren Kollegen Gero Storjohann. Am 29. Januar starb er nach langer intensivmedizinischer Behandlung. Am kommenden Sonntag wäre er 65 Jahre alt geworden. 
Gero Storjohann war ein erfahrener Parlamentarier. Seine verbindliche und kollegiale Art war allseits geschätzt. Seit 2002 gehörte er dem Deutschen Bundestag an. Er vertrat den Wahlkreis Segeberg – Stormarn-Mitte. Zuvor war er acht Jahre lang Mitglied des Schleswig-Holsteinischen Landtages.
Gero Storjohann wollte etwas für die Menschen bewegen. Bürgernähe war ihm sehr wichtig. Aus Überzeugung war er Mitglied im Petitionsausschuss, zuletzt als dienstältester Abgeordneter. Auch im Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur hat sich Gero Storjohann leidenschaftlich engagiert. 
Privat war er ein begeisterter Radfahrer. Solange es seine Gesundheit zuließ, fuhr er fast täglich mindestens 10 Kilometer. Hier im Bundestag war er auch bekannt als Organisator der Parlamentarischen Fahrradtour und auch als Gründer des Parlamentskreises Fahrrad.
Zeit seines Lebens war er ein überzeugter Christdemokrat. Schon als Schüler trat Gero Storjohann in die Junge Union ein. Fast 25 Jahre lang war er Vorsitzender des CDU-Kreisverbands Segeberg. Den Menschen in seiner Region wird er sehr fehlen - und auch uns hier im Deutschen Bundestag. In Gedanken sind wir bei seiner Familie und seinen Freunden.
Ich würde Sie bitten, sich für eine Schweigeminute zu Ehren des Verstorbenen zu erheben.
(Die Anwesenden erheben sich)

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02.03.2023 | Parlament

Worte von Bundestagesvizepräsidentin Yvonne Magwas vor Eintritt in die Tagesordnung zum Tod von Corinna Miazga

[Stenografischer Dienst]

Vizepräsidentin Yvonne Magwas: 
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste auf der Besuchertribüne! Die Sitzung ist hiermit eröffnet. Ich heiße Sie recht herzlich willkommen. Guten Morgen!
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir beginnen die heutige Sitzung mit einer traurigen Mitteilung. Die Abgeordnete Corinna Miazga ist gestorben. Ihr Leben endete viel zu früh. Sie wurde nur 39 Jahre alt.
Corinna Miazga wuchs in Oldenburg auf, und sie zog zum Studium nach Bayern, das ihre zweite Heimat wurde. 2017 zog sie erstmals in den Deutschen Bundestag ein. Sie engagierte sich zuletzt als stellvertretende Vorsitzende ihrer Fraktion und als Mitglied im Ausschuss für Angelegenheiten der Europäischen Union.
Corinna Miazga hat lange gegen ihre Krankheit gekämpft, an der immer noch viel zu viele Frauen sterben. Sie hatte den Mut, sie hatte die Stärke, ihre Krankheit öffentlich zu machen. Zwischenzeitlich glaubte Corinna Miazga an ihre Genesung, und deshalb trat sie auch im Jahr 2021 ein weiteres Mal zur Bundestagswahl an.
Am vergangenen Samstag ist Corinna Miazga ihrer Krankheit erlegen. In Gedanken sind wir bei ihrer Familie. 
Ich bitte Sie, sich für eine Schweigeminute von Ihren Plätzen zu erheben. 
(Die Anwesenden erheben sich)
Vielen Dank.
(Die Anwesenden nehmen wieder Platz)
 

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04.05.2023 | Parlament

Rede von Bundestagspräsidentin Bärbel Bas beim Festakt zum 175. Jubiläum der Nationalversammlung 1848 in Kelkheim (Taunus)

„Aufbruch zur Freiheit - Über Wurzeln und Zukunft unserer Demokratie“

[Es gilt das gesprochene Wort]

Sehr geehrter Herr Bürgermeister [Albrecht Kündiger],
sehr geehrte Frau Präsidentin [Astrid Wallmann],
sehr geehrte Frau Kreistagsvorsitzende [Susanne Fritsch],
sehr geehrte Frau Stadtverordnetenvorsteherin [Julia Ostrowicki],
meine Damen und Herren!

Vor 175 Jahren, am 18. Mai 1848, konstituierte sich die Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche und wählte Heinrich von Gagern zu ihrem Präsidenten. 

In den folgenden Monaten debattierten und beschlossen die Abgeordneten nichts Geringeres als die Grundlagen für ein neues Deutschland:
die Verfassung und die Grenzen des künftigen Staates, die Grundrechte und das Wahlrecht.

Frauen durften dabei nur zuschauen. 
Und selbst das ging einigen schon zu weit. „Parlamentsfliegen“ nannte sie ein besonders verächtlicher Kommentar.

Bei dieser Feierstunde sprechen hier und heute vier Frauen – als Repräsentantinnen demokratisch gewählter Versammlungen. 
Was für eine glückliche Fügung!  

Aber dahinter steckt mehr:
Wenn politische Freiheits- und Mitbestimmungsrechte einmal in der Welt sind, lassen sie sich auf Dauer nicht unterdrücken. 
Sie entfalten eigene Kraft und Dynamik. 

Für Heinrich von Gagern und die meisten seiner Zeitgenossen – und Zeitgenossinnen – waren Frauen als Wählerinnen oder Politikerinnen schlicht nicht vorstellbar. 

Das aktive und passive Wahlrecht für Frauen ist Ergebnis eines jahrzehntelangen Kampfes der organisierten Frauenbewegung. 
Sie wurzelte – wie vieles andere – in der Revolution von 1848. 
Im Aufbruch zur Freiheit.

I. Erinnerung an 1848 – Kelkheim als Ort der Demokratiegeschichte

Vielen ist nicht bewusst, wie weit die Anfänge unserer freiheitlichen Gesellschaft zurückreichen. 

Unser Grundgesetz zieht nicht nur Lehren aus der gescheiterten Weimarer Republik und dem Menschheitsverbrechen des Holocaust. 
Es stützt sich auch auf die Frankfurter Reichsverfassung. 
Viele der Grundrechte wurden bereits vor 175 Jahren von den Abgeordneten einer verfassungsgebenden Versammlung beschlossen. 

Es führt kein gerader Weg von 1848 zu heute. Dazwischen liegen die Brüche, Umwege und fürchterlichen Abgründe der deutschen Geschichte. 
Die wir nicht vergessen dürfen – und nicht vergessen werden. 

Wir brauchen aber auch das Wissen um die Wurzeln der wechselvollen Geschichte unserer Demokratie und die frühen Wegbereiter unserer Republik. 
„Dieses Wissen“ – so sagt es der Bundespräsident – „lässt uns den Wert des Erreichten besser erkennen und mahnt, dass wir unsere Werte […] nicht leichtfertig preisgeben dürfen“. Zitatende. 

Aber woran wir als Gesellschaft erinnern und wie wir das tun – das kann nicht von oben, 
nicht vom Staat verordnet werden. 

Deshalb sind Erinnerungsorte wie Hornau so wichtig. 
Und deshalb bin ich gerne Ihrer Einladung gefolgt! 

Hier wird Demokratiegeschichte sichtbar, 
weil die Bürgerinnen und Bürger Kelkheims sie sichtbar werden lassen! 
Weil es Ihnen wichtig ist, die Geschichte der Familie von Gagern und der drei „politischen Brüder“ Friedrich, Heinrich und Maximilian zu erzählen. 

Jeder spielte auf seine Weise eine Rolle in der Revolution. 
Der eine als General – 
Friedrich von Gagern fiel bei der Niederschlagung des Aufstandes in Baden. 

Die beiden anderen als Politiker – 
auch Maximilian von Gagern war Mitglied der Nationalversammlung und dort stellvertretender Vorsitzender des Verfassungsausschusses.

Auf dem Hornauer Hofgut der Familie von Gagern wurde über die großen Fragen der Zeit gesprochen. 
Über nationale Einheit und politische Freiheit, 
über die Entwicklungen in Deutschland und Europa. 

Der Vater war ein angesehener Diplomat. 
Ein aufgeklärter Adliger, der an Toleranz und Vernunft glaubte. 

Im Hause Gagern wurde ein reger Austausch gepflegt, 
in einer offenen und weltläufigen Atmosphäre.

Die Brüder waren keine kämpfenden Revolutionäre, 
die auf die Barrikaden gingen.
Sie waren Freigeister, die ihrer Herkunft verpflichtet blieben. 

Und sie waren überzeugt, dass sich die herrschende Ordnung überlebt hatte. 
Dass die Zeit reif war für mehr Freiheitsrechte wie Versammlungs- und Pressefreiheit. 
Dass diese Freiheit nur durch die Einheit Deutschlands zu erreichen war. 

Hierauf richtete sich ihr Ehrgeiz. 
Daran wollten sie nach Kräften mitwirken. 
Das schworen sie sich. 

Auch an diesen Schwur wird in Kelkheim erinnert. Ebenso wie an das politische Wirken Heinrich von Gagerns und seiner Brüder. 

Sie, liebe Kelkheimerinnen und Kelkheimer, engagieren sich dafür auf vielfältige Weise. 

Mit Ideen, Tatkraft und Geld. 

Durch Initiativen Einzelner, 
in Vereinen, aus den Reihen der Kirchengemeinde und der Unternehmen.
Nicht zuletzt im Rathaus, 
sehr geehrter Herr Bürgermeister!

Das ist beeindruckend – und wichtig!

Ohne das Engagement in Kelkheim und an vielen anderen Orten der Demokratiegeschichte würden die zentralen Feierstunden - wie am 18. Mai in der Paulskirche - ins Leere laufen.
Die Plädoyers zur Erinnerung blieben nur gutgemeinte Appelle.

Deshalb sage hier in Kelheim ausdrücklich und gerne: Danke!

II. Heinrich von Gagern

Sehr geehrte Damen und Herren,

Geschichte wird von Menschen gemacht. 
Heinrich von Gagern drängte es danach, 
etwas zu bewegen und Geschichte zu prägen. 

Er strebte ein geeintes Deutschland mit einer konstitutionellen Monarchie an. 
Einen nationalen Bundestaat mit einer zentralen Regierung und einem gewählten Parlament. 
Denn ohne ein Parlament würde es kaum zu Einheit und Freiheit kommen. 

Damit die Fürsten und Könige sich bewegten, brauchte es mehr als Vernunft und Argumente. 
Das hatte Heinrich von Gagern als Staatsbeamter und Oppositionsführer im hessen-darmstädtischen Landtag erfahren müssen. 

Es brauchte die Stimme des Volkes. 
Und als die Revolution endlich ausbrach, 
wollte er Verantwortung übernehmen. 

Heinrich von Gagern hat 
-    als politischer Führer der Liberalen, 
-    als Präsident der Nationalversammlung und 
-    als Reichsminister 
die Anfänge des deutschen Parlamentarismus auf verdienstvolle Weise entscheidend geprägt.

Mit seinem Namen verbinden sich wesentliche Weichenstellungen der Nationalversammlung: 
Das Parlament setzte nach vielen Kontroversen eigenmächtig eine Zentralgewalt ein 
– ohne Absprache mit den deutschen Fürsten. 
Dafür mit einem Habsburger als provisorisches Oberhaupt. 

Das war von Gagerns berühmter „kühner Griff“. 
Ein selbstbewusstes parlamentarisches Statement! 
Auch die Verabschiedung der Reichsverfassung gründete in einem „Pakt“ – zwischen Liberalen und Demokraten. 
Die einen bekamen das preußische Erbkaisertum in einem deutschen Bundesstaat ohne Österreich, 
die anderen allgemeine und gleiche Wahlen und ein aufschiebendes Veto des Monarchen. 

So blieb die Nationalversammlung entscheidungsfähig – trotz gegensätzlicher politischer Zukunftsvorstellungen der Abgeordneten: durch Kompromisse! 

Dass das gelingen konnte, hatte wesentlich mit Heinrich von Gagern zu tun. 

Er genoss in allen politischen Lagern hohes Ansehen. Fast schon Bewunderung.
Mit 499 von 518 Stimmen war er zum Präsidenten gewählt worden: Mit 96 Prozent! 
Ein Ergebnis, das kein Bundestagpräsident und auch keine -präsidentin je erreicht haben. 

Seine enge Freundin Clotilde Koch-Gontard war auf der sogenannten „Damengalerie“ dabei. 
Bei seiner Ansprache hat sie – Zitat – „selbst in den Augen der Männer Tränen“ gesehen.

Der Historiker Veit Valentin befand später, die Nationalversammlung habe in Heinrich von Gagern – ich zitiere – „menschlich und politisch das Beste ihrer selbst“ gesehen.

Aber noch etwas anderes war entscheidend: 
Es war Heinrich von Gagerns Verständnis für grundlegende demokratische Prinzipien: 
-    für den Pluralismus der Meinungen, 
-    die Bedeutung von Parteien und 
-    die Rechte der Opposition. 

Er wusste, dass Parlamente nicht Harmonie bedeuten. Sondern Kontroverse. 

Er erkannte an, dass Kompromisse erforderlich waren. Auch wenn die Mehrheitsvoten nicht seinen Vorstellungen entsprachen. 

Er wusste, dass Politik nicht nur Haltungen und Überzeugung brauchte, 
sondern auch Pragmatismus.  

Heinrich von Gagern war kein Demokrat. 
Nicht nach unseren heutigen Maßstäben. 

Er wollte keine Volksherrschaft und kein gleiches Wahlrecht für alle. 
Von den sozialrevolutionären Vorstellungen des Demokraten Robert Blum oder des badischen Radikalen Friedrich Hecker trennten ihn Welten. 

Aber er war ein herausragender Wegbereiter unserer Demokratie.

III. Nachwirkungen von 1848/49

Sehr geehrte Damen und Herren!

Die Revolution von 1848/49 war keine Erfolgsgeschichte. 
Sie weckte große Hoffnung und Erwartungen – und hat am Ende viele enttäuscht. 
Auch Heinrich und Maximilian von Gagern zogen sich weitgehend aus der Politik zurück. 

Die Revolutionäre im Parlament hatten ein Deutschland entwickelt, das nie Wirklichkeit wurde. 

Die Reichsverfassung hätte mit den Worten eines Schweizer Rechtshistorikers „den damals modernsten europäischen Staat geschaffen“. 
Sie trat nie in Kraft. 

Zu stark waren die reaktionären Kräfte. 
Zu revolutionsmüde auch die Bevölkerung.

Und doch gilt die Revolution als eine „Epochenschwelle“. 
Sie steht für den Aufbruch zur Freiheit. 

Was damals begann, ließ sich unterdrücken. 
Aber nicht mehr aus der Welt schaffen: 
-    die politische Meinungsbildung in breiteren Bevölkerungsschichten, 
-    die öffentliche Debatte, 
-    die vielfältige gesellschaftliche Selbstorganisation. 

Die Revolution erwies sich als Geburtsstunde der Parteien und der Arbeiterbewegung. 
Daraus gingen später die Gewerkschaften und die Sozialdemokratie hervor. 

Auch Frauen begannen sich in eigenen Klubs zusammenzuschließen. 
Oder sie gründeten Zeitungen, 
wie Luise Otto-Peters. 
1849 forderte sie als erste öffentlich das Frauenwahlrecht in Deutschland. 

Auch wenn das Wahlgesetz der Nationalversammlung nicht in Kraft trat: Allgemeine, freie und direkte Wahlen wurden zum demokratischen Goldstandard. 

Und die Forderung danach mobilisierte die Menschen, die ausgeschlossen waren. 
Der Kampf ums Wahlrecht wurde zu einem mächtigen Zugpferd der Frauenbewegung. 

Über politische Differenzen hinweg.
Die Revolution und die bahnbrechende Arbeit der Nationalversammlung haben Spuren hinterlassen, die wir noch heute erkennen. 
Verfassungsrechtlich, politisch, gesellschaftlich. Obwohl uns die Welt von damals so fern ist.

Auch viele Regelungen und Gepflogenheiten im Deutschen Bundestag lassen sich bis nach Frankfurt zurückverfolgen: 
-    die Sitzverteilung im Plenarsaal, 
-    die Öffentlichkeit der Debatten und die Veröffentlichung der Sitzungsprotokolle, 
-    das Petitionswesen und die Arbeit in Fachausschüssen, 
-    die Glocke der Präsidentin und 
-    sogar die Stimmkarten unterschiedlicher Farbe für namentliche Abstimmungen.

IV. Das Erbe erhalten – „Demokratie weiter denken“

Meine Damen und Herren!

Unsere Verfassung, unsere Institutionen und Verfahren gründen auf dem Fundament, das im ersten gesamtdeutschen Parlament gelegt wurde. 

Sie sind ein wertvolles Erbe. 
Sie brauchen unseren Respekt. 
Sie müssen sich aber auch den heutigen Anforderungen stellen.

„Demokratie weiter denken“ 
– so heißt die Ausstellung, die wir im Anschluss gemeinsam eröffnen. 
Ein starker Titel! 
Die Institutionen unserer Demokratie müssen sich weiterentwickeln, damit die Demokratie bestehen kann. 

Sie müssen reagieren
-    auf die gewandelte Öffentlichkeit, 
-    auf die zunehmend digitalisierte Welt, 
-    die wachsende gesellschaftliche Vielfalt. 
-    Und nicht zuletzt auf das verlorengegangene Vertrauen in Parteien und Parlamente.

Mehr Bürgerinnen und Bürger wünschen sich, gehört zu werden. 
Mitzubestimmen – nicht nur bei Wahlen. 

Der Deutsche Bundestag wird im Herbst den ersten Bürgerrat dieser Wahlperiode einsetzen. 
Die nach dem Zufallsprinzip ausgewählten Teilnehmerinnen und Teilnehmer werden sich intensiv mit einem Thema befassen. 
Und dem Parlament Empfehlungen geben.

Unsere Demokratie sollte mehr Menschen einladen, mitzumachen. 
Damit sie sich mit ihren Anliegen und Sichtweisen darin wiederfinden. 

Wir entwickeln damit auch weiter, was vor 175 Jahren angestoßen wurde: 

Mehr Rechte und mehr Partizipation für immer mehr Menschen.

Wie leben in einer stabilen Demokratie. 
Aber die Herausforderungen sind komplexer geworden. 
Und lassen sich häufig nur global angehen. 

Wir müssen Antworten finden 
-    auf den Klimawandel, der mit seiner Dringlichkeit auch die demokratischen Verfahren herausfordert. 
-    Auf den Populismus, der einfache Lösungen für eine komplizierte Welt verspricht und mit Hass die Grundwerte unseres Zusammenlebens untergräbt. 
-    Auf die Flucht von Millionen Menschen. 
Für uns in Europa ist das nicht erst seit dem russischen Überfall auf die Ukraine aktuell. 

Und bei all dem dürfen wir das Versprechen der Demokratie nicht aus den Augen verlieren: 
ein besseres Leben für viele. 

Freiheit, Demokratie und Wohlstand bilden einen Dreiklang. 
Das Grundgesetz spricht bewusst von einem „demokratischen und sozialen Bundesstaat.“ 

Auch das trug übrigens zum Scheitern der Revolution vor 175 Jahren bei: 
Sie fand keine Balance zwischen Freiheit und sozialer Gerechtigkeit.

Meine Damen und Herren!

Eine bessere Demokratie kann aus Kritik und Streit entstehen. Auch aus Protest. 
Was sie definitiv nicht voranbringt: 
Wenn ihre Institutionen diskredidiert werden. 
Wenn Vielfalt nicht akzeptiert wird.

V. Demokratie ist keine Selbstverständlichkeit

Unsere freiheitliche Demokratie ist nicht selbstverständlich. 

Der Aufbruch zur Freiheit kam nicht von allein. 
Viele „Aktivistinnen und Aktivisten“ erstritten Freiheit, Demokratie und Rechtsstaat. 

Jede Demokratie braucht Menschen, die sich für sie entscheiden. Immer wieder von Neuem. 
Menschen, die sich engagieren und Verantwortung zu übernehmen. 
Wie Heinrich von Gagern, wie Robert Blum, wie die Barrikadenkämpfer und -kämpferinnen im März 1848 in Berlin, Wien und anderen Städten. 

So wie die vielen Frauen und Männer, die heute im Iran oder in der Ukraine um ihre Freiheit kämpfen.  

Die Zukunft unserer Demokratie hängt von uns ab. 

Sie ist das, was wir daraus machen. 

Wir alle. 

Hier in Kelkheim und überall in unserem Land. 

Vielen Dank. 

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20.04.2023 | Parlament

Worte von Bundestagspräsidentin Bärbel Bas vor Eintritt in die Tagesordnung zum Aufstand im Warschauer Ghetto

[Stenografischer Dienst]

Präsidentin Bärbel Bas:

Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich wünsche Ihnen einen schönen guten Morgen. Die Sitzung ist eröffnet.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, vor 80 Jahren, am 19. April 1943, begann der Aufstand im Warschauer Ghetto. Etwa 700 junge jüdische Frauen und Männer erhoben sich gegen die deutschen Besatzer. Sie verfügten weder über militärisches Training noch Erfahrung. Und sie hatten nur wenige Waffen: Pistolen, ein paar Gewehre, Handgranaten, selbstgebaute Molotowcocktails.

Zu Beginn des Aufstandes lebten zudem noch etwa 50 000 Zivilisten im Ghetto, viele in unterirdischen Bunkern und Schutzräumen. Auch diese Zivilisten leisteten Widerstand. Sie versteckten sich, erschienen nicht an den Sammelpunkten zur Deportation und unterstützten die Kämpfenden.

Die Kampagne zur Erinnerung an den Ghettoaufstand widmet sich in diesem Jahr besonders diesen Zivilisten und ihrem Widerstand. Bundespräsident Steinmeier hat gestern auf Einladung des polnischen Präsidenten Duda mit dem israelischen Präsidenten Herzog und Josef Schuster, dem Präsidenten des Zentralrats der Juden, am offiziellen Gedenken teilgenommen.

Bereits am 22. Juli 1942 hatte die von den Nationalsozialisten so genannte „Große Aktion“ begonnen. Etwa 300 000 Frauen, Kinder und Männer wurden in knapp zwei Monaten nach Treblinka deportiert oder noch im Ghetto ermordet. Diese Deportation hatte, wie Marcel Reich-Ranicki am 27. Januar 2012 in seiner Rede vor diesem Haus sagte, „nur ein Ziel, sie hatte nur einen Zweck: den Tod“.

Die verbliebenen Menschen im Ghetto wussten, dass sie umgebracht werden sollten, und sie bereiteten sich vor. Sie wollten kämpfend sterben. Ein erster Akt des Widerstandes im Januar 1943 überraschte die SS. Sie brach die Deportation ab.

Als die SS das Ghetto am 19. April, dem Vorabend des Pessachfestes, endgültig räumen wollte, begann der Aufstand. Wenige Tage nach Beginn der Kämpfe fing die SS an, das Ghetto systematisch zu zerstören. Sie leitete Giftgas in Verstecke und Bunker ein, brannte Haus für Haus mit Flammenwerfern ab. Das Feuer konnte man noch viele Kilometer außerhalb von Warschau sehen.

Am Abend des 16. Mai sprengten die Deutschen die Große Synagoge - als Symbol ihres Sieges. SS-General Jürgen Stroop übertitelte seinen täglichen Bericht an Heinrich Himmler: „Es gibt keinen jüdischen Wohnbezirk in Warschau mehr!“ Dieser Bericht diente später als Beweis in den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen.

Mindestens 7 000 Jüdinnen und Juden starben während des Aufstands. 7 000 Menschen wurden am Ende der Kämpfe gefangen genommen und in Treblinka ermordet. Die etwa 42 000 Überlebenden wurden in die Arbeitslager Poniatowa und Trawniki sowie das Konzentrationslager Lublin-Majdanek gebracht. Die meisten von ihnen wurden im November 1943 ermordet.

Einige Jüdinnen und Juden versteckten sich in den Ruinen des Ghettos. Anderen gelang es, durch die Kanalisation zu fliehen. Viele schlossen sich im August 1944 dem Warschauer Aufstand an.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Aufstand im Warschauer Ghetto war die größte jüdische Erhebung und der erste städtische Volksaufstand im nationalsozialistisch besetzten Europa. Er ermutigte andere Aufständische - wie in Bialystok oder Minsk.

Die jüdischen Kämpferinnen und Kämpfer hatten keine Hoffnung auf einen Sieg, keine Hoffnung auf ein Entkommen, keine Hoffnung für die Zukunft ihres Volkes in ihrer Heimat. Sie sahen es aber als ihre Pflicht, öffentlich im Kampf zu sterben, um der Welt ihre Lage vor Augen zu führen, wie sich Marek Edelman, einer ihrer Kommandanten, erinnerte. Es war ein aussichtsloser Kampf, in dem Würde und Mut gegen tiefste Menschenverachtung und Grausamkeit antraten.

Wir verneigen uns heute vor diesen jüdischen Aufständischen und vor allen Opfern des Warschauer Ghettos. Wir verneigen uns vor den ermordeten, verschleppten, gefolterten, entrechteten, gedemütigten und beraubten Jüdinnen und Juden Europas.

Ich würde Sie jetzt bitten, sich für einen kurzen Moment von Ihren Plätzen zu erheben.

(Die Anwesenden erheben sich)

Vielen Dank. Nehmen Sie wieder Platz.

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27.03.2023 | Parlament

Begrüßungsansprache von Bundestagspräsidentin Bärbel Bas zur Eröffnung der Ausstellung „Odyssee einer Urkunde - Die Paulskirchenverfassung vom 28. März 1849“ in der Abgeordnetenlobby im Reichstagsgebäude

[Es gilt das gesprochene Wort]

Sehr geehrter Herr Bundespräsident,
sehr geehrter Herr Professor Gross,
sehr geehrter Herr Professor Jung,
lieber Herr Thierse, 
liebe Herr Schäuble, 
liebe Kolleginnen und Kollegen,
liebe Gäste!
   
Herzlich willkommen. 
Ich begrüße Sie zur Eröffnung der Ausstellung „Odysee einer Urkunde“, die mir als Bundestagspräsidentin viel bedeutet.  
Die Paulskirchenverfassung feiert morgen ihren 174. Geburtstag. 
Gut 60 Jahre wurde die Originalurkunde mit den Unterschriften von 405 Nationalversammlungs-Abgeordneten beim Reichstag aufbewahrt. 

Die meiste Zeit im Büro des Präsidenten: 
vom ersten Parlamentspräsidenten des Kaiserreichs, Eduard von Simson, bis zu Paul Löbe in der Weimarer Republik. 

Das war für den Zustand dieses historischen Dokuments bestimmt nicht ideal. 
Aber für mich zählt das Symbol: 
Im Herzen unsere Demokratie blieb die erste gesamtdeutsche Volksvertretung präsent. 

Bis die Urkunde 1933 ans Reichsarchiv ging.  
Ich freue mich sehr, dass der Deutsche Bundestag dieses bedeutende Unikat für eine Woche ausstellen darf. 

Mein besonderer Dank geht an das Deutsche Historische Museum als Leihgeber. 
Und ich verspreche Ihnen, sehr geehrter Herr Gross, dass die Verfassungsurkunde dieses Mal weder gestohlen noch verunstaltet wird. 

Ich danke allen Beteiligten hier im Haus und auch außerhalb, die diese außergewöhnliche Ausstellung möglich machen.  

Besonders den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern bei den Wissenschaftlichen Diensten des Deutschen Bundestages.
Ganz besonders Ihnen, Herr Dr. Sack und Herr Dr. Seidl von WD 1. 
Auch für den wichtigen Beitrag „Irrfahrt zur Freiheit“, den Sie jüngst zusammen in der ZEIT veröffentlicht haben.  

Was für eine spannende Idee, anhand der abenteuerlichen Odyssee dieser Urkunde deutsche Demokratiegeschichte zu erzählen. 

Ich danke unserem Bundespräsidenten für sein Engagement, Orte und Akteure besonders unserer frühen Demokratiegeschichte sichtbarer zu machen. 

Schon Ihr Amtsvorgänger Gustav Heinemann hatte mit Nachdruck dafür geworben – Zitat -  
„Bewegungen unserer Geschichte, die unsere heutige Demokratie vorbereitet haben, aus der Verdrängung zu holen und mit unserer Gegenwart zu verknüpfen“. Zitatende

Genau dazu will diese Ausstellung beitragen. Und ich wünsche ihr viele neugierige Besucherinnen und Besucher!

Sehr geehrte Damen und Herren, 
die Revolution von 1848/49 hatte ein doppeltes Ziel – nationale Einheit und Freiheit. 

Sie hat beides verfehlt. 
Und doch ist sie nicht gescheitert.  
Die Nachwirkungen der Revolution vor 175 Jahren waren enorm. 
Verfassungsrechtlich, politisch, gesellschaftlich. Sie lassen sich noch heute erkennen. 
Nicht zuletzt im Grundgesetz. 

Die Fundamente unserer Verfassung, 
unserer demokratischen Institutionen und Praktiken wurden von den Abgeordneten in der Frankfurter Nationalversammlung gelegt. 

Die Paulskirchenverfassung entwarf die Grundlagen für einen demokratischen Staat. 

Sie sah eine konstitutionelle Monarchie vor. Keine Republik, aber einen Bundesstaat mit einem starken nationalen Parlament! 

Sie gewährte individuelle und politische Grundrechte, die sogar vor Gericht einklagbar sein sollten! 

Die Frankfurter Verfassung war ihrer Zeit voraus. 

Sie war das Resultat eines Ausgleichs zwischen gegensätzlichen politischen Zielvorstellungen. 

Schon damals wussten die Parlamentarier:  
Demokratie bedeutet nicht Harmonie, 
sondern Kontroverse. 
Und nicht selten die schwierige Suche nach  Kompromissen, um Mehrheiten zu finden.  

Eine unverzichtbare Einsicht für jede parlamentarische Demokratie! 
Die Revolutionsjahre waren Lehrstunden in demokratischen Grundfertigkeiten. 

Sie erwiesen sich als Katalysator der politischen Öffentlichkeit, einer vielstimmigen Medienlandschaft und der gesellschaftlichen Selbstorganisation. 

Diese Entwicklungen ließen sich unterdrücken, aber nicht aufhalten. 

1848 hatte es erstmals allgemeine und freie Wahlen in Deutschland gegeben. 
Auch wenn das Wahlgesetz der Nationalversammlung keine Gültigkeit erlangte. 
Auch wenn das Recht zu wählen in Preußen oder andernorts wieder eingeschränkt wurde. 
Allgemeine, freie und direkte Wahlen wurden zum demokratischen Goldstandard. 
Und die Forderung danach mobilisierte jene, die marginalisiert oder ganz ausgeschlossen waren. 

Schon vor der Revolution hatten selbstbewusste Frauen wie Louise Aston oder Louise Otto-Peters Anspruch auf gleichberechtigte Teilhabe erhoben. 

Männliche Fürsprecher fanden sie im Parlament dafür nicht. 

Aber der Kampf um das aktive und passive Wahlrecht für Frauen wurde zu einem mächtigen Zugpferd der organisierten Frauenbewegung. 
Über politische Differenzen hinweg. 
Wir debattieren heute darüber, 
•    wie wir Parität in Parlamenten schaffen, 
•    ob das Wahlrecht ausgeweitet werden soll für Jugendliche und Menschen nichtdeutscher Herkunft, 
•    wie wir die Beteiligung von Minderheiten und Benachteiligten erhöhen können. 

Wir entwickeln heute weiter, was damals angestoßen wurde: Mehr Rechte, Akzeptanz und Partizipation für immer mehr Menschen. 

Wenn wir an die Revolution von 1848/49 erinnern, machen wir uns auch klar: 
Es brauchte Generationen von – wie wir heute sagen würden: Aktivistinnen und Aktivisten – 
die Freiheit, Demokratie und Rechtsstaat erstritten. 
Unsere demokratischen Institutionen sind ein wertvolles Erbe. 
Sie brauchen Respekt, ebenso wie Kritik und Veränderungsbereitschaft. 

Parlamente, Parteien und Regierungen, 
Wahlen, Institutionen und Verfahren 
müssen sich weiterentwickeln. 

Sie müssen reagieren auf die gewandelte mediale Öffentlichkeit, 
auf die zunehmend digitalisierte Welt, 
die steigende gesellschaftliche Vielfalt. 

Sie müssen Antworten finden auf die existentiellen Bedrohungen, die alle nicht im nationalen Alleingang zu lösen sind. 

Eine bessere Demokratie kann aus Kritik und Streit entstehen. Auch aus Protest. 

Was sie definitiv nicht voranbringt, ist die Verächtlichmachung der Institutionen und der Grundwerte unseres Zusammenlebens!

Gerade mit Blick auf die Freiheits- und Demokratiebewegungen in anderen Teilen der Welt, lautet die hoffnungsvolle Botschaft von 1848/49:  

Geschichte ist kein Automatismus. 
Und sie ist nie zu Ende. 

Was gestern gescheitert ist, kann übermorgen oder auch erst überübermorgen gelingen. 

Umgekehrt gilt aber auch: Was heute als geglückt gilt, ist nicht ein für alle Mal gesichert.
Die beste Verfassung reicht nicht aus, wenn es nicht genug überzeugte Demokratinnen und Demokraten gibt. 

Unsere freiheitliche Demokratie ist nicht selbstverständlich. 

Sie muss verteidigt, angepasst, weiterentwickelt werden. 

Von uns.

Herr Professor Gross, Sie haben das Wort. 

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10.05.2023 | Parlament

Festrede von Bundestagspräsidentin Bärbel Bas zur Preisverleihung der FES „Das politische Buch“ in der Friedrichstadtkirche zum 90. Jahrestag der Bücherverbrennung

Sehr geehrte Frau Atai,
lieber Martin Schulz,
sehr geehrter Herr Stephan,
sehr geehrte Damen und Herren,

heute vor 90 Jahren, am 10. Mai 1933, verbrannten die Nationalsozialisten mitten 
in Berlin rund 20.000 Bücher. 

Auf dem damaligen Opernplatz, 
nur wenige Schritte von hier entfernt.
Zehntausende Schaulustige nahmen an diesem schaurigen Spektakel teil. 
Professoren in Talaren und Studenten 
in SA-Uniformen begleiteten mit Fackeln 
die Lastwagen voller verstoßener Bücher. 
Der Rundfunk berichtete live.

„Begräbniswetter hing über der Stadt“, 
beschrieb Erich Kästner die Atmosphäre.
Er hatte sich unter die fanatisierte Menschenmenge gemischt. 
Mit eigenen Augen wollte er mitansehen, 
wie auch seine Werke angezündet wurden.

Es regnete in Strömen. 
Der Scheiterhaufen wollte nicht brennen. 
Die Feuerwehr half mit Benzinkanistern nach. 
Ausgerechnet die Feuerwehr! 
Es war der Höhepunkt der so genannten 
„Aktion wider den undeutschen Geist“. 

Jüdische, linke, liberale, freigeistige oder regimekritische Stimmen
 – sie alle sollten zum Schweigen gebracht werden.

Schon Wochen zuvor wurden „schwarze Listen“ erstellt.

Mit Namen von Autorinnen und Autoren. 
Aus Politik, Wissenschaft und Literatur. Darunter viele Geistesgrößen, 
die wir heute bewundern. 

Und die auch damals bewundert wurden.

Für immer verschwinden sollten die Werke 
von August Bebel oder Walter Rathenau, 
Albert Einstein oder Sigmund Freud, 
Anna Seghers oder Melanie Klein, 
Berthold Brecht oder Alfred Döblin, 
Else Lasker-Schüler oder Hilde Marx, 
Stefan Zweig oder Erich Maria Remarque,
Heinrich Mann oder Kurt Tucholsky. 

Um nur einige zu nennen.

Bis Oktober 1933 brannten noch viele weitere Scheiterhaufen mit Büchern und Zeitschriften. 

In mehr als 90 Städten. 

Die schwarzen Listen wurden kontinuierlich erweitert. 
Bis 1939 wurden 565 Gesamtwerke verboten.
Und mehr als 4.000 Einzeltitel zum „schädlichen und unerwünschten Schrifttum“ gezählt.

Eine kulturelle Barbarei. 

Mit verheerenden Folgen. 
Hunderttausende verließen Deutschland 
– die intellektuelle Elite des Landes. 
Insbesondere deutsche Jüdinnen und Juden. 

Mehr als 2.000 Schriftstellerinnen 
und Schriftsteller gingen ins Exil. 
Andere verloren ihre berufliche Existenz, wurden verhaftet, ins KZ gebracht, ermordet.
Wie konnte das im so genannten Land der Dichter und Denker geschehen? 

Das fragen wir uns bis heute. 

Was mich immer schon besonders erschüttert hat: Es war die deutsche Studentenschaft, 
die diese Aktion landesweit initiierte.
Viele junge Menschen machten mit echter Begeisterung mit. 
Unterstützt von Dozenten und Professoren. 

Buchläden und Bibliotheken beteiligten sich eifrig an der Verfolgung der denunzierten Schriftstellerinnen und Schriftsteller. 
Auch der Börsenverein des Deutschen Buchhandels machte aktiv mit.
Wirtschaftliche Erwägungen spielten dabei sicher eine Rolle. 
Und die Erwartung, von den neuen Machtverhältnissen unter den Nationalsozialisten profitieren zu können.
Viele machten sich schuldig, auch wenn sie nicht selbst an den Scheiterhaufen standen und Bücher ins Feuer warfen.  

Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Genossinnen und Genossen,

„Das Gedächtnis der Menschen ist so furchtbar kurz“ – schrieb Bertha von Suttner 
in ihren Erinnerungen. 

Die erste Friedensnobelpreisträgerin gehörte 
zu den posthum verfemten Schriftstellerinnen. 

Die Verbrennung ihres berühmten Romans „Die Waffen nieder!“ musste sie nicht mehr erleben. 

Ihr Zitat muss uns aber eine Mahnung bleiben: 
Wir müssen die Erinnerung intensiv pflegen, weil das Gedächtnis der Menschen so kurz ist. 

Deshalb begehen wir den 10. Mai traditionell 
als den „Tag des Buches“. 

Als einen Tag, an dem wir die Freiheit 
des Wortes feiern. 

Weil wir wissen, wie kostbar 
und wie zerbrechlich sie ist.
Weil wir wissen, dass Rechtstaatlichkeit 
und Demokratie nur mit der Freiheit des Wortes möglich sind. 

Weil wir sehen, dass diese Freiheit in vielen Ländern bedroht ist. 

Tendenz: Leider steigend. 
Auch im 21. Jahrhundert. 

Zum Beispiel im Iran. 

Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Genossinnen und Genossen, 

wir brauchen Bücher, die unser Bewusstsein
für gesellschaftliche und politische Realitäten schärfen. 

Die uns über den Tellerrand schauen lassen. 

Die uns aufrütteln und wachhalten.

Die uns zeigen, wie wichtig die Freiheit 
des Wortes ist. 

„Die Freiheit ist weiblich“ von Golineh Atai 
ist so ein Buch. 

Liebe Frau Atai, 
ich freue mich sehr, dass Sie hier sind. 

Und ich gratuliere Ihnen herzlich zum Preis der Friedrich-Ebert-Stiftung für das politische Buch! 

Sie beschreiben den mutigen Kampf iranischer Frauen gegen die systematische Unterdrückung und Diskriminierung. 

Im Alltag und im Beruf, 
in der Familie und in der Öffentlichkeit. 

Einen Kampf, den die Frauen im Iran seit 
über vierzig Jahren führen. 
In dritter Generation. 

„Die Freiheit der Frau ist die Freiheit der Gesellschaft“ 
– das war 1979 der Leitsatz 
der Iranerinnen. 

Schon damals protestierten sie gegen ihre Entrechtung nach der islamischen Revolution. 

Weil sie über Nacht zu Bürgerinnen zweiter Klasse gemacht wurden.

Zu Bürgerinnen, die ohne Erlaubnis ihres Vaters oder ihres Mannes nicht ausreisen dürfen. 

Zu Bürgerinnen, deren Zeugnis vor Gericht nur halb so viel zählt wie das eines Mannes. 
Und die für den gleichen Schaden nur die Hälfte an Schadenersatz erhalten.
Zu Bürgerinnen, die sich nur mit Zustimmung des Mannes scheiden lassen können. 
Und dann das Sorgerecht für ihre Kinder verlieren.

Zu Bürgerinnen, die Kleidungsvorschriften penibel einhalten oder drakonische Strafen fürchten müssen.

Man muss sich das wirklich vorstellen: 
30 Institutionen befassen sich im Iran mit dem Schleier der Frauen, 
wie jüngst in der FAZ zu lesen war!

Was bei uns hier in der Friedrichsstadtkirche Kopfschütteln auslöst, 
bestimmt das Leben der Frauen im Iran. 

Es ist ihr bitterer und brutaler Alltag als Bürgerinnen zweiter Klasse. 

Warum ist die Kontrolle über den weiblichen Körper für die Mullahs so wichtig? 

Fatemeh Seperi, eine der Heldinnen in „Die Freiheit ist weiblich“ bringt es auf den Punkt: 

Im Iran seien Frauen stärker als Männer. 
Zitat: „Die Herrschenden haben das in Gänze verstanden. Deshalb unterdrücken sie uns.“
Das sagt eine gläubige Muslimin, 
die aus Überzeugung ihren Tschador trägt. 

Und gleichzeitig für die Entscheidungsfreiheit von Frauen kämpft, Kopftuch zu tragen. 
Oder eben nicht. 

Was Mut macht: Sie ist nicht alleine.

Ein Video sorgte in den sozialen Medien im Oktober für Aufsehen:  
Eine Frau im Tschador schreibt auf eine Mauer die Protestlosung: „Frau, Leben, Freiheit“. 
Und eine weibliche Stimme sagt im Hintergrund: 
„Wir verschleierten Frauen unterstützen Frau, Leben, Freiheit.“ Zitatende.
Die Menschen im Iran haben mehr als genug davon, dass Frauen für die Frage des Kopftuches sogar ihr Leben lassen müssen. 

Frauen wie Masha Jina Amini.
Es war diese junge Frau, die im vergangenen Herbst von der Sittenpolizei in Teheran festgenommen wurde. 
Weil ihr Kopftuch angeblich zu locker saß! 

Direkt aus dem Gefängnis landete sie im Krankenhaus und starb an den Folgen einer Kopfverletzung. 

Ihr Tod löste eine gewaltige Protestwelle aus, 
die auch bei uns spürbar ist.
Parteiübergreifend haben viele Abgeordnete politische Patenschaften für iranische Gefangene übernommen. 
Als Bundestagsabgeordnete setze ich mich zum Beispiel für die Freilassung der Frauenrechtlerin Nahid Taghavi ein. 

Liebe Frau Atai,
alle Heldinnen Ihres Buches sind außergewöhnliche, mutige und würdevolle Frauen mit dramatischen Lebensgeschichten. 

Aus verschiedenen Generationen, Milieus 
und Provinzen Irans. 

Sie alle eint der Wunsch nach Freiheit 
und Selbstbestimmung. 
Und die Hoffnung auf eine bessere Zukunft. 
Wenn nicht für sich selbst, dann für kommende Generationen. 

Da ist Shiva Nazar Ahari, die ihre Schule als Folterort erlebte. 
Auch wegen dieser Kindheitserfahrung startete sie die „Eine-Million-Unterschriften-Kampagne“. 
Vom Regime zermürbt, musste sie ins Exil. 

Da ist Atena Daemi, die als Achtzehnjährige den Namen der griechischen Göttin der Weisheit und des Kampfes annahm. 
Sie kämpft gegen die Todesstrafe. 
Auch aus dem Gefängnis heraus. 

Nach China ist der Iran das Land mit den meisten Hinrichtungen weltweit. 
Unsere Öffentlichkeit bewegt aktuell besonders das Schicksal des Deutsch-Iraners Djamshid Sharmahd, der Ende April zum Tode verurteilt wurde. 

Da ist die Mama Schahnaz, die nach dem Tod ihres Sohnes bei einer Demonstration zur Kämpferin für politische Gefangene wurde – 
und zur Trösterin für andere Eltern, 
die ihre Töchter und Söhne verloren haben. 
Weil sie für Freiheit und Recht demonstrierten. 

Da ist die Ingenieurin und Journalistin Sahra Rusta, die in der Grenzregion zu Pakistan und Afghanistan Missstände und Korruption aufdeckte und dafür drangsaliert wurde. 
Da ist die Frauenrechtlerin und Journalistin Masih Alinejad,
die aus dem Exil für die Gleichberechtigung der Frauen kämpft.

Da ist Asam Dschangrawi, die in der Revolutionsstraße in Teheran auf einen Verteilerkasten stieg, ihr Kopftuch auszog und ihre Haare offen zeigte. 
Sie wurde für viele Iranerinnen zum Vorbild. 

Für diesen Moment der Freiheit nahm sie  Misshandlungen und endlose Verhöre in Kauf. 
Und verlor das Sorgerecht für ihre Tochter. 

Liebe Frau Atai, 
wer Ihr Buch liest, fragt sich: 
Wie würde ich an Stelle von Fatemeh, 
Shiva oder Atena handeln?

Hätte ich den Mut, die Entschlossenheit 
und die Kraft, um zu kämpfen? 

Für meine Freiheit ins Gefängnis zu gehen? 

Soziale Ächtung, Auspeitschung oder andere physische und psychische Folter zu erdulden? 

Meine Heimat und Familie zu verlieren? 

Oder gar mein Leben? 

Ihr Buch lehrt Demut und Respekt 
vor der Stärke der iranischen Frauen. 

Ihr Buch lehrt aber auch Dankbarkeit 
und Wertschätzung für unsere freiheitliche Demokratie in Deutschland. 

Auch heute Abend betone ich daher: 
Diese freiheitliche Demokratie ist keine Selbstverständlichkeit.  

Sehr geehrte Damen und Herren, 
liebe Genossinnen und Genossen, 

„Die Freiheit ist weiblich“ ist ein Buch 
über die iranische Gesellschaft heute. 

Es ist aber auch ein Buch über die historischen Hintergründe, die sie geformt haben. 

Über Universitäten, die zu Gefängnissen wurden. 
Und über Gefängnisse, die zu Universtäten wurden – wie es im Iran zurzeit heißt. 
Über Gewalt und Leid. 

Ihr Buch hilft uns, Nachrichten aus dem Iran besser einzuordnen. 
Und lässt uns über Widersprüche staunen – 
wie zum Beispiel die Tatsache, dass rund zwei Drittel der Studierenden im Iran Frauen sind. 

Ein Drittel der Professorenstellen sind von Frauen besetzt. 
Wie in Deutschland!
Liebe Frau Atei,
„den Stimmlosen eine Stimme zu verleihen“ – das haben Sie sich zur Aufgabe gemacht. 
Und das gelingt Ihnen unglaublich gut. 

Sie sind zu einer der wichtigsten Stimmen der Iranerinnen hier in Deutschland geworden! 

Herzlichen Dank für Ihr Buch und Ihr Engagement! 

Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Genossinnen und Genossen,  

„Es gibt keine Befreiung der Menschheit ohne die soziale Unabhängigkeit und Gleichstellung der Geschlechter.“ 
Das wusste schon August Bebel 
im 19. Jahrhundert. 

Auch diese Worte wollten die Nationalsozialisten vor 90 Jahren austilgen.

Weil sie wahr sind.

Wo Frauen unterdrückt werden, nimmt die ganze Gesellschaft Schaden. 

Das sehen wir im Iran – und werden gleich 
in der Diskussion noch mehr darüber erfahren.

Das sehen wir auch in Afghanistan, 
wo Frauen und Mädchen keine höhere Schulen und Universitäten mehr besuchen dürfen. 
Die Unterdrückung der Frauen ist Gift 
für die Entwicklung jeder Gesellschaft. 

Ja, die Freiheit ist weiblich. 
Nicht, weil Frauen bessere Menschen wären.  Sondern, weil sie für ihre Rechte immer 
noch kämpfen müssen. 

Die Freiheit ist weiblich. 
Nicht ohne Grund ist eine Frauengestalt – die Marianne – zum Symbol der Französischen Revolution geworden. 

Frauen haben die Demokratiegeschichte Europas aktiv mitgeschrieben. 

Allzu oft sind sie dennoch unsichtbar geblieben.

Ich denke dabei auch an die deutsche Revolution von 1848/49, 
an die wir in diesem Jahr erinnern. 

Zum Beispiel an Emma Herwegh. 
Eine frühe Vorkämpferin der Frauenrechtsbewegung.

Oder an Louise Otto-Peters, die schon 1849 das Frauenwahlrecht in Deutschland forderte. 

Wirklichkeit geworden ist es erst 1919. 
Als Ergebnis des langen Kampfes der Frauenbewegung für echte Gleichstellung.

Gerade mit Blick auf die heutigen Freiheits- und Demokratiebewegungen, lautet die hoffnungsvolle Botschaft von 1848/1849: 
Wenn politische Freiheits- und Mitbestimmungsrechte einmal in den Köpfen der Menschen sind, lassen sie sich auf Dauer nicht unterdrücken. 
Der Aufbruch zur Freiheit entfaltet unvorstellbare Kraft und Dynamik. 

Oder mit den Worten der iranischen Friedensnobelpreisträgerin Shirin Ebadi ausgedrückt: 

„Wenn ein Volk bereit ist, mit dem Leben den Preis für Demokratie zu zahlen, dann wird es irgendwann siegen.“ 

Vielen Dank!

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12.05.2023 | Parlament

Rede von Bundestagspräsidentin Bärbel Bas „70 Jahre Kinderschutzbund“

Sehr geehrte Frau Ministerin, 
lieber Heinz Hilgers, 
sehr geehrter Herr Schneider,
Und ich freue mich auch besonders, 
Sie, liebe Frau Süssmuth, begrüßen zu können. 

Sehr geehrte Damen und Herren,
70 Jahre Kinderschutzbund, 
70 Jahre Einsatz für die Rechte der Kinder und eine kindgerechte Gesellschaft.  

Vielen Dank für die Einladung. 
Ich freue mich, hier mit Ihnen zu feiern. 
Und danke sagen zu können – für alles, was Sie in sieben Jahrzehnten erreicht haben.
Versetzen wir uns einen Moment zurück 
in das Jahr 1953, dem Gründungsjahr des Kinderschutzbundes. 

Kinder waren dem autoritären Denken der Nachkriegszeit besonders ausgesetzt.
Eltern erzogen noch mit Schlägen. 
Lehrkräfte straften mit dem Rohrstock. 

Und hatten die Rechtsprechung auf ihrer Seite: 
1957 attestierte ihnen der Bundesgerichtshof ein – ich zitiere – „generelles Gewohnheitsrecht“ zum Prügeln. 

Es dauert Jahrzehnte, bis ein Umdenken einsetzte. Heute völlig unfassbar. 

Ende der 70er Jahre wurde der Schriftstellerin Astrid Lindgren der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen. 
Aus diesem Anlass hielt sie eine Rede über gewaltfreie Erziehung. 

Lindgren erzählte darin die Geschichte einer Mutter, die ihren kleinen Sohn bestrafen will. Sie schickt ihn in den Garten: 
Er soll einen Stock holen. 

Zurück kommt er mit einem Stein. 

Vor Schreck bricht die Mutter in Tränen aus. 
Sie nimmt den Sohn in ihre Arme. 
Beide weinen. 
Dann legen sie den Stein in das Küchenregal – als Versprechen, niemals Gewalt anzuwenden.
Was uns heute unvorstellbar erscheint: Lindgrens Rede löste eine heftige Kontroverse aus. 
Die Veranstalter versuchten sogar im Vorfeld, den Text abzuschwächen.

Das verdeutlicht die Widerstände, 
gegen die Kinderschützerinnen und Kinderschützer kämpfen mussten. 

Sehr geehrte Damen und Herren, 
der Kinderschutzbund scheute diese Kämpfe nie. 
Er forderte: „Kinder brauchen Liebe, keine Hiebe.“ 

Und setzte sich schließlich durch. 
Im Jahr 2000 wurde das Recht auf gewaltfreie Erziehung im Gesetz verankert. Endlich. 

Allerdings muss ich als Abgeordnete auch selbstkritisch betonen: ERST im Jahr 2000.

Es war trotzdem ein Meilenstein, 
der Wirkung gezeigt hat: 
Es gibt noch immer zu viel Gewalt gegen Kinder.
Aber als pseudo-pädagogisches Mittel sind körperliche Strafen weitgehend Tabu. 
Zum Glück.

Dafür sage ich hier gern und deutlich: 
Das ist auch das große Verdienst des Kinderschutzbundes. Danke! 
Ich freue mich, dass Christine Bergmann heute auch hier ist. 

Liebe Frau Bergmann, 
Sie haben als zuständige Ministerin die notwendige Gesetzesänderung vorangetrieben. 

Auch Sie mussten Widerstände überwinden, auch an Sie ganz herzlichen Dank. 

Unsere Gesellschaft hat viel erreicht. 

Das heißt nicht, dass es nichts mehr zu tun gäbe. 

„Gewalt ist viel mehr ist, als man denkt“
– so lautet der Titel der aktuellen Kampagne des Kinderschutzbundes. 

Diese Kampagne schafft Bewusstsein für versteckte Gewalt: ausschimpfen, auslachen, Sätze wie „Aus Dir wird nie was“. 

Solche Demütigungen fressen sich in Kinderseelen ein – auch wenn keine körperliche Gewalt im Spiel ist. 

Es darf auch dafür keine Akzeptanz mehr geben!

Das sage ich auch als Bundestagspräsidentin, 
die sich für die demokratische Kultur in unserem Land verantwortlich fühlt: 
Demokratie beginnt in der Familie. 
Dort lernen wir miteinander umzugehen und Konflikte respektvoll auszutragen. 
In der Familie erfahren Kinder meist zuerst, 
dass ihre Meinung zählt. 
Dass es sich lohnt, sich einzumischen. 

Kinder müssen mit dem gleichen Respekt behandelt werden wie Erwachsene. 
Darum ist so wichtig, auch gegen emotionale Gewalt vorzugehen. 

Ich wünsche Ihnen auch für Ihre Kampagne viel Erfolg! 

Sehr geehrte Damen und Herren, 
bei der Vorbereitung auf Ihre Festveranstaltung musste ich auch an meine Kindheit denken. 
Wie anders Kinder und Jugendliche heute aufwachsen! 

Anfang der 80er Jahre waren Computer noch eine Seltenheit. 
Etwas für Büros. 

Heute tragen Grundschulkinder einen Computer in der Hosentasche herum.

Ich bin dagegen, Smartphones in Kinderhänden grundsätzlich für Teufelszeug zu halten. 
Im richtigen Maß und im richtigen Alter 
bieten sie Kindern die Möglichkeit, 
sich von Erwachsenen abzugrenzen. 

Sich zu mehr Selbstständigkeit zu entwickeln, 
zum Beispiel den Schulweg allein zu schaffen. 
Sich untereinander auszutauschen. 

Und sich über die Welt zu informieren. 

Dafür gibt es gute kindgerechte Angebote. 
Sie gestatten mir den kurzen Werbeblock: 
Zum Beispiel die Mitmischen oder die Kuppelkucker-Websites des Deutschen Bundestags. 

Mein Eindruck ist: Wir suchen noch die richtigen Antworten auf eine immer stärker digitalisierte Kindheit. 

Das gilt für Eltern, das gilt für Lehrkräfte. 
Das gilt sicherlich auch für die Gesetzgebung.
Klar ist: Wir brauchen einen entschlossenen Kinderschutz im Netz. 
Dort tun sich Abgründe auf, von denen viele Erwachsene gar nichts ahnen. 
Online-Sucht, Cybermobbing oder Pornographie. 

Gerade die Fälle von Kinderpornographie sind zuletzt massiv gestiegen. 
Das ist schockierend.

Wir müssen Provider, Spielehersteller und Plattformbetreiber mehr in die Pflicht nehmen. 

Es ist auch wichtig, noch mehr Bewusstsein zu schaffen für digitale Gefährdungen. 
Bei Kindern selbst – und bei den Eltern. 
Die Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Kerstin Claus, fand vor einigen Monaten deutliche und kluge Worte. 
Sie finde es – ich zitiere – „unverantwortlich, Kinder und Jugendliche dieser digitalen Welt … unbegleitet auszuliefern. Das würden wir in der analogen Welt nie tun.“ Zitatende. 

Der Kinderschutzbund erinnert die Politik auch bei diesem Thema an ihre Verantwortung: Kinderrechte gelten auch im digitalen Raum – und müssen auch dort durchgesetzt werden. 

Kinder haben ein Recht darauf, 
auch im Internet sicher zu sein. 
Meine Damen und Herren, 
Sie machen Druck auf die Politik. 
Auch bei der sozialen Lage von Kindern. 

Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: Ausgerechnet junge Menschen tragen das höchste Armutsrisiko aller Altersgruppen. 
Jedes 5. Kind in Deutschland ist von Armut bedroht. 

Aus meiner eigenen Jugend weiß ich um die Diskriminierung auf dem Schulhof. 
Die begann schon bei den Schuhen. 
Wer nur 2 statt 3 Streifen auf den Turnschuhen hatte, gehörte nicht dazu. 
Armut heißt, nicht ins Kino zu gehen, 
keine Fußball-Sammelkarten vom Taschengeld im Späti oder an der Bude kaufen zu können,
keinen Familienurlaub zu machen. 

Nicht einmal zur Klassenfahrt zu können. 
Weil die Eltern mit Anträgen überfordert sind. 
Oder weil ihnen ihre eigene Armut vor den Lehrkräften oder dem Förderverein der Schule unangenehm ist. 
Wenn es denn einen Förderverein gibt. 

Armut bedeutet: kein Sportverein, kein Tanzkurs, keine Nachhilfe. 

Und noch schlimmer: 
Kinder in Armut erleben häufiger Gewalt.

Was mich besonders wütend macht: 
Den Kindern wird der Weg in eine bessere Zukunft verbaut. 
Berufliche Perspektiven werden mehr denn je durch Herkunft entschieden. 

Das ifo-Institut hat dazu vor wenigen Wochen konkrete Befunde vorgelegt: 
Demnach schwanken die Chancen eines Kindes aufs Gymnasium zwischen einem Fünftel und vier Fünfteln. 
Je nachdem aus welchem Elternhaus es kommt.

Das ist ein Armutszeugnis
 – für unsere Gesellschaft. 
Und ein klarer Handlungsauftrag an die Politik. 

Wir müssen gerade diese Kinder gezielt fördern. 
Mir ist bewusst, dass sich dabei schwierige Fragen stellen:  
Auf welchem Weg erreichen wir diese Kinder? 
Wie helfen wir Familien unkompliziert?
Und wie schaffen wir im föderalen Deutschland bessere Bildung für alle Kinder?  

Solche Fragen lohnen den demokratischen Streit. 
Eine gute, geschützte und chancenreiche Kindheit muss in unserem Land aber  selbstverständlich sein. 

Das gilt auch für die Gesundheitschancen: „Kinder- und Jugendgesundheit: Ungleichheiten beseitigen – Versorgungslücken schließen“ hieß der erste Antrag, den ich als Berichterstatterin in meiner ersten Wahlperiode initiieren durfte. 
Alle Kinder haben das gleiche Recht auf faire Bildungs- und Teilhabechancen
Sie alle sollen ihre Talente entfalten und ihren Weg gehen können.
Und alle Kinder haben den gleichen Anspruch auf eine Grundsicherung. 

Umfragen sagen uns, dass eine breite Mehrheit in der Bevölkerung das genauso sieht. 
Renate Köcher, die Leiterin des Allensbach-Instituts, hat vor kurzem gesagt: 
„Auch Angehörige höherer sozialer Schichten sagen, es schade der Gesellschaft insgesamt, wenn Menschen einer sozialen Schicht zurückbleiben.“ Zitatende. 
Das sollte uns zu denken geben, uns allen … 
Und noch ein Punkt, dessen Tragweite wir heute noch gar nicht absehen können: 
In der Pandemie haben ausgerechnet die Kinder einen Großteil der Lasten getragen.
Wir schulden den Kindern etwas. 

Die Pandemie hat uns auch im Deutschen Bundestag unvorbereitet getroffen. 
Wir hatten keine Blaupausen in der Schublade.
Leider auch nicht für den bestmöglichen Schutz der Kinder. 
Natürlich wollte niemand in der Politik, dass die Kinder besonders leiden.  
So kam es dann aber leider. 

Die Kinder sind aus ihrem Alltag gerissen worden. 
Sie konnten Freundinnen und Freunde nicht mehr treffen. 
Mussten mit Mütze und Schal im kalten Klassenzimmer sitzen. 
Wenn sie überhaupt zur Schule gehen konnten.

Sie sind um einen Teil ihrer Chancen gebracht worden.

Wir müssen jetzt alles daransetzen, 
diese Entwicklungs- und Bildungslücken so gut wie möglich zu schließen. 

Die Auswirkungen auf die Kinder bekommen Kitas und Schulen gerade erst mit ihrer ganzen Wucht zu spüren. 

Und wir dürfen nicht zulassen, dass Kinder in der nächsten Krise wieder die Leidtragenden sind. 

Hier bin ich aber hoffnungsvoll, denn eine der vielen Stärken unserer parlamentarischen Demokratie ist: Wir sind lernfähig. 

Die Erfahrung der Pandemie hat auch gezeigt: 
Die Interessen von Kindern müssen Vorrang haben. Und zwar verbindlich. 
Wir müssen ihre Teilhabe und Mitsprache sichern. 

Darum bin ich aus voller Überzeugung Schirmfrau des Netzwerks Kinderrechte. 

Die Demokratie lebt von einem einfachen Grundgedanken: 
Alle sollen mitentscheiden, die es betrifft.  

Kinder sind von den meisten Entscheidungen der Politik betroffen. 
Die Politik gestaltet heute die Welt, 
in der sie morgen leben. 
Aber wählen dürfen sie nicht.

Ich persönlich finde: Das Wahlrecht ab 16 Jahren würde dieses Problem etwas kleiner machen. 

Bei vielen Landtagswahlen dürfen Jugendliche bereits ab 16 wählen. 
Auch bei den Europawahlen. 
Ich sehe keinen Grund, warum das auf Bundesebene nicht auch funktionieren sollte.
Das Wahlalter lässt sich nicht beliebig senken. 
Gerade deswegen ist es aber so wichtig, 
Kinder immer zu berücksichtigen. 
Sie haben berechtigte Interessen, oft auch Meinungen und Vorschläge. 

Und Kinder haben Rechte. 
Andere Rechte als Erwachsene. 

Das Recht auf besondere Förderung. 
Das Recht auf besonderen Schutz. 
Oder das Recht, gehört zu werden. 

Die Stärke einer Demokratie zeigt sich auch daran, wie sie die Rechte von Kinder sicherstellt.

Sehr geehrte Damen und Herren, 
15.000 Menschen engagieren sich ehrenamtlich in den Strukturen des Kinderschutzbundes. 

Sie beraten Eltern. 
Sie lesen Kindern vor, trainieren mit ihnen, 
betreuen sie in der Freizeit. 
Oder haben ein offenes Ohr für die kleinen und großen Sorgen im Leben von Kindern und Familien. 

Die „Nummer für Kummer“ etwa ist ein sehr erfolgreiches Projekt des Kinderschutzbundes. 
So erfolgreich, dass die „Nummer für Kummer“ heute in eigenen Strukturen betrieben wird. 
Und zum Vorbild für andere Länder wurde. 

Getragen durch das Ehrenamt.
Für viele Menschen in Deutschland sind Kinder eine Herzenssache. 
Diesen Menschen möchte ich heute danke sagen. 

Mit ihrer Arbeit, ihrer Zeit und ihrer Liebe tragen sie dazu bei, dass Kinder in unserem Land geschützt aufwachsen. 

Wer Hilfe auf so professionellem Niveau anbietet, braucht natürlich auch starke hauptamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. 

Auch ihnen möchte ich herzlich danken. 

Sehr geehrte Damen und Herren, 
zum Schluss noch ein besonderer Dank: 
70 Jahre Kinderschutzbund. 
30 Jahre mit Heinz Hilgers an der Spitze. 

Lieber Heinz, 
wir kennen uns schon lange. 
Du hast Dich auch kommunal- und landespolitisch eingebracht: als Bürgermeister von Dormagen und als Landtagsabgeordneter in Nordrhein-Westfalen. 

Ulrich Schneider wird gleich eine ausführliche Würdigung vortragen. 
Auch ich möchte Dir Danke sagen für alles, was Du für Kinder in Deutschland getan hast. 
Heute morgen habe ich in Deinem DPA-Interview gelesen, dass Du Dir vor allem mehr Chancengerechtigkeit wünschst. 
Auch bei diesem Thema sind wir uns einig.   

Für die Politik warst Du in all den Jahren ein wichtiger und - zum Glück - auch unbequemer Ansprechpartner. Danke! 

Allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, allen Mitgliedern und Engagierten gratuliere ich zu 70 Jahren Kinderschutzbund! 

Mit Ihrer Arbeit machen Sie Deutschland jeden Tag aufs Neue zu einem besseren Land, 
in dem Kinder eine starke Stimme haben. 

Herzlichen Dank! Und herzlichen Glückwunsch!

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09.05.2023 | Parlament

Rede von Bundestagspräsidentin Bärbel Bas zur Lesung mit Marlen Hobrack „Klassenbeste. Wie Herkunft unsere Gesellschaft spaltet“

Sehr geehrte Frau Hobrack,
liebe Kolleginnen und Kollegen,
sehr geehrte Damen und Herren,

„Herkunft kann eine wärmende Decke sein“, schreiben Sie in Ihrem Buch, 
liebe Frau Hobrack. 

Zugleich sei Herkunft eine Art „Reisegepäck“. 

Manche sind schon beim Start hervorragend ausgestattet. 
Sogar mit Sherpas, die ihnen den Weg bahnen. 

Andere müssen ihr Gepäck alleine tragen. 
Und haben Steine statt Proviant im Rucksack. 

Das sind starke Bilder, die Sie uns mit auf den Weg geben, liebe Frau Hobrack. 

Ihre scharfsinnigen gesellschaftspolitischen Beobachtungen haben mich persönlich berührt. 

Umso mehr freue ich mich, dass wir die Tradition der Lesungen in der Bundestagsbibliothek mit Ihrem Buch fortsetzen.
Herkunft betrifft uns alle. 

Sie prägt jeden Menschen. 
Sie legt das Fundament fürs Leben. 

Herkunft stiftet Identität. 
Und Zugehörigkeitsgefühl. 

Herkunft kann aber auch ausgrenzen. 

„Du gehörst nicht dazu!“ 
Dieser Satz tut weh. 
Ob direkt ausgesprochen oder wortlos vermittelt. 

Auf dem Schulhof. 
Bei der Suche nach einem Arbeitsplatz oder einer Wohnung. 
Auf dem Sozialamt. 
Wer sich fehl am Platz fühlt, ist verletzt.  Besonders verletzlich sind Kinder 
und Jugendliche.

Liebe Frau Hobrack, 
Sie kennen dieses Gefühl. 
Sie schildern Ihre Kindheits- und Jugenderfahrungen in Ihrem Buch. Stellvertretend für viele Kinder. 

Ich bin mit ähnlichen Erfahrungen aufgewachsen. 
Auch ich komme aus einer Arbeiterfamilie.
Mit 5 Geschwistern.  

Auch ich wollte dazugehören. 
Aber es war hart –
auch bei vermeintlich kleinen Dingen, 
zum Beispiel, wenn die Turnschuhe nur zwei statt drei Streifen hatten.  

Besonders berührt haben mich Ihre Teenager-Erfahrungen, als Sie ausgegrenzt und geschnitten wurden. 

Lange Zeit haben Sie sich geweigert, 
die Schule zu besuchen. 
Und das als hochbegabtes, wissbegieriges Kind! 

„Wenn ein Kind die Schule verweigert, dann verweigert es nicht das Lernen. 
Es verweigert sich der Gesellschaft“ 
– schreiben Sie rückblickend.
Ihre Analyse muss uns aufrütteln. 

Nicht das Kind ist das Problem.  
Sondern die Gesellschaft, die diesem Kind seine Entwicklung nicht ermöglicht. 

Dreh- und Angelpunkt ist unser Bildungssystem.  
Nach wie vor gilt: Wie stark ein Kind gefördert wird, hängt entscheidend von der Schule ab.  

Und vor allem davon, 
wie hoch der Bildungsstatus und wie dick der Geldbeutel seiner Eltern sind. 

Die sozialen Ungleichheiten dividieren die Kinder und die Gesellschaft auseinander. 

Junge Menschen aus Nicht-Akademiker-Familien brauchen oft Unterstützung von außen.
Ich habe auf meinem Bildungsweg das Glück gehabt, dass immer jemand meine Potenziale gesehen und mich ermuntert hat. 

Aufstieg darf aber keine Ausnahme sein. 
Keine Frage des Zufalls. 
Oder des Glücks. 

Aufstieg muss jedem Kind offenstehen. 
Das ist eine Frage der sozialen Gerechtigkeit. 

Und eine Frage unserer Zukunftsfähigkeit. 
Wir können es uns gerade in Zeiten von Fachkräftemangel gar nicht leisten, 
die Potenziale vieler Kinder zu vergeuden. 
Unser Bildungssystem ist zu wenig durchlässig. Das bestätigt der aktuelle Chancenmonitor. 
Nur etwa ein Fünftel der Kinder mit einem alleinerziehenden Elternteil mit niedrigem Einkommen und mit Migrationshintergrund hat die Chance, aufs Gymnasium zu gehen. 

Liebe Frau Hobrack,
die stille Heldin Ihres Buches ist Ihre Mutter. Ihre Lebensleistung schildern Sie einfühlsam 
und mit großem Respekt.  

Am Beispiel Ihrer Mutter zeigen Sie das harte Leben einer Arbeiterin; 
einer Frau, die sich hochgearbeitet hat – 
und trotzdem in der Armutsfalle gelandet ist. 
Eine Mutter, die bis zur Erschöpfung für den Bildungsaufstieg ihrer Kinder gearbeitet hat. 
Und deshalb weder Zeit noch Kraft hatte, 
den Kindern vorzulesen oder bei Hausaufgaben 
zu helfen. 

Eine „Fallschirmmutter“ – wie Sie sie nennen. 
Im Katastrophenfall immer bereit, 
ihre Kinder aufzufangen. 
Die sie ansonsten zur Selbstständigkeit erzieht. 

Der Lebensweg Ihrer Mutter ist exemplarisch.  Sie ziehen daraus aufschlussreiche Folgerungen. 

Wir werden gleich  darüber sprechen.

Liebe Frau Hobrack, 
was ich an Ihrem Buch besonders schätze, 
ist Ihre differenzierte Sicht. 

Immer wieder wechseln Sie die Perspektive, beleuchten Probleme aus verschiedenen Blickwinkeln. 
Oder – wie Sie sagen – setzen eine andere Brille auf, um die Wirklichkeit neu zu betrachten. 

Da ist die Feministinnen-Brille 
und die Alleinerziehenden-Brille, 
die Ost-Brille und die West-Brille, 
die Arbeiterklassen-Brille 
oder die Intellektuellen-Brille.

Bequemes Schwarz-Weiß-Sehen ist in jedem Fall nicht Ihre Sache.  
Sie haben den Mut, 
sich zwischen alle Stühle zu setzen. 
So regen Sie Debatten an. 

Dafür danke ich Ihnen. 

Ich freue mich auf Ihre Lesung 
und auf das Gespräch danach! 

Sie haben das Wort.

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18.05.2023 | Parlament

Rede von Bundestagspräsidentin Bärbel beim Festakt in der Paulskirche anlässlich „175 Jahre Paulskirchenversammlung“
am 18. Mai 2023 in Frankfurt a. M.

Rede beim Festakt in der Paulskirche anlässlich „175 Jahre Paulskirchenversammlung“ 
am 18. Mai 2023 in Frankfurt a. M.

Sehr geehrter Herr Bundespräsident, 
sehr geehrte Festgäste,
liebe Kolleginnen und Kollegen!

Die Geschichte des deutschen Parlaments beginnt hier in der Paulskirche. 

Mit der ersten gesamtdeutschen Volksvertretung, die aus allgemeinen, gleichen und freien Wahlen hervorging. 

Und sie beginnt mit der Wahl von Heinrich von Gagern zum ersten Präsidenten 
– heute auf den Tag genau vor 175 Jahren. 

Seinen Nachfahren Rüdiger Freiherr von Gagern durfte ich vor zwei Wochen in Kelkheim kennenlernen. Auch Sie und Ihre Familie möchte ich ausdrücklich begrüßen. 

Heinrich von Gagern wurde mit 96 Prozent der Stimmen gewählt.  

Das hat bislang kein Bundestagspräsident – und auch keine Bundestagspräsidentin – geschafft. 

Auch Frauen waren in der Paulskirche dabei. 
Als Zuschauerinnen. 

Das war aber ein Schritt nach vorn. 
Ins Vorparlament mussten sie sich noch hineinschleichen.   

In der Paulskirche war die sogenannte „Damengalerie“ durchweg gut besucht.

Nicht alle fanden das richtig. 
„Parlamentsfliegen“ nannte sie ein besonders verächtlicher Kommentar.
Politik sei keine Frauensache. 
Darin waren sich die Abgeordneten der Nationalversammlung einig. 
Für die meisten Zeitgenossen 
- und wohl auch Zeitgenossinnen – 
der Frankfurter Abgeordneten waren Frauen als Wählerinnen nicht vorstellbar. 

Und noch weniger als Politikerinnen 
oder gar als Parlamentspräsidentinnen. 

Sehr geehrte Damen und Herren, 

der Historiker Dieter Langewiesche spricht mit Blick auf 1848/49 von einer „Parlamentsrevolution“. 

Weil es gelang, die Revolution von der Straße in parlamentarische Bahnen zu lenken. 

Aber eine „Parlamentsrevolution“ war es auch in anderer Hinsicht.
Die Nationalversammlung betrat demokratisches „Neuland“. 

Sie stand vor der Frage: 
Wie lässt sich ein breitgefächerter Wählerwille in politische Gestaltung übersetzen?
Schon damals kam man zu dem Schluss: 
Es braucht Parteien und Fraktionen! 

Ein damaliger Abgeordneter drückte es so aus: „Die Bildung von Parteien in größeren gesetzgebenden Versammlungen entspricht nicht nur der menschlichen Natur, sondern sie ist sogar zur Förderung des Zwecks solcher Versammlungen nötig“. Zitat Ende. 

Auch der Anspruch auf Fraktionsdisziplin ist nicht neu. 
Die „Klubs“ verpflichteten ihre Mitglieder, eine gemeinsame Linie zu verfolgen. 

Die Frankfurter Parlamentarier wussten, dass Demokratie nicht Harmonie bedeutet.  
Sondern eben auch Kontroverse und Kompromisse. 

So gelang die eigenmächtige Einsetzung einer provisorischen Regierung durch das Parlament 
– ohne Absprache mit den deutschen Fürsten: 

Der berühmte „kühne Griff“ Heinrich von Gagerns.
Ein selbstbewusstes parlamentarisches Statement!
Auch die bedeutendste Errungenschaft der Nationalversammlung wäre ohne Kompromiss nicht zustande gekommen: 
Die Reichsverfassung. 

Sie basierte auf einem Ausgleich zwischen den gegensätzlichen Zielvorstellungen von Liberalen und Demokraten. 

Dabei ging es nicht um einzelne Sachfragen. Verhandelt wurde über das große Ganze: 
über die Frage, Republik oder Monarchie? 
Und über ein demokratisches Wahlrecht. 

Die Urkunde der Reichsverfassung haben wir aus Anlass des Vorparlaments Ende März im Deutschen Bundestag ausgestellt. 
Das Bemerkenswerte: Die Verfassungsurkunde haben 405 Abgeordnete aus allen politischen Lagern unterschrieben. 
Die Mitglieder der Nationalversammlung waren bereit, Mehrheitsvoten zu akzeptieren. 

Mit Blick auf manche unserer Debatten wirkt diese frühe demokratische Reife erstaunlich.

Ich würde mir heute wünschen, 
die Formulierung „fauler Kompromiss“ viel seltener zu hören. 

Politik braucht nicht nur Haltung und Überzeugung.  
Sondern auch Pragmatismus und Kompromissfähigkeit. 
Und davon gerne etwas mehr.
Die „Parlamentsrevolution“ verfehlte ihr doppeltes Ziel – Freiheit und nationale Einheit. 

Aber sie setzte gesellschaftliche Entwicklungen in Gang, die sich auf Dauer nicht mehr unterdrücken ließen. 

Wenn Freiheits- und Mitbestimmungsrechte einmal in der Welt sind, entfalten sie ihre eigene Kraft und Dynamik. 

Gerade bei denen, die davon ausgeschlossen sind.

Auch Frauen begannen, sich zu organisieren. 
Sie schlossen sich in Klubs zusammen. 
Manche gründeten Zeitungen. 
Wie Luise Otto-Peters. 
Sie empfand es als „unwürdig, auf der Galerie nur schweigende Zuhörerin zu sein.“

1849 forderte sie als erste öffentlich das Frauenwahlrecht in Deutschland. 
Der Auftakt zur politischen Emanzipation der Frauen war gesetzt. 
Das Frauenwahlrecht wurde zum mächtigen Zugpferd der organisierten Frauenbewegung. 
Über alle politische Grenzen hinweg. 

Frauen haben sich ihre politische Gleichberechtigung selbst erkämpft. 
Dieser Kampf begann vor 175 Jahren jenseits der Nationalversammlung. 

Ohne diesen Kampf würden wir vermutlich heute noch auf der Galerie sitzen. 
Sehr geehrte Damen und Herren,

die Abgeordneten in Frankfurt entwarfen ein freies und geeintes Deutschland, das keine Wirklichkeit wurde. 

Die Nachwirkungen ihrer Arbeit waren aber enorm. 
Sie lassen sich noch heute ausmachen. 
In unserer Verfassung, 
in unseren demokratischen Normen
und Institutionen. 

Nicht zuletzt im Deutschen Bundestag.

Viele unserer parlamentarischen Gepflogenheiten lassen sich bis Frankfurt zurückverfolgen:
von der Sitzverteilung im Plenarsaal 
über die Stimmkarten unterschiedlicher Farbe für namentliche Abstimmungen 
bis zur Glocke der Präsidentin, mit der gegebenenfalls für Ruhe im Saal gesorgt wird. 

Wie gut ein Parlament seine Aufgaben erfüllen kann, hängt heute entscheidend von der Verbindung zur Gesellschaft ab. 

Ein Journalist hat die Demokratie mal „die Staatsform der Unzufriedenheit“ genannt.
Sie entsteht aus der Unzufriedenheit mit dem Bestehenden. 

Aus dem Wunsch, den Status Quo zu verändern und das Leben der Menschen zu verbessern. 

Wie vor 175 Jahren. Damals nur für eine kurze Zeit.

Unsere Demokratie kann sich selbst immer wieder korrigieren, anpassen und dazulernen. 

Das unterscheidet sie von Diktaturen und autoritären Regimen, die auf Anpassung und Unterdrückung ihrer Bürgerinnen und Bürger setzen. 

Eine bessere Demokratie, eine bessere Politik kann aus Kritik und Streit entstehen. 
Auch aus Protest. 

Was unsere Demokratie definitiv nicht voranbringt: 
Wenn mit Lügen und Hass die Grundwerte unseres Zusammenlebens untergraben werden. 

Wenn Parlamente, Parteien und Abgeordnete verächtlich gemacht, bedroht oder gar attackiert werden. 

Und wenn sich gerade ehrenamtliche Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpolitiker aus Angst zurückziehen.  
Die kommunalpolitische Ebene ist das Fundament unserer Demokratie. 
Bereits 1848 richtete sich der Zorn gegen die Parlamente und Abgeordneten, 
aufgestachelt von Demagogen. 

Die Hassrede vom „Volksverräter“ erlebte damals schon eine unschöne Blütezeit. 

Unsere demokratischen Institutionen beruhen auch auf dem Erbe der Revolution von 1848.

Sie brauchen unseren Respekt.

Sie müssen aber auch Veränderungsbereitschaft zeigen und sich weiterentwickeln. 

Sie müssen reagieren auf die wachsende gesellschaftliche Vielfalt, 
die gewandelte Öffentlichkeit, 
die zunehmend digitalisierte Welt 
und nicht zuletzt auf das verlorengegangene Vertrauen in Parteien und Parlamente. 

Mehr Bürgerinnen und Bürger wünschen sich, gehört zu werden. 
Mitzubestimmen – nicht nur bei Wahlen. 

Der Deutsche Bundestag geht heute neue Wege: Mein Amtsvorgänger Wolfgang Schäuble hat sich die Idee eines Bürgerrates zu Eigen gemacht. 
Vergangene Woche haben wir den 1. Bürgerrat dieser Wahlperiode eingesetzt. 
Die nach dem Zufallsprinzip ausgewählten Teilnehmerinnen und Teilnehmer werden sich intensiv mit dem Thema „Ernährung im Wandel“ befassen. 

Und dem Parlament Empfehlungen geben. 

Weitere Bürgerräte sind geplant. 

Dieses Format kann helfen, Blockaden aufzulösen und Scheuklappen abzulegen.

Das Ringen um Freiheit und Teilhabe begann 1848 – und ist nicht abgeschlossen. 
Es bleibt ein beständiger Prozess. 
Auch heute. 
Unsere Demokratie sollte noch mehr Menschen zum Mitmachen einladen. 
Damit sie sich mit ihren Anliegen und Sichtweisen wiederfinden. 

Unsere parlamentarische Demokratie ist keine Selbstverständlichkeit.  

Deswegen finde ich es richtig, 
darüber nachzudenken, 
wie wir mehr Frauen in die Parlamente bekommen, 
oder das Wahlrecht auf Jugendliche ausweiten.  

Es braucht aber nicht nur die Offenheit bei Parlamenten und Parteien. 
Es braucht auch eine engagierte Gesellschaft. 

Bürgerinnen und Bürger, die sich beteiligen wollen. 

Die nicht nur kritisieren, sondern selbst mitmachen und etwas verändern wollen. 

Die nicht nur Erwartungen und Ansprüche an die Politik formulieren, sondern selbst Verantwortung übernehmen.

Robert Blum, bis zu seiner Hinrichtung Mitglied der Frankfurter Nationalversammlung, war überzeugt, dass es sich lohnt. 
Lassen Sie mich zum Abschluss meiner Rede ihn zitieren. 

„Es hätte … überhaupt nichts Gutes und Großes gegeben, wenn jeder stets gedacht hätte: Du änderst doch nichts.“ 

Vielen Dank. 

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23.04.2023 | Parlament

Bundestagspräsidentin Bärbel Bas: Keynote Roundtable der EU-Parlamentspräsidentinnen zur Rolle von Frauen in der Außenpolitik

Liebe Kolleginnen,

dieser Termin ist für mich eine besondere Freude! 

Ich danke Ihnen allen sehr, dass wir heute in dieser weiblichen Runde zusammenkommen. 
Ganz besonders Ihnen, liebe Frau Kollegin Adamová. 
Sie haben dieses Treffen möglich gemacht. 

Die Idee dazu hat mehrere Mütter. 
Ich danke hier meiner Vorrednerin, Sejmmarschallin Witek, 
und Frau Präsidentin Metsola, die bereits Treffen in Polen und Brüssel initiiert haben.
Und ich bedanke mich bei unserer Kollegin Demetriou, mit der ich auch diese Idee besprochen habe.

„Frauen in der Außen- und Sicherheitspolitik“ ist schon gut 40 Jahre ein Thema. 

Doch in der Praxis hat sich zu wenig bewegt. 

Frauen sind unterrepräsentiert. 
Auch im Jahr 2023. 

An der Spitze von Parlamenten, Regierungen und Ministerien. 
In Führungspositionen der Verwaltung und des diplomatischen Dienstes, 
in Armeen und Friedensmissionen. 

Gerade die Außen- und Sicherheitspolitik ist weiterhin männlich dominiert. 

Die Vereinten Nationen haben ausgerechnet: 
Bei dem aktuellen Tempo würde es 130 Jahre dauern, bis auf Ebene der Staats- und Regierungschefs Parität erreicht wäre. 

In den Parlamenten hätten wir erst 2063 Parität. Im Moment sind nur 26,5 Prozent der Abgeordneten weltweit weiblich.
Auch im Deutschen Bundestag können wir mit 34,9 Prozent Frauenanteil nicht zufrieden sein.  

Das muss nach oben gehen. Und es wird nach oben gehen. 
Über die Wege nach oben, würde ich gerne mit Ihnen allen ins Gespräch kommen.

Liebe Kolleginnen, 
politische Prozesse und Entscheidungen werden besser, wenn Frauen an der Spitze stehen. 
Die Geschichte lehrt uns: 
Frauen sind eher bereit, ihre Positionen zu reflektieren und Brücken zu bauen. 
Das macht zum Beispiel Friedensabkommen erfolgreicher und nachhaltiger. 

Der VN-Sicherheitsrat hat im Jahr 2000 den Zusammenhang zwischen Frieden und der Teilhabe von Frauen einstimmig festgestellt 
in der Resolution 1325: „Frauen, Frieden, Sicherheit“. 

Geschlechtergerechtigkeit macht Gesellschaften wohlhabender, gesünder und sicherer.

Und das ist bitter nötig. 

Der Krieg in der Ukraine, 
die Dynamik der Weltordnung, 
Klimawandel, Hunger, Armut und Flüchtlingsströme zeigen: 
-    Wir brauchen kluge Lösungen. 
-    Wir brauchen die Perspektiven, 
die Erfahrungen und das Engagement der Frauen.

„Die Zukunft der Außenpolitik ist feministisch.“ sagte Margaret Wallström.

Wallström war die erste, die 2014 den Feminismus zur Leitlinie ihrer politischen Arbeit machte.

Die deutsche Regierung hat sich 2021 in ihrem Koalitionsvertrag zur feministischen Außenpolitik verpflichtet und Leitlinien verabschiedet. Dabei waren die Erfahrungen anderer Staaten sehr wichtig für uns. 

Im Januar hat sich im Deutschen Bundestag ein fraktionsübergreifender Arbeitskreis zur feministischen Außenpolitik konstituiert. 
Parlamentarische Gremien wie dieser Arbeitskreis leisten wichtige Vernetzungsarbeit. 

Auf persönlicher Ebene, von Parlamentarierin zu Parlamentarierin. 
Vor allem aber auch bei der vernetzten Betrachtung von Inhalten, die gemeinsam gedacht werden müssen: 
Wir brauchen eine feministische Außenpolitik, die konsequent Sicherheits-, Verteidigungs- und Entwicklungspolitik mitdenkt. 

Und das aus der Perspektive von Frauen, die  Abgeordnete in international eng-vernetzten Parlamenten sind. 
Darin hat mich der Austausch mit meinen Kolleginnen im Deutschen Bundestag bestärkt. 

„Feminismus ist kein Beliebtheitswettbewerb“, formulierte die tschechische Soziologin Vanda Černohorská.
Manch einer außerhalb dieses Saals mag sich von dem Begriff „feministische Außenpolitik“ provoziert fühlen – oder ihn sogar belächeln.
Das war schon immer so bei progressiven Konzepten. 

Ich halte dagegen: Feministische Außenpolitik kommt allen Menschen zugute. 
Wo sie fehlt, leiden Frauen und Männer. 

Wieviel Leid mit der Unterdrückung von Frauen einhergeht, zeigt besonders bedrückend die Lage in Afghanistan.

Auch die Iranerinnen – und an ihrer Seite viele engagierter Iraner – zeigen, dass Unterdrückung und Marginalisierung von Frauen Gift für die Entwicklung eines Landes ist. 
Das Motto der Proteste seit dem Tod von Mahsa Amini bringt die Zusammenhänge auf den Punkt: „Frau, Leben, Freiheit.“

Clare Hutchinson – NATO-Sonderbeauftragte für Frauen, Frieden und Sicherheit – sagte einmal: 
„Ohne feministische Außenpolitik scheitern wir. Und zwar daran, zu verstehen, worum es bei Außenpolitik letztlich gehen sollte.“

Es geht der feministischen Außenpolitik um Gleichstellung und Teilhabe, 
um Gerechtigkeit und Frieden. 

Die feministische Außenpolitik legt einen erweiterten Sicherheitsbegriff zu Grunde und rückt den Menschen stärker ins Zentrum. 
Die feministische Außenpolitik entstand letztlich aus der Friedenspolitik. 
Ich habe mich selbst die meiste Zeit meines Lebens als Pazifistin verstanden. 
Doch der russische Angriff auf die Ukraine und mein Besuch in Butscha und Irpin im vergangenen Jahr haben mich umdenken lassen. 

Feministische Außenpolitik muss fester Bestandteil der politischen Praxis sein. 
Wir dürfen nicht an theoretischen Konzepten festhängen, sondern müssen Sicherheit, Frieden und Gerechtigkeit aktiv voranbringen. 

Es ist daher wichtig, dass wir die Ukraine mit Waffenlieferungen unterstützen und unsere Fähigkeiten zur Verteidigung für uns und unsere Bündnispartner stärken. 
Vergessen wir nicht: Gerade die Frauen leiden besonders unter Kriegen und Kriegsverbrechen. 

Wie aggressiv ein Staat ist, 
liegt auch am Level der Gleichstellung.
Feministische Außenpolitik möchte Diskriminierung und Ungleichheiten beseitigen. 
Und Gleichstellung weltweit voranbringen.

Schweden führte dafür 2014 die drei R ein:
-    gleiche Rechte für alle Menschen
-    angemessene Repräsentanz von Frauen
-    und fairer Zugang zu materiellen wie immateriellen Ressourcen. 
Ein politisches System ist nur demokratisch, wenn Frauen zu gleichen Teilen vertreten sind. Das konstatierte die Internationale Frauenliga für Frieden und Freiheit bei ihrem Gründungskongress. 
Im Jahr 1915!

Wir müssen Strukturen überwinden, 
die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen am gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Leben verhindern. 

Und ich bin überzeugt, dass wir Parlamentspräsidentinnen unseren Beitrag dazu leisten können und sollten. 

Auch deswegen bin ich froh über dieses Treffen. 
Ich wünsche mir sehr, dass wir dieses Format auch künftig nutzen und in unseren vollen Terminkalendern fest verankern.  

Ich bin sehr gespannt darauf, von Ihren Erfahrungen und Einschätzungen zu lernen!

Herzlichen Dank!

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