07.02.2023 | Parlament

Grußwort von Bundestagspräsidentin Bärbel Bas zum Fachgespräch „Jüdisches Leben in Deutschland heute – Drei Generationen und ihre Erfahrungen“

[Es gilt das gesprochene Wort]

Sehr geehrter Herr Krüger,
sehr geehrte Expertinnen und Experten,
liebe Elisabeth Kaiser, 
lieber Marc Henrichmann,
Liebe Kolleginnen und Kolleginnen, 
– hier im Saal und vor den Bildschirmen! 

Vor wenigen Tagen haben wir hier im Paul-Löbe-Haus die Ausstellung „16 Objekte“ eröffnet und damit das 70. Gründungsjubiläum der Gedenkstätte Yad Vashem gewürdigt. 
Die Ausstellung zeigt Alltagsgegenstände deutscher Jüdinnen und Juden. 

Auch wenn ihre einstigen Besitzerinnen und Besitzer nicht mehr alle selbst sprechen können: 
Die Gegenstände erzählen von dem unwiederbringlichen Verlust, den der millionenfache Mord an den europäischen Jüdinnen und Juden bedeutet.

Es ist mir eine Herzensangelegenheit, dass wir die Erinnerung an die Opfer der Shoa pflegen und weitertragen. 
Dafür müssen wir nach neuen Wegen des Gedenkens suchen – so wie mit der erwähnten Ausstellung. Sie zeigt, wie die Vergangenheit zu uns sprechen kann – wenn es  Zeitzeugen nicht mehr können.

Jede Generation muss sich selbst mit der Geschichte auseinandersetzen. Nur so können wir unserer Verpflichtung des „Nie wieder!“ gerecht werden. 

Wir müssen uns – und ich empfinde das als niederschmetternd – ehrlich eingestehen, dass Antisemitismus kein Problem der Vergangenheit ist. Oder nur an den Rändern unserer Gesellschaft auftaucht. 

Ich habe es letzte Woche in der Gedenkstunde bereits gesagt: Täglich werden in Deutschland antisemitische Straftaten registriert. Gedenkstätten werden geschändet, jüdische Einrichtungen und Synagogen angegriffen. Menschen werden angefeindet, bedroht und attackiert – weil sie Jüdinnen oder Juden sind. Das ist eine Schande für unser Land!

Deshalb gilt mehr denn je: Wir müssen wachsam sein. Wir müssen genau hinschauen – wie auch die Debatte um die Documenta 15 gezeigt hat. 

Wir müssen gegen jede Form des Antisemitismus aufstehen und ihn entschlossen bekämpfen. 

Das fängt mit guter Präventionsarbeit an. Dazu gehört ganz wesentlich auch politische Bildung. Wir müssen dem Antisemitismus den Nährboden entziehen. 

Ich glaube, es ist entscheidend, dass die Nichtjuden in unserem Land mehr von den Jüdinnen und Juden erfahren. Über die jüdischen Traditionen und Bräuche. Über den Alltag der Jüdinnen und Juden. Denn nichts wirkt besser gegen Stereotype und Judenhass als die persönliche Begegnung. Nichts erweitert die Perspektive und das Verständnis zuverlässiger.

Auf diese Weise können wir alle lernen. Auch Menschen, die sich mit der Vergangenheit bewusst und sensibel auseinandersetzen. 

Allzu oft sehen wir jüdisches Leben und die jüdische Kultur in unserem Land als Teil der Vergangenheit. 

Josef Schuster beklagte einmal, dass sich die Bildungsarbeit in deutschen Schulen größtenteils auf die Zeit zwischen 1933 und 1945 beschränke. Dadurch würden Juden häufig nur als Opfer betrachtet.

Josef Schuster hat Recht, wenn er sagt: Ich zitiere: 
„Nur wenn Schüler zum Beispiel wissen, welche Bedeutung jüdische Wissenschaftler, Künstler und Schauspieler in Deutschland hatten, 

wie stark die deutsche Kultur über Jahrhunderte vom Judentum geprägt wurde oder wenn sie etwas über jüdische Stetl in Osteuropa erfahren, dann können sie ermessen, welche Dimension die Vernichtung des europäischen Judentums hatte.“ Zitatende.

Wir müssen aufpassen, dass sich unser Blick nicht verengt, dass wir nicht übersehen, wie reich und vielfältig jüdisches Leben in Deutschland inzwischen wieder geworden ist. Zu unserem großen Glück!

Ich wünsche mir mehr persönliche Begegnungen. Und ein realistisches Bild der in Deutschland lebenden Jüdinnen und Juden. Ohne Vorurteile.  

Gerade junge Juden fordern ausdrücklich ein, als normaler Bestandteil der Gesellschaft wahrgenommen zu werden.

Marina Weisband formulierte es einmal so: 
„Das Judentum muss auch unabhängig vom Gedenken an die Shoah wahrgenommen werden. […] Außerhalb des Gedenkens finden wir nicht statt. Ich würde gerne mehr aus meinem Alltag teilen.“ 

Sie wolle über jüdischen Humor, jüdische Küche oder die digitale Vernetzung weltweit zerstreuter Familien sprechen.

Das Veranstaltungsjahr 1.700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland war ein wichtiger Schritt. Und ich hoffe, dass dieses Jubiläumsjahr nachhaltig wirkt und mehr Interesse an jüdischem Leben in Deutschland geweckt hat. 

Die nationale Strategie der Bundesregierung vom November 2022 sieht richtigerweise vor: 
„Die Vermittlung jüdischer Gegenwart und Geschichte sollte als eigenständiges Ziel und Thema in den Unterricht aufgenommen werden.“

Auch die heutige Veranstaltung über die Erfahrungen von drei Generationen soll unsere Wahrnehmung erweitern.   

Nach der Shoa schien es unvorstellbar, dass Deutschland, das Land der Täter, für Jüdinnen und Juden jemals wieder zur Heimat werden könnte.

Aber es gab sie: die Jüdinnen und Juden, die nach der Shoa in Deutschland lebten. Von dieser ersten Generation und dem Gefühl, auf gepackten Koffern zu leben, war vorhin schon die Rede. 

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

Ende der 1980er Jahre zählten die jüdischen Gemeinden in Deutschland knapp 30.000 Mitglieder.  

Die Situation änderte sich durch den Zuzug von Jüdinnen und Juden aus der früheren Sowjetunion ab den 1990er Jahren. Bis 2005 kamen rund 220.000 Menschen als sogenannte Kontingentflüchtlinge nach Deutschland. 

Über die Integration der Jüdinnen und Juden aus der ehemaligen Sowjetunion haben Sie heute hier schon gesprochen. 

Die Schriftstellerin Lena Gorelik sagte in einem Interview über die Demütigungen und Schwierigkeiten dieses Ankommens: 

„Ich konnte spüren, dass die Erwachsenen vollkommen überfordert waren. (….) Es gab keinerlei Hilfestellung. Sie mussten sich alles selbst erobern und waren gleichzeitig an diesem Ort, der sich so gar nicht nach Zuhause anfühlen wollte.“

Deutschland hat es diesen Frauen und Männern nicht immer leicht gemacht. 
Umso mehr freut es mich, dass jene, die als Kinder oder Enkel mit ihren Familien einwanderten, so erfolgreich angekommen sind. 

Heute sind sie Teil unserer Gesellschaft. Sie bringen sich aktiv ein und beziehen Position – wie die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der sich gleich anschließenden Podiumsdiskussion. Ich freue mich, dass Sie alle heute hier sind und uns einen Einblick in das Leben und Empfinden der jungen jüdischen Generation in Deutschland gewähren. Über das neue jüdische Selbstbewusstsein. 

Mit dem Zuzug der Jüdinnen und Juden aus den ehemaligen Sowjet-Republiken ist die jüdische Gemeinde größer, bunter und lebendiger geworden. 

Das vielfältige jüdische Leben in Deutschland ist ein Geschenk, für das ich zutiefst dankbar bin.

Im vergangenen Jahr haben die jüdischen Gemeinden auch viele neue Mitglieder aufgenommen, die vor dem Krieg aus der Ukraine geflohen sind. 
Noch einmal: Jüdisches Leben in Deutschland ist reich und vielseitig. 

Doch wir Nichtjuden wissen immer noch zu wenig über diese Vielfalt und darüber, was jüdische Identität in Deutschland heute ausmacht.  

Es ist wichtig, dass wir ins Gespräch kommen, aufmerksam zuhören, bereit sind, Dinge zu erfahren, die über unsere bisherigen Vorstellungen hinausgehen. 

Wir Abgeordnete können dieses Bewusstsein für das reiche, vielfältige jüdische Leben in unsere Arbeit einfließen lassen, es weitertragen in unsere Wahlkreise und z.B. Begegnungen oder Bildungsinitiativen unterstützen.
Ich danke der Bundeszentrale für politische Bildung und meinen Kollegen Elisabeth Kaiser und Marc Henrichmann für die Initiative zu diesem Gespräch. 

Und ich danke Ihnen allen noch einmal herzlich, dass Sie Ihre Erfahrungen, Beobachtungen und Gedanken heute in diesem Kreis diskutieren. 

Ich wünsche Ihnen auch für den zweiten Teil bereichernde Diskussionen!

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