Rede von Bundestagspräsidentin Bärbel Bas zur Lesung mit Marlen Hobrack „Klassenbeste. Wie Herkunft unsere Gesellschaft spaltet“
Sehr geehrte Frau Hobrack,
liebe Kolleginnen und Kollegen,
sehr geehrte Damen und Herren,
„Herkunft kann eine wärmende Decke sein“, schreiben Sie in Ihrem Buch,
liebe Frau Hobrack.
Zugleich sei Herkunft eine Art „Reisegepäck“.
Manche sind schon beim Start hervorragend ausgestattet.
Sogar mit Sherpas, die ihnen den Weg bahnen.
Andere müssen ihr Gepäck alleine tragen.
Und haben Steine statt Proviant im Rucksack.
Das sind starke Bilder, die Sie uns mit auf den Weg geben, liebe Frau Hobrack.
Ihre scharfsinnigen gesellschaftspolitischen Beobachtungen haben mich persönlich berührt.
Umso mehr freue ich mich, dass wir die Tradition der Lesungen in der Bundestagsbibliothek mit Ihrem Buch fortsetzen.
Herkunft betrifft uns alle.
Sie prägt jeden Menschen.
Sie legt das Fundament fürs Leben.
Herkunft stiftet Identität.
Und Zugehörigkeitsgefühl.
Herkunft kann aber auch ausgrenzen.
„Du gehörst nicht dazu!“
Dieser Satz tut weh.
Ob direkt ausgesprochen oder wortlos vermittelt.
Auf dem Schulhof.
Bei der Suche nach einem Arbeitsplatz oder einer Wohnung.
Auf dem Sozialamt.
Wer sich fehl am Platz fühlt, ist verletzt. Besonders verletzlich sind Kinder
und Jugendliche.
Liebe Frau Hobrack,
Sie kennen dieses Gefühl.
Sie schildern Ihre Kindheits- und Jugenderfahrungen in Ihrem Buch. Stellvertretend für viele Kinder.
Ich bin mit ähnlichen Erfahrungen aufgewachsen.
Auch ich komme aus einer Arbeiterfamilie.
Mit 5 Geschwistern.
Auch ich wollte dazugehören.
Aber es war hart –
auch bei vermeintlich kleinen Dingen,
zum Beispiel, wenn die Turnschuhe nur zwei statt drei Streifen hatten.
Besonders berührt haben mich Ihre Teenager-Erfahrungen, als Sie ausgegrenzt und geschnitten wurden.
Lange Zeit haben Sie sich geweigert,
die Schule zu besuchen.
Und das als hochbegabtes, wissbegieriges Kind!
„Wenn ein Kind die Schule verweigert, dann verweigert es nicht das Lernen.
Es verweigert sich der Gesellschaft“
– schreiben Sie rückblickend.
Ihre Analyse muss uns aufrütteln.
Nicht das Kind ist das Problem.
Sondern die Gesellschaft, die diesem Kind seine Entwicklung nicht ermöglicht.
Dreh- und Angelpunkt ist unser Bildungssystem.
Nach wie vor gilt: Wie stark ein Kind gefördert wird, hängt entscheidend von der Schule ab.
Und vor allem davon,
wie hoch der Bildungsstatus und wie dick der Geldbeutel seiner Eltern sind.
Die sozialen Ungleichheiten dividieren die Kinder und die Gesellschaft auseinander.
Junge Menschen aus Nicht-Akademiker-Familien brauchen oft Unterstützung von außen.
Ich habe auf meinem Bildungsweg das Glück gehabt, dass immer jemand meine Potenziale gesehen und mich ermuntert hat.
Aufstieg darf aber keine Ausnahme sein.
Keine Frage des Zufalls.
Oder des Glücks.
Aufstieg muss jedem Kind offenstehen.
Das ist eine Frage der sozialen Gerechtigkeit.
Und eine Frage unserer Zukunftsfähigkeit.
Wir können es uns gerade in Zeiten von Fachkräftemangel gar nicht leisten,
die Potenziale vieler Kinder zu vergeuden.
Unser Bildungssystem ist zu wenig durchlässig. Das bestätigt der aktuelle Chancenmonitor.
Nur etwa ein Fünftel der Kinder mit einem alleinerziehenden Elternteil mit niedrigem Einkommen und mit Migrationshintergrund hat die Chance, aufs Gymnasium zu gehen.
Liebe Frau Hobrack,
die stille Heldin Ihres Buches ist Ihre Mutter. Ihre Lebensleistung schildern Sie einfühlsam
und mit großem Respekt.
Am Beispiel Ihrer Mutter zeigen Sie das harte Leben einer Arbeiterin;
einer Frau, die sich hochgearbeitet hat –
und trotzdem in der Armutsfalle gelandet ist.
Eine Mutter, die bis zur Erschöpfung für den Bildungsaufstieg ihrer Kinder gearbeitet hat.
Und deshalb weder Zeit noch Kraft hatte,
den Kindern vorzulesen oder bei Hausaufgaben
zu helfen.
Eine „Fallschirmmutter“ – wie Sie sie nennen.
Im Katastrophenfall immer bereit,
ihre Kinder aufzufangen.
Die sie ansonsten zur Selbstständigkeit erzieht.
Der Lebensweg Ihrer Mutter ist exemplarisch. Sie ziehen daraus aufschlussreiche Folgerungen.
Wir werden gleich darüber sprechen.
Liebe Frau Hobrack,
was ich an Ihrem Buch besonders schätze,
ist Ihre differenzierte Sicht.
Immer wieder wechseln Sie die Perspektive, beleuchten Probleme aus verschiedenen Blickwinkeln.
Oder – wie Sie sagen – setzen eine andere Brille auf, um die Wirklichkeit neu zu betrachten.
Da ist die Feministinnen-Brille
und die Alleinerziehenden-Brille,
die Ost-Brille und die West-Brille,
die Arbeiterklassen-Brille
oder die Intellektuellen-Brille.
Bequemes Schwarz-Weiß-Sehen ist in jedem Fall nicht Ihre Sache.
Sie haben den Mut,
sich zwischen alle Stühle zu setzen.
So regen Sie Debatten an.
Dafür danke ich Ihnen.
Ich freue mich auf Ihre Lesung
und auf das Gespräch danach!
Sie haben das Wort.