28.11.2023 | Parlament

Rede von Bundestagspräsidentin Bärbel Bas bei der Gedenkveranstaltung zum 85. Jahrestag der Kindertransporte am Mahnmal Friedrichstraße

[Es gilt das gesprochene Wort]

Vielen Dank für Ihre Worte, liebe Frau Bechner!

Exzellenz,
sehr geehrter Herr Lehrer,
sehr geehrter Herr Friederici,
liebe Frau Dr. Slowik,
liebe Studentinnen und Studenten 
der Polizeiakademie Berlin,
sehr geehrte Damen und Herren,

vor allem liebe Ruth Schwiening und
lieber Kurt Marx – Ihnen danke ich besonders für Ihr Kommen! 
Und ich bin dankbar, dass so viele Angehörige, Freundinnen und Freunde der Kinder von damals nach Berlin gekommen sind. 
Herzlichen Dank Ihnen allen!

Es gibt einige deutsche Begriffe, die in den englischen Wortschatz eingingen. 
Das Wort „Kindertransport“ gehört dazu.

Wir erinnern heute an diese beispiellose Rettungsaktion, die vor 85 Jahren begann.

Wir kennen aber natürlich auch die Bilder brennender Synagogen in der Pogromnacht vom 9. November 1938. 
Und wir kennen die Bilder brutaler Misshandlungen von jüdischen Kindern, Frauen und Männern.

Diese Bilder gingen um die Welt. 
Jeder und jedem, die es sehen wollten, war spätestens dann klar: Jüdisches Leben ist im nationalsozialistischen Deutschland tödlich bedroht.

Unter diesem Eindruck startete eine besondere internationale Hilfsaktion: Wenigstens die Kinder sollten dem nationalsozialistischen Rassenwahn entkommen. 
Möglichst viele.

Das britische Parlament hatte beschlossen, unbegleitete jüdische Kinder einreisen zu lassen. Über die BBC wurden Pflegefamilien gesucht. Die Anteilnahme der britischen Bevölkerung war groß.

Und sie bleibt unvergessen.

Sehr geehrte Frau Botschafterin,
ich danke Großbritannien für diese Hilfe und Menschlichkeit auch im Namen des Deutschen Bundestages!

Mehr als 10.000 Kinder fanden bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges Zuflucht in Großbritannien. Viele auch in Belgien, den Niederlanden, Schweden, der Schweiz, Frankreich, Palästina, Australien, Neuseeland und den USA.

Nur einen Koffer, eine Tasche und zehn Reichsmark durften die Kinder mitnehmen. Nicht einmal Spielsachen oder Bücher.

Und ein Foto war erlaubt. 
Ein Foto!

Für viele war es die einzige Erinnerung an ihre Familien. Die einzige Verbindung zu Heimat und Herkunft. 
Welche Tragödien sich abgespielt haben, können wir heute nur erahnen. Die Eltern trennten sich aus Liebe von ihren Kindern. Und schenkten ihnen damit zum zweiten Mal das Leben.

Für die Kinder bedeutete diese Reise Sicherheit. 
Aber auch einen schmerzlichen Abschied, traumatische Trennung, Verlust der Sprache und der Identität.

Viele verstanden nicht, wieso sie weggeschickt wurden. Fühlten sich im Stich gelassen. 
Die älteren Kinder sorgten sich, was mit ihren Familien passiert. Im Februar habe ich in London das Mahnmal vor dem Bahnhof Liverpool Street besucht. Es heißt „Kindertransport – Die Ankunft“.

Noch heute bewegt es mich sehr, wenn ich an die Begegnung mit den jetzt betagten „Kindern“ von damals denke.

Das Denkmal hier in der Friedrichstraße ist ein Zwilling des Londoner Werkes von Frank Meisler. Der Künstler gehörte selbst zu den Kindern, die aus Danzig fliehen konnten.  

In einem der letzten Transporte fuhr er von der Friedrichstraße ins Leben. In einem Viehwaggon, bewacht von der SS.

Frank Meisler hatte dieses Denkmal seinen Eltern gewidmet. Sie wurden in das Warschauer Getto verschleppt und in Auschwitz ermordet. Er gab diesem Denkmal den Namen „Züge in das Leben, Züge in den Tod“.

Sehr geehrte Damen und Herren,
heute erinnern wir an diese Züge ins Leben. 
Wir erinnern an die Kinder – und an die Menschen, die damals alles gegeben haben, um Menschenleben zu retten. 
Wir gedenken heute aber auch der unzähligen Kinder, die in die Züge in den Tod steigen mussten.

Jedes vierte Opfer der Shoa war ein Kind. 1,5 Millionen Leben! Ausgelöschte Zukunft.

Sehr geehrte Damen und Herren,
es ist mir ein Herzensanliegen, die Erinnerung an die Opfer des Holocaust lebendig zu halten.

Dieses Denkmal ist eine Mahnung. 
Es regt an, stehen zu bleiben. Nachzudenken.
Im Trubel des Alltags. 
In der Geschäftigkeit eines Bahnhofs. 
Immer wieder werden hier frische Blumen abgelegt. 
Die Schicksale der Kinder von damals berühren die Menschen heute noch.

Das ist wichtig.
So rückt das Geschehene in das gesellschaftliche Bewusstsein. 
In die Gegenwart. 
Und es mahnt zur Wachsamkeit.

Das ist heute notwendiger denn je. Angesichts des unvorstellbaren Terrors der Hamas gegen Israel.

In einer Zeit, in der viele Jüdinnen und Juden sich bedroht und alleingelassen fühlen. Offenen Antisemitismus und Hass erleben. Auch auf den Straßen Deutschlands.

Das ist unerträglich und nicht hinnehmbar.

Antisemitismus darf keinen Platz in unserem Land haben. Egal in welchem Gewand.

In diesem Sinne ist diese Gedenkveranstaltung auch ein Zeichen der Verbundenheit und Solidarität.

Nie wieder ist jetzt! 

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