06.11.2024 | Parlament

Rede von Bundestagspräsidentin Bärbel Bas beim beim Festakt 100 Jahre Deutsche Verkehrswacht

[Es gilt das gesprochene Wort]

Liebe Kirsten Lühmann, 
lieber Professor Kurt Bodewig,
liebe Kolleginnen und Kollegen, 
meine Damen und Herren,
und vor allem: liebe Engagierte der Verkehrswachten!

Danke für die freundliche Begrüßung und den schönen Film - das zeigt Ihr beeindruckendes Engagement.

Lassen Sie uns gemeinsam auf die Anfänge und das Jahr 1924 schauen.

Dieses Kino Kosmos steht noch nicht.

Die Straße hier vor der Tür heißt nicht Karl-Marx-Allee, sondern Große Frankfurter Straße.

Und auf der Großen Frankfurter Straße ist jede Menge los: 
Autos, Omnibusse, Straßenbahnen, Motorräder, Fahrräder, 
Fußgängerinnen und Fußgänger.

Später kommt noch die U-Bahn dazu.

1924 wird in Berlin auch die deutschlandweit erste Ampel in Betrieb genommen. 
Am Potsdamer Platz.

Immer mehr Leute sind auf den Straßen unterwegs – und immer mehr Autos.

Die Motorisierung schreitet im ganzen Land schnell voran:

Opel startet 1924 in Rüsselsheim die Fließbandproduktion für den „Laubfrosch“ – das „Auto des kleinen Mannes“.

Bei Braunschweig entsteht die erste vierspurige Autobahn-Teststrecke.

Und in Berlin sind bald die ersten Auto-Polizeistreifen im Einsatz.

Mit der fortschreitenden Technik wird der Verkehr dynamischer – und risikoreicher.

An vielen Orten machen die Menschen auf die Gefahren von Autos aufmerksam.

Die Zeit ist reif für eine Bürgerinitiative, die sich für mehr Sicherheit und weniger Unfälle auf den Straßen engagiert.

Deshalb schließen sich 14 Clubs und Verbände im Jahr 1924 zur Deutschen Verkehrswacht zusammen.

Mit beeindruckenden 750.000 Mitgliedern, wie die Chronik der Verkehrswacht zum 50. Jubiläum verzeichnet.

Heute feiern wir ein stolzes Jubiläum: 100 Jahre Deutsche Verkehrswacht.

Ich gratuliere Ihnen im Namen des Deutschen Bundestages:

Herzlichen Glückwunsch, 
Deutsche Verkehrswacht!

Meine Damen und Herren,
schon 1924 ist klar:
Verkehrssicherheit geht nicht nur die Autofahrer an.

So entsteht eine breite Bewegung für mehr Sicherheit im Straßenverkehr.
Für Jung und Alt - ob zu Fuß, auf dem Fahrrad oder im Auto.

Die Mitglieder der Verkehrswacht engagieren sich überall in der Weimarer Republik: 
Sie erklären Verkehrsregeln, verteilen Broschüren und geben Verhaltenstipps im Straßenverkehr.

Zum Beispiel während einer Fußgängerwoche hier in Berlin. 
Die Arbeit mit Kindern ist schon früh ein Schwerpunkt. 
Die Verkehrserziehung hat bald ihren festen Platz auf den Schulhöfen.

Die Verkehrswacht erhebt zudem politische Forderungen und setzt sich schon 1929 für neue Radwege ein!

In der NS-Zeit widersetzt sie sich der Gleichschaltung – bis zum Verbot.

Die Nationalsozialisten haben Angst vor engagierter Eigeninitiative und aufklärender Basisarbeit vor Ort.  

Nach dem Krieg sammeln sich die Ehrenamtlichen wieder. 
Bald sind Schülerlotsen auf den Straßen, es gibt Verkehrsunterricht sowie Informations- und Beratungsangebote.

Mit Klassikern wie dem Siebten Sinn, Rolfs Schulweg-Hitparade oder dem Verkehrskasper.

Meine Lieblings-Episoden vom Verkehrskasper waren natürlich die mit dem Mädchen Bärbel…

Ab 1990 gründen sich auch in den ostdeutschen Bundesländern Verkehrswachten – schon im März 1990 in Sachsen.

Der Einsatz für Verkehrssicherheit ist ein gesamtdeutsches Anliegen.

Dieser Einsatz gilt für alle Verkehrsmittel:

Pedelecs, E-Tretroller und Lastenräder gehören mittlerweile ebenso zum Arbeitsspektrum der Verkehrswacht wie Autos, Motorräder, Fahrräder und Fußgänger.

Liebe Ehrenamtlichen,
Ihre Arbeit trägt entscheidend dazu bei, ein Bewusstsein für den rücksichtsvollen Umgang auf den Straßen zu schaffen und in unserer Gesellschaft zu verbreiten.

Ihre Methoden sind auch nach 100 Jahren auf der Höhe der Zeit: 
Sie organisieren Sicherheitstrainings, bieten jede Menge Informationen oder sichern den Schulweg.

Ich konnte es kaum glauben: Mit der Radfahrausbildung erreichen Sie annähernd 100 Prozent aller Schülerinnen und Schüler.

Meine Damen und Herren,
trotz der beeindruckenden Arbeit der Verkehrswacht wurden 2023 rund 2,8 Millionen Verkehrsverstöße registriert. 
Oft wegen zu hoher Geschwindigkeit.

Das Kraftfahrtbundesamt weist die Verkehrsverstöße nach Geschlecht aus. 
Ergebnis: Von Männern wurden dreimal so viele Geschwindigkeitsvergehen registriert wie von Frauen.

Das sollte uns zu denken geben, vielleicht aber auch ein wenig schmunzeln lassen.

Vor allem, wenn man ältere Texte über Verkehrssicherheit liest.
1956 schreibt Walter Linden, erster Präsident der Bundesverkehrswacht nach dem Krieg, über die Frau am Steuer.

Zitat: „Der Fahrlehrer sagt im allgemeinen: Die Frau lernt’s gut oder nie.“ 
Zitatende.

Walter Linden weiß aber, dass auch Männer es entweder gut oder nie lernen.

Ich zitiere weiter: 
„Bei den Männern ist es wahrscheinlich auch so, nur daß von den Männern, die es nie lernen, ein leider allzu großer Teil glaubt, er müsse es doch können […].“

Nicht immer ist die Skepsis gegenüber Frauen und Männern am Steuer ähnlich ausgewogen verteilt.

1978 veröffentlicht die Deutsche Gesellschaft für Verkehrsmedizin einen Beitrag über Leistungsschwankungen von Kraftfahrerinnen aus gynäkologischer Sicht.

Im Jahr 2000 steht das Buch mit dem Titel „Warum Männer nicht zuhören und Frauen schlecht einparken“ lange auf den Bestseller-Listen.

Es ist doch spannend: Viel Gerede über Frauen im Straßenverkehr, während die Statistik über Verkehrsverstöße eine völlig andere Sprache spricht!

Auch deshalb ist es ein tolles Zeichen: Seit heute hat die Deutsche Verkehrswacht erstmals eine Präsidentin!

Liebe Kirsten Lühmann, 
ich gratuliere Dir herzlich zu Deiner Wahl!

Und ich bin überzeugt: Mit einer erfahrenen Verkehrspolitikerin und Polizistin ist bei der Verkehrswacht die richtige Frau am Steuer!

Lieber Kurt Bodewig,
ich bin sicher, Du verzeihst mir die kleine Spitze auf die Männer am Steuer.  
Man kann die Statistik ja auch anders interpretieren: 
Auch die meisten Männer sind ohne Verstöße im Straßenverkehr unterwegs.

17 Jahre warst Du Präsident der Deutschen Verkehrswacht. 
Du übergibst einen Verband, der auf der Höhe der Zeit ist: Radfahrausbildung gibt es heute auch online und mit Virtual-Reality-Brillen kann man gefährliche Situationen im Straßenverkehr ohne Risiko durchspielen.

Lieber Kurt Bodewig,
Du wurdest heute zum Ehrenpräsidenten gewählt. 
Das beweist, wie gut Du diesen Job gemacht hast.
Herzlichen Dank für Deinen Einsatz!

Ich möchte heute nicht nur den Personen an der Spitze danken. Sondern vor allem jenen Menschen, die überall in Deutschland aktiv sind.

-    Die mit der Verkehrserziehung schon in Kita und Kindergarten beginnen 
-    Die bei Fahrsicherheitstrainings Tipps zum Bremsen auf nasser Fahrbahn geben.
-    Die bei der Fahrradprüfung auf das richtige Handausstrecken beim Abbiegen achten.
-    Die die Beleuchtung an Autos und Fahrrädern checken.
-    Die ältere Menschen beraten, damit sie weiter sicher mobil sind.

Ich bedanke mich bei Ihnen allen für Ihre Arbeit für die Verkehrssicherheit.

Ihr Einsatz über Generationen hinweg hat das Leben der Menschen in unserem Land sicherer gemacht.

In rund 600 Verkehrswachten sind mehr als 100.000 Menschen engagiert.

100.000 – so viele Menschen braucht es, damit eine Stadt als Großstadt gilt.

Ein wahrhaft großartiges Engagement!
Herzlichen Dank Ihnen allen!

Meine Damen und Herren,
die Mission der Verkehrswacht ist zeitlos.

Bei der Festveranstaltung zum 50. Geburtstag sagte Bundespräsident Walter Scheel:
„Wir sind mit Recht stolz auf unser Grundgesetz, das einen Katalog von unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten […] aufzählt. 
Verträgt sich damit jene kühle Gelassenheit, mit der es hingenommen wird, daß jährlich Zehntausende: Kinder, Jugendliche, Frauen und Männer mitten im Frieden einen gewaltsamen, sinnlosen Tod erleiden?“
Zitatende

Das sind starke Worte aus dem Jahr 1975. Die Zahl der Verkehrstoten ist seitdem zum Glück deutlich gesunken.

Aber auch heute stirbt alle drei Stunden ein Mensch im Straßenverkehr.
Hier um die Ecke sind in diesem Jahr zwei Menschen gestorben.

2023 sind 2.839 Menschen in ganz Deutschland mitten aus dem Leben gerissen worden.

Und was keine Statistik erfasst, sind die dahinterstehenden Schicksale der Familien und ihr Leid.

Die Verkehrswacht tritt für die Vision Zero ein.
Das Ziel: keine Todesopfer und Schwerverletzten im Straßenverkehr.

Ich finde es gut und wichtig, dass Verbände, Ehrenamtliche und Politik hier gemeinsam weiter vorangehen.

Menschenleben zu schützen: 
Dafür ist kein Aufwand zu groß!

Es gibt viel zu diskutieren: Assistenten für den toten Winkel, Tempolimit, mehr und bessere Fahrradwege.

Meine Damen und Herren,
das Ziel der Verkehrswacht ist seit hundert Jahren ein harmonisches Miteinander auf den Straßen. 
Ein hehres Ziel!

Vielleicht ist es ein Ziel, das sich nie ganz erreichen lässt.
Denn schon Loriot wusste: Höflich bleiben im Straßenverkehr, 
das ist eine wahre Kunst.

Ich vermute, wir alle kennen es: 
-    Dass wir uns hinter dem Steuer an den Kopf fassen und ins Lenkrad beißen möchten.
-    Oder dass wir uns auf dem Fahrrad von einem Auto oder als Fußgänger von einem Fahrrad bedrängt fühlen.

Ich zum Beispiel ärgere mich auf meiner Harley manchmal über Autos, die zu eng überholen.

Vielleicht ärgern sich aber auch manche Autofahrer über mich, weil ich sie überhole…

Klar ist: Der Straßenverkehr ist für viele Menschen eine emotionale Angelegenheit.

Die Verkehrswacht gab schon 1930 einen schönen Tipp – ich zitiere:
„Wenn Sie morgens das Haus verlassen und fahren, seien Sie guter Laune.“

Gute Laune und Lächeln entschärfen Konflikte im Straßenverkehr – das kann uns auch heute leiten.

Auch wenn es leichter gesagt als getan ist mit der guten Laune am Morgen und dem Lächeln unterm Helm …

Trotzdem: Hinter dem Ziel eines möglichst harmonischen Miteinanders im Straßenverkehr sollten wir uns alle versammeln!

Meine Damen und Herren,
wenn ich zum hundertjährigen Jubiläum der Deutschen Verkehrswacht einen Wunsch nennen darf, dann lautet er:

Bleiben Sie dran!
Sie sind eine der ältesten und größten Initiativen aus der Mitte der Gesellschaft.  
Ihre Arbeit ist heute so wichtig wie 1924.

Die Verkehrswacht arbeitet für mehr Sicherheit im Straßenverkehr – damit wir immer weniger Unfallopfer haben.  

Die Verkehrswacht schützt Menschenleben. 
Ein Engagement, das seinesgleichen sucht.

Vielen Dank Ihnen allen.

Und nochmals: Herzlichen Glückwunsch, Deutsche Verkehrswacht!