18.11.2024 | Parlament

Rede beim performativen Konzert „Ich bin mir selber fremd geworden“

Das Bild zeigt einen dunklen Raum mit einer Frau, die eine Rede hält.

Die SED-Opferbeauftragte bei ihrer Rede vor der Aufführung „Ich bin mir selber fremd geworden“ Stimmen aus dem Frauenzuchthaus Hoheneck, in der Dresdener Gedenkstätte Bautzener Straße. (© Team Zupke)

Liebe Mitwirkende aus dem Musiktheater Kollektiv „Schatz & Schande“ und dem Ensemble „Neue Kammer“,
Liebe Frau Gärtner,
liebes Team der Gedenkstätte Bautzner Straße,
liebe Gäste,

es ist 1957. Ein Junge steht auf einem Bahnsteig in Ost-Berlin. Er wartet. Ein Zug kommt, Leute steigen aus, der Bahnsteig leert sich wieder, nur eine ältere Frau bleibt stehen. „Geh mal hin und frag, ob sie deine Mutter ist!“ wird der kleine Junge von seiner Begleitung aufgefordert.

„Geh mal hin und frag, ob sie deine Mutter ist!“

Nein, die Frau. Sie ist nicht seine Mutter. Sie ist eine Tante, die die Mutter geschickt hat, weil sie sich selbst nicht mehr nach Ost-Berlin traut. Die Tante aber nimmt den Jungen mit nach West-Berlin.

Dort angekommen, rennt eine kleine Frau auf ihn zu. Unter Tränen erklärt sie ihm, dass sie seine Mutter ist. Für ihn aber, für ihn, ist sie nur eine Fremde.

Seine Mutter. Sie war eine der ca. 30.000 weiblichen politischen Häftlinge der DDR. Sie war eine der ca. 8.000 Frauen, die aus politischen Gründen in Hoheneck inhaftiert waren.

Der kleine Junge. Er kam in Haft zur Welt. Seine Mutter war wegen angeblicher Agententätigkeit von einem sowjetischen Militärtribunal zu 15 Jahren Strafarbeitslager verurteilt worden. Als man beide 1950 in einem Transport vom Lager Sachsenhausen nach Hoheneck verlegte, trennte man den knapp Zweijährigen von seiner Mutter.

Ihr Weg führte in die Hölle von Hoheneck. Sein Weg durch die Kinderheime einer unmenschlichen Diktatur.

Mich trifft diese Geschichte immer wieder, wenn ich von ihr berichte.

Sieben Jahre ohne seine Mutter. Sieben Jahre ohne seine Familie!

Die Frauenhaftanstalt Hoheneck. Sie erzählt uns die Geschichte der tausenden Frauen, die zu Unrecht inhaftiert wurden. Hoheneck war eben nicht nur ein Riss durch das Leben von tausenden unschuldigen Frauen. Hoheneck steht zugleich auch für den Schmerz der Kinder, deren Leben durch die Inhaftierung der Mutter, von einem Tag auf den anderen nicht mehr das Gleiche war.

Die weiblichen politischen Gefangenen in Hoheneck waren vor allem wegen „ungesetzlichem Grenzübertritt“, vermeintlicher Spionage, so genannter „öffentlicher Herabwürdigung“ oder „Propaganda für den Klassenfeind“, Fluchtversuchen, Mitwisserschaft bei Fluchtvorbereitungen oder auch nach gestellten Ausreiseanträgen verurteilt worden.

Sie übten politischen Widerstand in der DDR, traten für ihr Recht auf Selbstbestimmung, für ihre Freiheit ein und wurden zu Opfern eines menschenverachtenden Systems.

In Hoheneck nahm das SED-Regime den Frauen nicht nur ihre Freiheit. Nein, man probierte, sie systematisch zu brechen. Überfüllte Zellen, schlechte hygienische Zustände, unzureichende medizinische Versorgung, Mangelernährung und Zwangsarbeit.

Die Frauen, sie wurden zu Objekten eines übermächtigen Staates.

Häufig folgt auch unsere heutige Betrachtung dieser Blickrichtung. Viel zu häufig sehen auch wir diese mutigen Frauen nur als Objekte staatlicher Willkür.

Aber nein, die Frauen von Hoheneck, sie waren und sind so viel mehr. Sie waren und blieben Kämpferinnen für die Freiheit.

Ich bin Ihnen, den Macherinnen und Machern von „Ich bin mir selber fremd geworden“ daher besonders dankbar, dass sie diesen anderen Blick auf die Hoheneckerinnen in den Mittelpunkt ihrer künstlerischen Arbeit gestellt haben. Sie zeigen uns die Hoheneckerinnen, wie sie wirklich waren. Menschen, wie du und ich.

Sie bauen damit eine Brücke aus der Vergangenheit in unsere heutige Gegenwart.  Viele Hoheneckerinnen können bis heute nicht über das Erlebte sprechen. Die Angst, sie sitzt auch nach all den Jahrzehnten noch immer zu tief. Mit ihrem Theaterstück geben sie auch diesen Frauen eine Stimme. Und all den Frauen, die nicht mehr unter uns weilen. 

Ich bin überzeugt davon, dass wir gerade in der heutigen Zeit, in einer Zeit, in der viele Menschen das Autoritäre als vermeintlich besseres Gesellschaftsmodell propagieren.

Dass wir gerade jetzt viel von den Hoheneckerinnen lernen können. Davon, was autoritäre Regime den Menschen, die anders denken, antun. Und davon, was Opposition und Widerstand in einer Diktatur bedeutet. 

Die Botschaft der Hoheneckerinnen, wie wir sie heute hier in der Performance auf der Bühne sehen und hören werden. Diese Botschaft an uns, sie ist klar und deutlich:

Nie wieder Diktatur!