17.10.2023 | Parlament

Begrüßungsansprache von Bundestagspräsidentin Bärbel Bas zur Eröffnung der Ausstellung „Home Street Home“ im Paul-Löbe-Haus

[Es gilt das gesprochene Wort]

Sehr geehrte Frau Ruppert,
liebe Frau Kollegin Steinmüller,
sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Gäste!

Es gibt ein schönes, eingängiges Lied der Berliner Band „Die Ärzte“ mit dem trügerischen Titel „Ich am Strand“. 
Vielleicht kennen das einige von Ihnen.

Der Song blättert durch das Fotoalbum eines Lebens. 
Er zeigt, was die allermeisten von eigenen Familienfotos kennen: 
als Kleinkind an Mamas Hand, 
der erste Urlaub am Meer, 
mit der ersten Freundin, bei Partys, an der Uni. 

Und dann heißt es plötzlich:
„Ich mit Abschluss, Freude groß
– ich seit einem Jahr arbeitslos
ich mit Antrag auf Hartz IV – hier setzt mein Vermieter mich vor die Tür.“ 
Zitatende.

Der Weg in ein gelingendes Leben bricht ein 
-    und endet schließlich unter der Brücke. 
Alles probiert, doch nichts hat funktioniert. 
Viele denken: „Obdachlos werden – das kann mir nicht passieren.“ 
Oder: „In Deutschland muss doch niemand obdachlos sein.“ 

Mit anderen Worten: Wer auf der Straße lebt, 
ist selbst schuld oder will es gar nicht anders. 

Beides ist falsch.

Wie muss es sein, kein Zuhause zu haben? 
Ich kann mir das nicht vorstellen. 

Und dabei denke ich nicht nur an die Fülle von Problemen, wenn man keine Adresse angeben kann. 
Wie lebt es sich ohne einen sicheren Raum, ohne Rückzugsort, ohne Privatsphäre, ohne Schutz?
Home Street Home ist alles andere als 
Home Sweet Home
Auf der Straße leben heißt für mehr als zwei drittel der Betroffenen: Gewalt erfahren.  

Die Wohnung zu verlieren – das kann jede und jeden treffen. 
Wenn man seine Miete nicht mehr zahlen kann. Wenn Jobverlust, Krankheit, Trennung oder andere Schicksalsschläge nicht schon schlimm genug sind. 
Und man sich hilflos, ohnmächtig und allein fühlt.

Wohnungslos ist nicht gleich obdachlos. 
Die meisten Betroffenen versuchen, 
irgendwo bei Verwandten oder Bekannten unterzukommen. 
Oder sie leben übergangsweise in Unterkünften, die Kommunen oder Organisationen der freien Wohlfahrtspflege stellen. 

Vor einem Jahr sind im Auftrag der Bundesregierung erstmals bundesweit repräsentative Zahlen erhoben worden: 
Mehr als 260.000 Menschen in Deutschland haben keine feste, eigene Wohnung. 
Ein Teil von ihnen – etwa 37.000 Menschen – leben auf der Straße. 
Vor allem in großen Städten wie hier in Berlin.  

Sie begegnen uns auf der Straße oder in der U-Bahn.  
Sie prägen das Bild, das sich Nichtbetroffene von Obdachlosen machen. 
Dieses Bild ist meist verzerrt, 
oft auch abwertend oder zynisch. 

Es spiegelt die eigenen Vorurteile wider; 
begründet Abwehr, Hilflosigkeit und Ignoranz.

Die Arbeiten der Fotografin Debora Ruppert setzen diesen Vorurteilen etwas entgegen. 
Deshalb finde ich sie so wichtig. 

Sie machen die Menschen hinter den Zerrbildern sichtbar. 
Und wer sichtbar wird, den übersehen wir schwerer.

Liebe Frau Ruppert, 
Ihnen gelingt es in beeindruckender Weise, Geschichten zu erzählen. 
Das hat mindestens so viel mit künstlerischem Handwerk zu tun, wie mit der Fähigkeit zuzuhören und Vertrauen aufzubauen. 
Dafür sage ich: Danke!

Die Frauen und Männer in Ihren Porträts gewähren Einblicke in ihr Leben und ihre ganz persönliche Situation. 
Es sind individuelle Lebenswege von 
18 Menschen – die eines eint: 
Sie haben aus der Wohnungslosigkeit heraus in ein eigenes Zuhause gefunden. 

Weil sie Unterstützung gefunden haben. 
Bei Ämtern, bei Hilfseinrichtungen, 
bei Menschen, die sie nicht verurteilt, 
sondern ihnen zugehört haben. 

Ich freue mich sehr, dass einige der Porträtierten heute hier sind. 
Ihnen allen ein besonders herzliches Willkommen! 
Ich danke Ihnen für Ihr Kommen und Ihre  Offenheit.  

Und ich würde mir wünschen, dass Ihre Erfahrungen andere Betroffene ermutigen, 
sich auch Hilfe zu suchen. 

Denn auch das geht aus dem erwähnten Wohnungslosenbericht hervor: 
Fast die Hälfte der wohnungslosen Menschen hat sich keine Unterstützung gesucht als der Wohnungsverlust drohte. 
Gründe nennt der Bericht leider nicht. 
Ist es Scham? Angst? Vielleicht Überforderung mit der sozialstaatlichen Verwaltung? 
Das lässt sich nur vermuten. 

Eine erfahrene Jobcenter-Mitarbeiterin hat in diesem Zusammenhang mal vom „Zerbrechen am Sozialsystem“ gesprochen.  

Das wirft die Frage auf: 
Wie können wir dafür sorgen, dass unser Sozialstaat diese Menschen auch wirklich erreicht, die ihn am dringendsten brauchen?

Wohnungslosigkeit ist nicht nur ein persönliches Problem der Betroffenen. 
Sie hat strukturelle und soziale Ursachen
 – nicht zuletzt den Wohnungsmangel, der weit oben auf unserer Tagesordnung steht.  
Es ist eine Aufgabe, die wir als Politikerinnen und Politiker jetzt lösen müssen. 
Auch deshalb ist der Deutsche Bundestag genau der richtige Ort für diese Ausstellung!

Liebe Frau Ruppert, 
liebe Frau Kollegin Steinmüller, 
ich danke Ihnen für Ihr Engagement! 

Mein Dank gilt darüber hinaus allen, die diese Ausstellung hier im Haus ermöglicht haben. 

Ich wünsche dieser Ausstellung viele Besucherinnen und Besucher
– und auch viele Abgeordnete, die sich von den persönlichen Lebensgeschichten zum Nachdenken anregen lassen - über Vorurteile, Empathie und Lösungen.   
Wer möchte, kann seine Gedanken, Gefühle und guten Wünsche auch direkt den Betreffenden zukommen lassen. 
Zur Ausstellung gehört ein Postkasten, in den Nachrichten an die Porträtierten eingeworfen werden können. 

Frau Kollegin Steinmüller, 
Ihnen verdanken wir die Initiative zu dieser Ausstellung im Deutschen Bundestag. 
Dafür sage ich vielen Dank.

Sie haben das Wort.

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