Festrede von Bundestagspräsidentin Bärbel Bas zum 30. Jubiläum der Thüringer Verfassung auf der Wartburg bei Eisenach
[Es gilt das gesprochene Wort]
Sehr geehrter Herr Ministerpräsident,
sehr geehrte Frau Landtagspräsidentin,
sehr geehrter Herr Präsident des Thüringer Verfassungsgerichtshofs,
sehr geehrter Herr Professor Dr. Vogel,
sehr geehrte Frau Lieberknecht,
sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen Abgeordnete aus dem Bundestag und den Landtagen,
sehr geehrte Thüringerinnen und Thüringer,
sehr geehrte Damen und Herren,
„Sich eine Verfassung zu geben, meine Damen und Herren, zählt zu den vornehmsten Rechten eines freien Gemeinwesens. Wegbereiter dieser Verfassung waren die Menschen, die mit viel persönlichem Mut im Herzen und mit Kerzen in den Händen im Herbst 1989 auf die Straße gingen.“
Lieber Herr Professor Dr. Vogel – das waren Ihre Worte als Ministerpräsident vor genau 30 Jahren.
Wir feiern heute mehr als einen klugen Verfassungstext.
Wir feiern die Menschen, die dieser Verfassung den Weg bereitet haben.
Wir feiern Thüringens demokratisches Erbe.
Die Verfassungstradition und die Demokratie haben hier in Thüringen eine lange Geschichte. Eine bewegte und bewegende Geschichte.
Vor über hundert Jahren – im Jahr 1921 - gab sich Thüringen zum ersten Mal eine Verfassung.
1933 wurden die Länder gleichgeschaltet – und die Landtage aufgelöst.
Nach dem 2. Weltkrieg setzten die US-Behörden Hermann Brill als Regierungspräsidenten ein.
Die sowjetischen Besatzer setzten ihn nach wenigen Wochen wieder ab.
Brill brachte seine demokratischen Ideen dann als Vertreter Hessens in den Verfassungskonvent von Herrenchiemsee ein.
In der DDR fielen die Länder 1952 mit der Aufteilung in Bezirke erneut dem Zentralismus zum Opfer.
Demokratische Ideen und der Wunsch nach Freiheit lassen sich aber nicht einfach auflösen.
Das Streben der Menschen nach Freiheit und Demokratie lässt sich zwar unterdrücken - zerstören lässt es sich nicht.
Demokratische Überzeugungen leben weiter.
Das zeigten die Menschen in der DDR am 17. Juni 1953 eindrucksvoll.
In diesem Jahr haben wir mit einer Gedenkstunde im Deutschen Bundestag an den Volksaufstand vor 70 Jahren erinnert.
Überall in der DDR gingen die Menschen damals auf die Straße.
Nicht nur in Berlin.
Menschen aus allen Schichten erhoben sich für Freiheit und Selbstbestimmung.
Auch an vielen größeren und kleineren Orten in Thüringen.
So marschierten Bauern in einem Sternmarsch von den umliegenden Dörfern auf Mühlhausen.
In Sömmerda protestierten Tausende Menschen.
Bei Carl-Zeiss Jena wurde ein Streik-Komitee gebildet.
Die SED schlug die Demonstrationen mithilfe des sowjetischen Militärs brutal nieder.
In den folgenden Jahrzehnten wurde auch die Erinnerung an den Aufstand unterdrückt.
Erst 1989/90 konnten mutige Frauen und Männer in Ostdeutschland vollenden,
was 1953 noch niedergewalzt wurde.
Es ist mir wichtig, auch heute daran zu erinnern:
Ostdeutsche haben im vergangenen Jahrhundert als Wegbereiter gleich zwei große Freiheitsbewegungen in Gang gesetzt.
1953 und 1989 sind wichtige Teile unseres gesamtdeutschen demokratischen Erbes.
Wir sollten uns dieses Erbe häufiger ins Gedächtnis rufen, wenn wir heute über den Zustand unserer Demokratie debattieren.
Zu unserem demokratischen Erbe gehört auch der Verfassungsgebungsprozess in Thüringen.
Ein gelungenes Beispiel für konstruktive Kompromissbereitschaft.
Und für die erfolgreiche Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern.
Geprägt von dem Wunsch, dieses Mal Freiheit und Demokratie in Thüringen fest zu verankern.
Aus den fünf Verfassungsentwürfen der Fraktionen erstellte der Verfassungs- und Geschäftsordnungsausschuss einen Entwurf und bat die Thüringerinnen und Thüringer um Stellungnahme. Und das taten sie auch.
Eine breite öffentliche Diskussion setzte ein - und entwickelte sich zu einem Paradebeispiel für lebendige Demokratie.
Der Ausschuss hörte die Bürgerinnen und Bürger an, diskutierte jeden Vorschlag – und passte den Verfassungsentwurf an.
70 % der Bevölkerung stimmten 1994 in einem Volksentscheid für ihre Verfassung.
In den folgenden Jahren hat sich die Thüringer Verfassung als weitsichtig bewährt.
Schon die Präambel zeugt von Bewusstsein für die eigene Geschichte und Identität.
Sie zeugt von Verantwortungsbereitschaft für ein soziales und gerechtes Miteinander sowie für die Aufgaben unserer Gesellschaft.
Sehr geehrte Damen und Herren,
wir begehen das 30. Jubiläum Ihrer Landesverfassung in einer „Zeit der Unsicherheit“.
Der widerwärtige Terror der Hamas gegen die Menschen in Israel, der die Gefahr eines Flächenbrands birgt. Und auf unseren Straßen und im Netz auch noch verherrlicht wird.
Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine,
der Klimawandel und die Transformation,
Digitalisierung und künstliche Intelligenz,
die Migrationsbewegungen.
Wir erleben Umwälzungen und stehen vor großen Aufgaben.
Diese Herausforderungen machen vielen Menschen Angst.
Populisten schüren und verstärken gezielt diese Ängste der Menschen.
Das setzt unsere Demokratie unter Druck.
Immer mehr Menschen misstrauen den staatlichen Institutionen und den Parteien.
Sie fühlen sich nicht verstanden.
Sie wissen nicht, wie sie sich einbringen sollen. Sie sind nicht zufrieden mit ihrem Staat.
Auch wenn sie die Demokratie grundsätzlich für die beste Regierungsform halten.
Im Sommer 2023 gaben 54 Prozent der Deutschen an, weniger großes oder geringes Vertrauen in die deutsche Demokratie zu haben. Das Vertrauen in die Parteien liegt aktuell nur bei neun Prozent.
Hier in Thüringen befinden sich die Zufriedenheit mit der Demokratie und das Vertrauen in die staatlichen Institutionen auf dem niedrigsten Stand seit 16 Jahren.
Über zwei Drittel der Thüringerinnen und Thüringer waren der Meinung, dass sich die Politik in Berlin nicht ausreichend für ihre Region interessiert.
Diese Entfremdung schwächt unsere Demokratie.
Misstrauen und Unzufriedenheit sind aber nicht nur in Ostdeutschland zu finden.
Das kenne ich auch von den Gesprächen mit Menschen in meinem Wahkreis in Duisburg.
Aber in Ostdeutschland fühlen sich besonders viele Menschen abgehängt.
Das hängt laut den Autoren des Thüringen-Monitors auch – aber nicht nur – mit dem Gefühl zusammen, als Ostdeutsche benachteiligt zu sein.
Was sind die Ursachen dieser Entfremdung?
Wieso scheint die Begeisterung für die selbsterkämpften Freiheiten und Rechte bei so vielen verflogen?
Ein Teil der Ernüchterung lässt sich sicher mit enttäuschten Erwartungen erklären, die mit Freiheit, Demokratie und sozialer Marktwirtschaft verbunden waren.
Für viele Menschen bedeutete der Umbruch eine biographische Härte und persönliche Verluste.
Vielleicht hat es aber auch damit zu tun, dass wir im Westen lange Zeit zu selbstgewiss waren.
Auch was unsere politischen Verfahren betrifft.
Die westdeutsche Parteiendemokratie hatte sich über Jahrzehnte bewährt, sie war aber eben nur in Westdeutschland eingeübt worden.
Und die Mehrheit der Deutschen in Ost und West wollte 1990 keine neue Verfassung.
Wir hätten offener sein sollen für die besonderen demokratischen Erfahrungen und Vorstellungen, die Ostdeutsche eingebracht haben.
Bürgernäher, basisdemokratischer, konsensorientierter - so hat es die Historikerin Christina Morina jüngst beschrieben.
Die Erfahrungen der Ostdeutschen hätten Impulse sein können, unsere etablierten Prozesse durch eine aktivere Einbeziehung der Bürgerinnen und Bürger zu beleben.
Um nur ein Beispiel zu nennen für Fragen,
bei denen wir einander besser hätten zuhören müssen.
Um es aber auch klar zu sagen:
Als wir im vergangen Jahr in Erfurt den Tag der deutschen Einheit so würdevoll gefeiert haben, war mein Fazit:
Wir haben viel zusammen erreicht.
Und wir haben viel mehr gemeinsam als uns trennt.
Das gilt nicht nur zwischen Ost und West.
Sehr geehrte Damen und Herren,
unsere Gesellschaft ist einiger, als viele denken.
Sie ist in den vergangenen Jahrzehnten vielfältiger geworden.
In der breiten Mitte der Gesellschaft sind wir jedoch bei vielen Fragen nicht weit auseinander.
In dieser breiten Mitte stehen sich
„Fridays for future“ und der ADAC,
oder Veganerinnen und Veganer und Currywurstliebhaberinnen wie ich zum Beispiel eben nicht unversöhnlich gegenüber.
Aber die politischen Ränder sind größer und lauter geworden.
Die Unterstützung für radikale Parteien hat zugenommen.
Damit müssen sich alle demokratischen Parteien auch selbstkritisch auseinandersetzen.
Radikale und Populisten zündeln mit dem Zerrbild einer angeblich gespaltenen Gesellschaft.
So kann aus einer vermeintlichen Polarisierung am Ende eine tatsächliche entstehen.
Wir Politikerinnen und Politiker, aber auch die Medien müssen einer solchen Entwicklung entschieden entgegentreten.
Es muss besonders darum gehen, die Vielen in der Mitte anzusprechen und einzubinden.
Sie ernst zu nehmen mit den berechtigten Fragen, Sorgen und Ängsten.
Das Gemeinsame zu suchen und hervorzuheben.
Und zugleich die Grenzen unmissverständlich zu setzen: Zu jenen, deren politisches Geschäft in Spaltung und Zersetzung besteht.
Die behaupten, für das Volk zu sprechen.
Die aber nur einen kleinen Teil meinen, der viele herabsetzt und ausgrenzt.
Die meisten Menschen lehnen Fremdenfeindlichkeit ab,
ob hier in Thüringen oder in Hessen,
ob in Mecklenburg-Vorpommern oder in Nordrhein-Westfalen.
Zwei Drittel der Bürgerinnen und Bürger meinen, dass wir uns, ich zitiere aus der Mitte-Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung:
„stärker für eine vielfältige und offene Gesellschaft engagieren müssen.“
Zitatende.
Das ist ein klarer Auftrag an die Mehrheit der Demokratinnen und Demokraten in diesem Land!
Die Mehrheit der Bevölkerung unterstützt die Demokratie.
Mehr als vier Fünftel der Thüringerinnen und Thüringer stimmen der Aussage zu, dass die Demokratie die beste aller Staatsformen ist.
Sie wissen, dass es keine einfachen Lösungen für die komplexen Probleme unserer Zeit gibt.
Und sie erwarten von den Gewählten keine Obstruktionen im Parlament,
sondern konstruktive politische Arbeit.
Wir müssen Respekt und sachliche Diskussionen in unseren Parlamenten vorleben.
Wir dürfen nicht zulassen, dass parlamentarische Debatten durch Populismus, Beleidigungen und Diffamierungen vergiftet werden.
Wir dürfen nicht zulassen, dass eine Demokratie von innen heraus zersetzt wird.
In den Ländern genauso wenig wie im Bund.
Unsere Debatten beeinflussen die politische Kultur im Land.
Unsere Demokratie braucht beides:
Konflikt und Kompromiss.
Regierung und Opposition.
Der demokratische Streit dient dazu, mehrheitsfähige Lösungen zu finden.
Und zugleich soll er andere Ideen im politischen Wettstreit sicht- und hörbar machen.
Deshalb ist es wichtig, demokratischen Streit nicht mit Spaltung zu verwechseln.
Demokratischer Streit erkennt die Interessen und Meinungen anderer als legitim an - auch und besonders, wenn sie sich nicht mit den eigenen Ansichten decken.
Aber der Streit in einer Demokratie hat Grenzen. Unsere Verfassungen zeigen sehr deutlich, wo die Grenzen liegen.
Streit darf nicht dazu dienen, den anderen verächtlich zu machen.
Gewalt, Hass, Hetze sind nicht von der Meinungsfreiheit geschützt.
Je mehr Grenzüberschreitungen hingenommen werden, desto gefährdeter leben Minderheiten.
Und desto mehr Risse bekommt unsere demokratische Gemeinschaft.
Wir müssen unsere demokratischen Grundwerte, wir müssen die Grundrechte aller Menschen in unserem Land schützen.
Sehr geehrte Damen und Herren,
um das Vertrauen in unsere staatlichen Institutionen und damit unsere demokratische Gemeinschaft wieder zu stärken,
braucht es aber mehr.
Es reicht nicht, klare Grenzen gegen verfassungsfeindliche Äußerungen und Aktionen zu ziehen.
Wir Demokratinnen und Demokraten müssen überzeugen.
Wir müssen im politischen Wettstreit gute Angebote machen.
Wir müssen zeigen, dass wir Probleme lösen können.
Und wir müssen bereit bleiben, tragfähige Brücken zu bauen.
Es kommt noch stärker darauf an, dass Demokratinnen und Demokraten sich über politische Differenzen hinweg zusammenraufen, um Lösungen für die Zukunft zu finden und unsere Gesellschaft nicht spalten zu lassen.
Wir Abgeordneten müssen noch stärker auf die Menschen zugehen.
Besonders auf die Unzufriedenen.
Wir müssen den Dialog suchen,
zuhören, für Positionen werben.
Auf Augenhöhe und mit klarer Sprache.
Demokratie ist mühsam.
Sie ist manchmal langsam und kompliziert – gerade in unserem föderalen System.
Wir müssen besser vermitteln, wie politische Entscheidungen getroffen werden.
Wo Demokratie kompliziert wird,
geht es übrigens ganz besonders darum,
die Rechte von Minderheiten zu schützen und widerstreitende Interessen in Einklang zu bringen.
Wir müssen die Bürgerinnen und Bürger stärker einbeziehen.
So wie vor 30 Jahren bei Ihnen in Thüringen müssen wieder mehr Menschen empfinden,
dass sie etwas bewirken können.
Deshalb habe ich mich sehr für den Bürgerrat stark gemacht, der seit September tagt.
Auch jede Bürgerin und jeder Bürger trägt Verantwortung für unsere Demokratie.
Für ein friedliches Miteinander.
Wer Extremisten aus Protest gegen die Parteien, die Regierung oder einfach „die da oben“ unterstützt, nimmt billigend den Schaden für unsere Demokratie in Kauf.
Unsere Demokratie und unsere Freiheit sind nicht selbstverständlich.
Wir alle sind auch im Alltag gefragt.
Wir alle sind gefragt, für die Freiheit einzustehen – auch derer, die anders denken.
Wir alle sind gefragt, Hass und Hetze klar und couragiert entgegenzutreten.
Eine kluge Verfassung allein schafft noch keine starke Demokratie.
Es sind die Bürgerinnen und Bürger, die eine Verfassung mit Leben füllen, die eine Demokratie tragen.
Darauf wies Ricarda Huch schon 1946 als Alterspräsidentin der Beratenden Landesversammlung Thüringens hin.
Sie hoffe auf, ich zitiere:
„eine wahre Demokratie, in der sich jeder als belastbares und tragendes Glied des Ganzen fühlt, in der jeder über die Parteien hinaus den anderen als Menschen in seiner Freiheit ehrt und zu verstehen sucht.“ Zitatende.
Besinnen wir uns wieder häufiger auf unser demokratisches Erbe!
Auf das, was es zu schützen und zu verteidigen gilt.
Sie haben sich dafür etwas Besonders ausgedacht und Ihre Verfassung zum Jubiläum durch Thüringen reisen lassen.
Heute ist sie auf dem Markplatz hier in Eisenach angekommen.
Die Verfassung ist nicht nur da, wo der Landtag, die Regierung oder der Verfassungsgerichtshof sitzen.
Die Verfassung ist da, wo die Menschen sind.
Sie bestimmt den Rahmen unseres Alltags.
Die Freiheiten, die wir jeden Tag nutzen.
Ich danke allen, die diese Freiheiten mit errungen haben.
Die in Thüringen und den anderen ostdeutschen Ländern für diese Freiheit eingestanden sind.
Und ich danke allen, die diese Freiheiten im Großen und im Kleinen schützen.
Mein besonderer Dank gilt den Menschen,
die dieser Verfassung den Weg bereit haben,
die sie mitentworfen haben, die ihren Geist seit 30 Jahren leben.
Es ist besonders Ihr Verdienst, dass hier in Thüringen in den vergangenen 30 Jahren so viel Gutes gelungen ist.
Herzlichen Glückwunsch!