18.10.2023 | Parlament

Laudatio von Bundestagspräsidentin Bärbel Bas auf Daniel Libeskind zur Verleihung des Europäischen Bürgerrechtspreises der Sinti und Roma

[Es gilt das gesprochene Wort]

Sehr geehrter Herr Rose,
sehr geehrter Herr Bundespräsident Köhler, 
Exzellenzen,
sehr geehrter Herr Dr. Lautenschläger,
sehr geehrter Herr Professor Libeskind, 
sehr geehrte Damen und Herren, 

vielen Dank für die freundliche Begrüßung.  
Lassen Sie mich zu Beginn meiner Laudatio bei dieser würdigen Preisverleihung betonen: 
Wir alle sind seit Tagen erschüttert vom Hamas-Terror – und in Gedanken bei den Menschen in Israel.  
Der Deutsche Bundestag hat diese  menschenverachtenden Verbrechen einstimmig auf das Schärfste verurteilt. 
Wir stehen mit voller und uneingeschränkter Solidarität an der Seite Israels.  

Und wir akzeptieren keinerlei Unterstützung, Verherrlichung oder Relativierung dieses Terrors bei uns in Deutschland. 

In diesen dunklen Tagen sind unsere Gedanken bei den Angehörigen aller Opfer, 
den Verletzten und den verschleppten Geiseln. 
Auch bei den Opfern des Al-Ahli-Krankenhauses.

Wir brauchen jetzt mehr denn je bei uns in Deutschland einen gemeinsamen Schulterschluss gegen Antisemitismus, Rassismus und Menschenfeindlichkeit. 

Das gehört zur Verantwortung für unsere Geschichte. 

Lieber Daniel Libeskind,
Sie haben einmal gesagt: 
„Die Erinnerung ist der Schlüssel zu meiner gesamten Arbeit.“  
Zitatende

Die Beschäftigung mit dem Holocaust zieht sich wie ein roter Faden durch Ihr künstlerisches Schaffen.

Der Holocaust hat Ihre Familie auf furchtbare Weise getroffen. 
Viele Ihrer Verwandten wurden von den Nationalsozialisten ermordet. 
Ihre Eltern entkamen den Deutschen nur durch eine entbehrungsreiche Flucht. 

Trotz dieser schmerzhaften Vergangenheit 
haben Sie viele Jahre in Deutschland gelebt 
und gewirkt. 

Das war und ist ein großes Glück für unser Land. 
Ihre Bauten sind Höhepunkte der Architektur in Deutschland. 

Ich denke an das Jüdische Museum in Berlin, das Felix-Nussbaum-Haus in Osnabrück oder das Militärhistorische Museum in Dresden. 
Um nur einige Beispiel zu nennen. 

Als Architekt haben Sie eine einmalige Formensprache der Erinnerung geschaffen. 

Insbesondere in den von Ihnen entworfenen Denkmälern wird die Erinnerung an den nationalsozialistischen Terror und ihre Opfer zu einer körperlichen Erfahrung. 

Wer das Holocaust-Denkmal in Amsterdam besucht, bekommt davon einen Eindruck. 
Man verliert sich scheinbar in einem steinernen Labyrinth. 

Und läuft vorbei an den Namen von 102.000 niederländischen Jüdinnen und Juden sowie  202 Sinti und Sintize, 
Roma und Romnja. 

Die Namen derer, die von den Nationalsozialisten während der deutschen Besatzung ermordet wurden. 

Erst aus der Vogelperspektive ergeben die Steine eine Form. 
Sie bilden vier hebräische Buchstaben. 
Sie bedeuten: in Erinnerung.

Lieber Daniel Libeskind, 
auch in Ottawa und Auschwitz haben Sie Denkmäler geschaffen, die an den Holocaust an den europäischen Juden erinnern – und an den Völkermord an den Sinti und Roma. 

Sie stellen sich mit Ihrem Werk diesem Vergessen entgegen. 
Und Sie bringen sich auch als engagierter Intellektueller in die öffentlich Debatte ein. 

Wir sind heute hier zusammengekommen, um Ihnen für Ihr Engagement zu danken. 

Sehr geehrte Damen und Herren, 
der Völkermord an den Sinti und Roma wurde nach dem Krieg nicht einfach „vergessen“. 
Er wurde ignoriert und verleugnet. 
In beiden Teilen Deutschlands. 

Schlimmer noch: Die Verfolgung der Sinti und Roma wurde zum Teil sogar als „gerechtfertigt“ dargestellt. 
Ihrem angeblichen Lebenswandel angelastet. 

Die Überlebenden wurden weiter stigmatisiert und gesellschaftlich an den Rand gedrängt. 

Sehr geehrter Herr Pfeil, 
Sie sind im Konzentrationslager Lublin geboren. 
Mit viel Glück überlebte Ihre Familie, 
doch nach der Befreiung wurden Sie weiter ausgegrenzt und diskriminiert. 

Als Repräsentantin des heutigen Deutschlands sage ich: Das beschämt mich zutiefst. 

Im Laufe Ihres Lebens mussten Sie immer Anfeindungen erleben.   
Dennoch haben Sie den Glauben an Deutschland nicht verloren. 

Sie machen sich für Demokratie und gegen Antiziganismus stark. 

Dafür danke ich Ihnen aus ganzem Herzen.

Meine Damen und Herren, 
erst nach Jahrzehnten haben die verfolgten und ermordeten Sinti und Roma einen Platz in unserer Erinnerungskultur bekommen. 

Dank des Kampfes von Überlebenden für ihre Rechte. 
Dank des Kampfes von Bürgerrechtlern wie Romani Rose. 
Und von Unterstützern wie Manfred Lautenschläger. 

Sehr geehrter Herr Rose, 
sehr geehrter Herr Lautenschläger, 
herzlichen Dank für Ihren jahrzehntelangen Einsatz für Menschen- und Bürgerrechte. 

In Ihrem Kampf um Anerkennung konnten Sinti und Roma auf die Solidarität einer Gruppe besonders zählen: auf jüdische Holocaust-Überlebende und ihre Nachfahren.
Auf Menschen wie Daniel Libeskind. 
Und Menschen wie Franz und Petra Michalsky. 

Sehr geehrte Frau Michalsky, sehr geehrter Herr Michalsky,  
ich freue mich, dass Sie heute hier sind. 
Auch Ihnen danke für Ihren Einsatz für unsere Erinnerungskultur. 

Juden und Sinti und Roma wurde von den Nationalsozialisten aus demselben rassischen Hass verfolgt. 
Sie eint ein gemeinsames Wissen: 
Wenn sich Hass gegen eine Minderheit richtet, sind auch andere Minderheiten nicht sicher. 

Meine Damen und Herren, 
es bestürzt mich sehr, dass auch heute in Deutschland Antiziganismus und Antisemitismus ungehemmt gezeigt werden – 
in den sozialen Netzwerken oder auf der Straße. 

Vor Kurzem ließ der Bericht der Meldestelle für Antiziganismus aufhorchen. 
Der Bericht schildert in großer Zahl Fälle von Diskriminierung, Hass und sogar Gewalt gegen Sinti und Roma.  

Auch in Behörden und staatlichen Stellen finden sich antiziganistische Denk- und Verhaltensweisen.  
Das ist völlig inakzeptabel
– und muss Konsequenzen haben. 

Wir müssen uns Antiziganismus entgegenstellen – genauso wie Antisemitismus und jeder Form von Menschenverachtung. 

Wir alle sind gefordert: die Politik, die Zivilgesellschaft, jede und jeder Einzelne. 

Eine freie Gesellschaft kann es nur geben, 
wenn Minderheiten sicher und anerkannt sind. Wenn die Würde jedes Menschen unantastbar ist. 

Wir müssen ankämpfen gegen die Vorurteile, 
die noch immer das Bild von Sinti und Roma verzerren. 

Wir brauchen mehr Aufklärung und mehr unvoreingenommenes Interesse für die Kultur der Sinti und Roma. 

Anlässlich des Gedenktags an die Opfer des Nationalsozialismus 2011 sprach Zoni Weiss vor dem Bundestag vom „vergessenen Holocaust“. 

Ich wünschte, es hätte seitdem ein Bewusstseinswandel eingesetzt. 

Doch jüngste Befragungen zeigen: 
Noch immer wissen nur wenige Menschen, 
dass Sinti und Roma im Nationalsozialismus systematisch verfolgt und ermordet wurden. 

Gleichzeitig behaupten viele Menschen in Deutschland, unser Land hätte sich genug mit der Geschichte auseinandergesetzt. 

Zum Teil spricht daraus eine bewusste Ablehnung unserer Erinnerungskultur. 
Das beunruhigt mich sehr. 

Schlimmer noch: 
Es gibt politische Kräfte, die derartige Einstellungen verstärken. 

Die einen Schlussstrich fordern. 
Verdeckt – oder sogar offen. 

Klar ist für mich: 
Nur wer sich glaubwürdig zur Erinnerungskultur bekennt, kann in unserem Land politische Verantwortung übernehmen. 

Das sind wir den Opfern des Nationalsozialismus schuldig. 
Ich zitiere noch einmal Daniel Libeskind: 
„Die Erinnerung ist keine Sache, die wir irgendwann als abgeschlossen betrachten können, sie bleibt eine lebenslange, ja eine ewige Aufgabe.“ 

Lieber Daniel Libeskind, 
ich danke Ihnen für diese klaren Worte. 

Und ich gratuliere Ihnen zum Europäischen Bürgerrechtspreis der Sinti und Roma. 

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