Festrede von Bundestagspräsidentin Bärbel Bas zur Preisverleihung der FES „Das politische Buch“ in der Friedrichstadtkirche zum 90. Jahrestag der Bücherverbrennung
Sehr geehrte Frau Atai,
lieber Martin Schulz,
sehr geehrter Herr Stephan,
sehr geehrte Damen und Herren,
heute vor 90 Jahren, am 10. Mai 1933, verbrannten die Nationalsozialisten mitten
in Berlin rund 20.000 Bücher.
Auf dem damaligen Opernplatz,
nur wenige Schritte von hier entfernt.
Zehntausende Schaulustige nahmen an diesem schaurigen Spektakel teil.
Professoren in Talaren und Studenten
in SA-Uniformen begleiteten mit Fackeln
die Lastwagen voller verstoßener Bücher.
Der Rundfunk berichtete live.
„Begräbniswetter hing über der Stadt“,
beschrieb Erich Kästner die Atmosphäre.
Er hatte sich unter die fanatisierte Menschenmenge gemischt.
Mit eigenen Augen wollte er mitansehen,
wie auch seine Werke angezündet wurden.
Es regnete in Strömen.
Der Scheiterhaufen wollte nicht brennen.
Die Feuerwehr half mit Benzinkanistern nach.
Ausgerechnet die Feuerwehr!
Es war der Höhepunkt der so genannten
„Aktion wider den undeutschen Geist“.
Jüdische, linke, liberale, freigeistige oder regimekritische Stimmen
– sie alle sollten zum Schweigen gebracht werden.
Schon Wochen zuvor wurden „schwarze Listen“ erstellt.
Mit Namen von Autorinnen und Autoren.
Aus Politik, Wissenschaft und Literatur. Darunter viele Geistesgrößen,
die wir heute bewundern.
Und die auch damals bewundert wurden.
Für immer verschwinden sollten die Werke
von August Bebel oder Walter Rathenau,
Albert Einstein oder Sigmund Freud,
Anna Seghers oder Melanie Klein,
Berthold Brecht oder Alfred Döblin,
Else Lasker-Schüler oder Hilde Marx,
Stefan Zweig oder Erich Maria Remarque,
Heinrich Mann oder Kurt Tucholsky.
Um nur einige zu nennen.
Bis Oktober 1933 brannten noch viele weitere Scheiterhaufen mit Büchern und Zeitschriften.
In mehr als 90 Städten.
Die schwarzen Listen wurden kontinuierlich erweitert.
Bis 1939 wurden 565 Gesamtwerke verboten.
Und mehr als 4.000 Einzeltitel zum „schädlichen und unerwünschten Schrifttum“ gezählt.
Eine kulturelle Barbarei.
Mit verheerenden Folgen.
Hunderttausende verließen Deutschland
– die intellektuelle Elite des Landes.
Insbesondere deutsche Jüdinnen und Juden.
Mehr als 2.000 Schriftstellerinnen
und Schriftsteller gingen ins Exil.
Andere verloren ihre berufliche Existenz, wurden verhaftet, ins KZ gebracht, ermordet.
Wie konnte das im so genannten Land der Dichter und Denker geschehen?
Das fragen wir uns bis heute.
Was mich immer schon besonders erschüttert hat: Es war die deutsche Studentenschaft,
die diese Aktion landesweit initiierte.
Viele junge Menschen machten mit echter Begeisterung mit.
Unterstützt von Dozenten und Professoren.
Buchläden und Bibliotheken beteiligten sich eifrig an der Verfolgung der denunzierten Schriftstellerinnen und Schriftsteller.
Auch der Börsenverein des Deutschen Buchhandels machte aktiv mit.
Wirtschaftliche Erwägungen spielten dabei sicher eine Rolle.
Und die Erwartung, von den neuen Machtverhältnissen unter den Nationalsozialisten profitieren zu können.
Viele machten sich schuldig, auch wenn sie nicht selbst an den Scheiterhaufen standen und Bücher ins Feuer warfen.
Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Genossinnen und Genossen,
„Das Gedächtnis der Menschen ist so furchtbar kurz“ – schrieb Bertha von Suttner
in ihren Erinnerungen.
Die erste Friedensnobelpreisträgerin gehörte
zu den posthum verfemten Schriftstellerinnen.
Die Verbrennung ihres berühmten Romans „Die Waffen nieder!“ musste sie nicht mehr erleben.
Ihr Zitat muss uns aber eine Mahnung bleiben:
Wir müssen die Erinnerung intensiv pflegen, weil das Gedächtnis der Menschen so kurz ist.
Deshalb begehen wir den 10. Mai traditionell
als den „Tag des Buches“.
Als einen Tag, an dem wir die Freiheit
des Wortes feiern.
Weil wir wissen, wie kostbar
und wie zerbrechlich sie ist.
Weil wir wissen, dass Rechtstaatlichkeit
und Demokratie nur mit der Freiheit des Wortes möglich sind.
Weil wir sehen, dass diese Freiheit in vielen Ländern bedroht ist.
Tendenz: Leider steigend.
Auch im 21. Jahrhundert.
Zum Beispiel im Iran.
Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Genossinnen und Genossen,
wir brauchen Bücher, die unser Bewusstsein
für gesellschaftliche und politische Realitäten schärfen.
Die uns über den Tellerrand schauen lassen.
Die uns aufrütteln und wachhalten.
Die uns zeigen, wie wichtig die Freiheit
des Wortes ist.
„Die Freiheit ist weiblich“ von Golineh Atai
ist so ein Buch.
Liebe Frau Atai,
ich freue mich sehr, dass Sie hier sind.
Und ich gratuliere Ihnen herzlich zum Preis der Friedrich-Ebert-Stiftung für das politische Buch!
Sie beschreiben den mutigen Kampf iranischer Frauen gegen die systematische Unterdrückung und Diskriminierung.
Im Alltag und im Beruf,
in der Familie und in der Öffentlichkeit.
Einen Kampf, den die Frauen im Iran seit
über vierzig Jahren führen.
In dritter Generation.
„Die Freiheit der Frau ist die Freiheit der Gesellschaft“
– das war 1979 der Leitsatz
der Iranerinnen.
Schon damals protestierten sie gegen ihre Entrechtung nach der islamischen Revolution.
Weil sie über Nacht zu Bürgerinnen zweiter Klasse gemacht wurden.
Zu Bürgerinnen, die ohne Erlaubnis ihres Vaters oder ihres Mannes nicht ausreisen dürfen.
Zu Bürgerinnen, deren Zeugnis vor Gericht nur halb so viel zählt wie das eines Mannes.
Und die für den gleichen Schaden nur die Hälfte an Schadenersatz erhalten.
Zu Bürgerinnen, die sich nur mit Zustimmung des Mannes scheiden lassen können.
Und dann das Sorgerecht für ihre Kinder verlieren.
Zu Bürgerinnen, die Kleidungsvorschriften penibel einhalten oder drakonische Strafen fürchten müssen.
Man muss sich das wirklich vorstellen:
30 Institutionen befassen sich im Iran mit dem Schleier der Frauen,
wie jüngst in der FAZ zu lesen war!
Was bei uns hier in der Friedrichsstadtkirche Kopfschütteln auslöst,
bestimmt das Leben der Frauen im Iran.
Es ist ihr bitterer und brutaler Alltag als Bürgerinnen zweiter Klasse.
Warum ist die Kontrolle über den weiblichen Körper für die Mullahs so wichtig?
Fatemeh Seperi, eine der Heldinnen in „Die Freiheit ist weiblich“ bringt es auf den Punkt:
Im Iran seien Frauen stärker als Männer.
Zitat: „Die Herrschenden haben das in Gänze verstanden. Deshalb unterdrücken sie uns.“
Das sagt eine gläubige Muslimin,
die aus Überzeugung ihren Tschador trägt.
Und gleichzeitig für die Entscheidungsfreiheit von Frauen kämpft, Kopftuch zu tragen.
Oder eben nicht.
Was Mut macht: Sie ist nicht alleine.
Ein Video sorgte in den sozialen Medien im Oktober für Aufsehen:
Eine Frau im Tschador schreibt auf eine Mauer die Protestlosung: „Frau, Leben, Freiheit“.
Und eine weibliche Stimme sagt im Hintergrund:
„Wir verschleierten Frauen unterstützen Frau, Leben, Freiheit.“ Zitatende.
Die Menschen im Iran haben mehr als genug davon, dass Frauen für die Frage des Kopftuches sogar ihr Leben lassen müssen.
Frauen wie Masha Jina Amini.
Es war diese junge Frau, die im vergangenen Herbst von der Sittenpolizei in Teheran festgenommen wurde.
Weil ihr Kopftuch angeblich zu locker saß!
Direkt aus dem Gefängnis landete sie im Krankenhaus und starb an den Folgen einer Kopfverletzung.
Ihr Tod löste eine gewaltige Protestwelle aus,
die auch bei uns spürbar ist.
Parteiübergreifend haben viele Abgeordnete politische Patenschaften für iranische Gefangene übernommen.
Als Bundestagsabgeordnete setze ich mich zum Beispiel für die Freilassung der Frauenrechtlerin Nahid Taghavi ein.
Liebe Frau Atai,
alle Heldinnen Ihres Buches sind außergewöhnliche, mutige und würdevolle Frauen mit dramatischen Lebensgeschichten.
Aus verschiedenen Generationen, Milieus
und Provinzen Irans.
Sie alle eint der Wunsch nach Freiheit
und Selbstbestimmung.
Und die Hoffnung auf eine bessere Zukunft.
Wenn nicht für sich selbst, dann für kommende Generationen.
Da ist Shiva Nazar Ahari, die ihre Schule als Folterort erlebte.
Auch wegen dieser Kindheitserfahrung startete sie die „Eine-Million-Unterschriften-Kampagne“.
Vom Regime zermürbt, musste sie ins Exil.
Da ist Atena Daemi, die als Achtzehnjährige den Namen der griechischen Göttin der Weisheit und des Kampfes annahm.
Sie kämpft gegen die Todesstrafe.
Auch aus dem Gefängnis heraus.
Nach China ist der Iran das Land mit den meisten Hinrichtungen weltweit.
Unsere Öffentlichkeit bewegt aktuell besonders das Schicksal des Deutsch-Iraners Djamshid Sharmahd, der Ende April zum Tode verurteilt wurde.
Da ist die Mama Schahnaz, die nach dem Tod ihres Sohnes bei einer Demonstration zur Kämpferin für politische Gefangene wurde –
und zur Trösterin für andere Eltern,
die ihre Töchter und Söhne verloren haben.
Weil sie für Freiheit und Recht demonstrierten.
Da ist die Ingenieurin und Journalistin Sahra Rusta, die in der Grenzregion zu Pakistan und Afghanistan Missstände und Korruption aufdeckte und dafür drangsaliert wurde.
Da ist die Frauenrechtlerin und Journalistin Masih Alinejad,
die aus dem Exil für die Gleichberechtigung der Frauen kämpft.
Da ist Asam Dschangrawi, die in der Revolutionsstraße in Teheran auf einen Verteilerkasten stieg, ihr Kopftuch auszog und ihre Haare offen zeigte.
Sie wurde für viele Iranerinnen zum Vorbild.
Für diesen Moment der Freiheit nahm sie Misshandlungen und endlose Verhöre in Kauf.
Und verlor das Sorgerecht für ihre Tochter.
Liebe Frau Atai,
wer Ihr Buch liest, fragt sich:
Wie würde ich an Stelle von Fatemeh,
Shiva oder Atena handeln?
Hätte ich den Mut, die Entschlossenheit
und die Kraft, um zu kämpfen?
Für meine Freiheit ins Gefängnis zu gehen?
Soziale Ächtung, Auspeitschung oder andere physische und psychische Folter zu erdulden?
Meine Heimat und Familie zu verlieren?
Oder gar mein Leben?
Ihr Buch lehrt Demut und Respekt
vor der Stärke der iranischen Frauen.
Ihr Buch lehrt aber auch Dankbarkeit
und Wertschätzung für unsere freiheitliche Demokratie in Deutschland.
Auch heute Abend betone ich daher:
Diese freiheitliche Demokratie ist keine Selbstverständlichkeit.
Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Genossinnen und Genossen,
„Die Freiheit ist weiblich“ ist ein Buch
über die iranische Gesellschaft heute.
Es ist aber auch ein Buch über die historischen Hintergründe, die sie geformt haben.
Über Universitäten, die zu Gefängnissen wurden.
Und über Gefängnisse, die zu Universtäten wurden – wie es im Iran zurzeit heißt.
Über Gewalt und Leid.
Ihr Buch hilft uns, Nachrichten aus dem Iran besser einzuordnen.
Und lässt uns über Widersprüche staunen –
wie zum Beispiel die Tatsache, dass rund zwei Drittel der Studierenden im Iran Frauen sind.
Ein Drittel der Professorenstellen sind von Frauen besetzt.
Wie in Deutschland!
Liebe Frau Atei,
„den Stimmlosen eine Stimme zu verleihen“ – das haben Sie sich zur Aufgabe gemacht.
Und das gelingt Ihnen unglaublich gut.
Sie sind zu einer der wichtigsten Stimmen der Iranerinnen hier in Deutschland geworden!
Herzlichen Dank für Ihr Buch und Ihr Engagement!
Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Genossinnen und Genossen,
„Es gibt keine Befreiung der Menschheit ohne die soziale Unabhängigkeit und Gleichstellung der Geschlechter.“
Das wusste schon August Bebel
im 19. Jahrhundert.
Auch diese Worte wollten die Nationalsozialisten vor 90 Jahren austilgen.
Weil sie wahr sind.
Wo Frauen unterdrückt werden, nimmt die ganze Gesellschaft Schaden.
Das sehen wir im Iran – und werden gleich
in der Diskussion noch mehr darüber erfahren.
Das sehen wir auch in Afghanistan,
wo Frauen und Mädchen keine höhere Schulen und Universitäten mehr besuchen dürfen.
Die Unterdrückung der Frauen ist Gift
für die Entwicklung jeder Gesellschaft.
Ja, die Freiheit ist weiblich.
Nicht, weil Frauen bessere Menschen wären. Sondern, weil sie für ihre Rechte immer
noch kämpfen müssen.
Die Freiheit ist weiblich.
Nicht ohne Grund ist eine Frauengestalt – die Marianne – zum Symbol der Französischen Revolution geworden.
Frauen haben die Demokratiegeschichte Europas aktiv mitgeschrieben.
Allzu oft sind sie dennoch unsichtbar geblieben.
Ich denke dabei auch an die deutsche Revolution von 1848/49,
an die wir in diesem Jahr erinnern.
Zum Beispiel an Emma Herwegh.
Eine frühe Vorkämpferin der Frauenrechtsbewegung.
Oder an Louise Otto-Peters, die schon 1849 das Frauenwahlrecht in Deutschland forderte.
Wirklichkeit geworden ist es erst 1919.
Als Ergebnis des langen Kampfes der Frauenbewegung für echte Gleichstellung.
Gerade mit Blick auf die heutigen Freiheits- und Demokratiebewegungen, lautet die hoffnungsvolle Botschaft von 1848/1849:
Wenn politische Freiheits- und Mitbestimmungsrechte einmal in den Köpfen der Menschen sind, lassen sie sich auf Dauer nicht unterdrücken.
Der Aufbruch zur Freiheit entfaltet unvorstellbare Kraft und Dynamik.
Oder mit den Worten der iranischen Friedensnobelpreisträgerin Shirin Ebadi ausgedrückt:
„Wenn ein Volk bereit ist, mit dem Leben den Preis für Demokratie zu zahlen, dann wird es irgendwann siegen.“
Vielen Dank!