16.06.2023 | Parlament

Rede von Bundestagspräsidentin Bärbel Bas bei der Gedenkstunde des Deutschen Bundestages aus Anlass des 70. Jahrestages des Volksaufstandes in der DDR vom 17. Juni 1953

[Stenografischer Dienst]

Präsidentin Bärbel Bas: 
Sehr geehrter Herr Bundespräsident,
liebe Frau Büdenbender,
Herr Bundeskanzler,
Herr Präsident des Bundesrates,
Herr Präsident des Bundesverfassungsgerichtes,
Exzellenzen,
liebe Kolleginnen und Kollegen,
verehrte Gäste!

Überall in der DDR gingen die Menschen vor 70 Jahren auf die Straße. Sie wollten als freie Bürgerinnen und Bürger leben. Frei von staatlicher Willkür. Frei von ideologischer Verblendung. Selbstbestimmt. 

Die Bundesbeauftragte für die Opfer der SED-Diktatur beim Deutschen Bundestag, Evelyn Zupke, schreibt in ihrem lesenswerten Jahresbericht 2023: „Der 17. Juni steht für den Mut vieler Menschen in der DDR, die gegen das System aufgestanden sind.“ 

Schon am 16. Juni 1953 marschierten mehrere Hundert Bauarbeiterinnen und Bauarbeiter von der Stalinallee in Richtung Brandenburger Tor. Die historischen Aufnahmen zeigen selbstbewusste und beinahe fröhliche Gesichter. Voller Hoffnung und Entschlossenheit. 

„Es wird nicht weitergehen wie bisher. Jetzt beginnt eine neue Zeit!“ - So beschrieb Joachim Gauck die Stimmung damals. Lieber Herr Gauck, ich freue mich sehr, dass Sie heute bei uns sind! 

(Beifall)

Auf der Tribüne begrüße ich auch unseren früheren Bundespräsidenten Horst Köhler 

(Beifall)

und Sabine Bergmann-Pohl, die ehemalige Präsidentin der ersten frei gewählten Volkskammer. 

(Beifall)

Am 17. Juni erfasste die Protestwelle das ganze Land. Rund eine Million Menschen demonstrierten. Aus allen gesellschaftlichen Schichten. Der vermeintliche Arbeiter- und Bauernstaat wollte aber nicht hören, was die Menschen ihm zu sagen hatten. Sowjetische Panzer walzten ihre Erhebung nieder. 

Heute erinnern wir an die Frauen und Männer des 17. Juni. Besonders an die Opfer des Aufstandes und aller Opfer der SED-Diktatur. 

Sehr geehrte Damen und Herren, die Bilder aus Ostberlin gingen um die Welt. Was wenig bekannt ist: Die Unruhen begannen auf dem Land. Bereits am 12. Juni gab es in Hunderten Dörfern Proteste und Widerstandsaktionen. Die Menschen legten in den LPGs die Arbeit nieder. Vielerorts lösten sich landwirtschaftliche Kollektive auf. 

Die Proteste waren Reaktionen auf Pflichtabgaben, Enteignungen und Zwangskollektivierung. Auf willkürliche Gerichtsverfahren und drakonische Strafen. 

Im Frühjahr 1952 wurden rund 345 000 Menschen entlang der innerdeutschen Grenze zwangsweise umgesiedelt. Weil sie als „politisch unsichere Elemente“ galten. Der zynische Tarnname dafür: Aktion „Ungeziefer“. Resigniert oder ruiniert flohen rund 11 000 Bäuerinnen und Bauern in den Westen. Allein 1953! 

Sehr geehrte Damen und Herren, „Wir wollen freie Menschen sein!“, riefen die Ostberliner Arbeiterinnen und Arbeiter am 17. Juni 1953. Ein schlichter Satz. Scheinbar selbstverständlich. Seine Kraft versetzt Diktaturen aber bis heute in Alarmbereitschaft. Diktaturen vertragen keine freien Menschen. Sie brauchen Untertanen, die gehorchen. Das ist der Unterschied zu freiheitlichen Demokratien. 

(Beifall)

Die Demokratie braucht mündige Bürgerinnen und Bürger. Sie lebt von verschiedenen Meinungen. Von Kritik. Und auch von Protest. Der Ruf nach Freiheit und Selbstbestimmung hat die SED-Herrschaft 1953 erschüttert. Bertolt Brecht notierte damals: „Das Volk hat das Vertrauen der Regierung verscherzt. Wäre es da nicht doch einfacher, die Regierung löste das Volk auf und wählte ein anderes?“ 

Versucht hat es die SED. Mit Umerziehung. Mit Propaganda. Mit tiefem Misstrauen und repressiver Überwachung durch den Stasiapparat gegen die eigene Bevölkerung. Sie diffamierte den Aufstand als „faschistischen Putsch“. Die Aufständischen und ihre Familien wurden kriminalisiert. Der SED gelang es, den 17. Juni aus dem öffentlichen Bewusstsein weitgehend zu tilgen. 

Die Bevölkerung hatte ihre bittere Lektion gelernt: „Gegen Panzer hilft keine Zivilcourage.“ So fasste es Richard Schröder zusammen. Die blutig niedergeschlagenen Aufstände in Ungarn, Polen und der Tschechoslowakei bestätigten das.

Die Menschen stimmten mit den Füßen ab. Millionen Deutsche flohen aus der DDR. Bis das Regime sein eigenes Volk 1961 einmauerte, um Flucht zu verhindern. 

Sehr geehrte Damen und Herren, was 1953 mit brachialer Gewalt unterdrückt wurde, fand 1989 eine späte Vollendung - in der friedlichen Revolution. „Wir sind das Volk“ und „Wir sind ein Volk“. Diese Botschaften brachten in beeindruckender Klarheit den Freiheits- und Einheitswillen der Menschen in der DDR zum Ausdruck. 

(Beifall)

Anders als 1953 blieben die sowjetischen Panzer in der Kaserne. Aber auch 1989 war es ein Wagnis, auf die Straße zu gehen. Die Menschen kannten die Bilder vom Platz des Himmlischen Friedens in Peking. Sie haben trotzdem Widerstand geleistet. 

Mutige Frauen und Männer in der DDR haben zwei große Freiheitsbewegungen in Gang gesetzt. Sie haben Demokratiegeschichte geschrieben. Deutsche und europäische Geschichte. Wissen wir das gebührend zu feiern? 

Der 17. Juni 1953 war eine Zäsur. Er eröffnete die Reihe der Freiheitsbewegungen nach dem Zweiten Weltkrieg. Der Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 war der Höhepunkt der friedlichen Revolutionen in Ost- und Mitteleuropa. 

1953 und 1989 gehören zum großen demokratischen Erbe, das die Menschen im Osten unseres Landes errungen haben. Es war ein Kampf, den die Deutschen im Westen nicht führen mussten. 

(Beifall)

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, seit der Wiedervereinigung haben wir die Chance, ein gemeinsames Verständnis dieser Freiheitskämpfe zu entwickeln. Wir sollten diese Chance stärker nutzen. 

Der 17. Juni ist ein Schlüsselereignis der deutschen Geschichte. Trotzdem hat er nicht den Platz in unserem historischen Gedächtnis, den er eigentlich verdient! 

Bis heute fehlt ein zentraler Gedenkort für die Opfer der SED-Diktatur und den Widerstand gegen die kommunistische Gewaltherrschaft. 

(Beifall)

Der Deutsche Bundestag hat die Errichtung eines Mahnmals beschlossen. Jetzt sollten wir es schnell verwirklichen. Das sind wir den Verfolgten schuldig. 

(Beifall)

Ihre Schicksale helfen uns, zu begreifen, wie kostbar unsere Demokratie ist. Ich betone es auch hier: Unsere freiheitliche Demokratie ist keine Selbstverständlichkeit. 

Die Geschichte des 17. Juni braucht Gesichter und lebendige Erzählungen. Ich bin deshalb froh und dankbar, dass gleich vier Zeitzeugen ihre Erinnerungen an den Volksaufstand mit uns teilen werden. 

Auf der Tribüne begrüße ich Karin Sorger, Siegfried Keil und Helfried Dietrich. Seien Sie herzlich willkommen. 

(Beifall)

Ihre Erlebnisse tragen Jugendliche der Berliner Anna-Essinger-Gemeinschaftsschule vor. 

Frank Nemetz spricht selbst. Herr Nemetz, ich danke auch Ihnen sehr herzlich, dass Sie heute hier sind!
(Beifall)
Diese Zeitzeugenberichte stehen stellvertretend für die Generation 1953. 

Liebe Kolleginnen und Kollegen, sehr geehrte Damen und Herren, gegen den Freiheitswillen der Menschen lässt sich auf Dauer kein Staat aufbauen. Dies ist die Botschaft des 17. Juni, und sie bleibt gültig. 

Ich denke dabei auch an die Menschen, die heute in der Ukraine oder im Iran um ihre Freiheit und Selbstbestimmung kämpfen.

(Beifall)

Zugleich führt uns allen der 17. Juni den Wert unseres freiheitlichen und demokratischen Rechtsstaats vor Augen! Diesen Rechtsstaat müssen wir verteidigen und stärken. Für unsere Demokratie und Freiheit.

(Beifall)

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