Rede zur Gedenkfeier für die Opfer des Speziallagers in der Mahn- und Gedenkstätte Fünfeichen
Liebe Frau Lüdtke,
vielen Dank für Ihre herzliche Rede und dem bewegenden Auftakt der heutigen Gedenkveranstaltung.
Sehr geehrter Herr Witt,
liebe Anwesende der Arbeitsgemeinschaft Fünfeichen,
alle anderen Repräsentanten des Bundes, des Landes und der Kommune wurden bereits ausführlich von Frau Lüdtke vorgestellt und begrüßt. Dem schließe ich mich an und möchte aber auf jeden Fall auch die beiden Zeitzeugen, Herrn Baars und Herrn Heseener, herzlich begrüßen, wie auch alle Angehörigen,
sehr geehrte Damen und Herren,
„Für morgen Vormittag bin ich zum Waldkommando eingeteilt. Falls noch Stämme geholt werden, kann ich Emmi vielleicht noch sehen“
Diese Worte schrieb Wilhelm Bartels unter Lebensgefahr. Zu Unrecht inhaftiert, saß er, der Pastor, hier im Lager in Fünfeichen. Aufzeichnungen über die Erlebnisse im Lager waren strengstens verboten. Dass wir heute von diesen Zeilen wissen, grenzt an ein Wunder. Wir verdanken es dem Mut seiner Familie, die die aus dem Lager geschmuggelten Aufzeichnungen über Jahrzehnte versteckten und damit bewahrten.
„Vielleicht kann ich Emmi noch sehen“
Seine Hoffnung, seine Frau Emmi zu sehen. Sie erfüllte sich für Wilhelm Bartels nicht. Ohne ein Wiedersehen mit seiner Frau und ohne Abschied von seiner Familie, starb er 1947 hier in Fünfeichen. Seine Geschichte, sein Leiden im Lager und die Erinnerung an ihn, die es Jahrzehnte nur im Verborgenen geben durfte. All das steht für mich ganz sinnbildlich für das, was das Lager Fünfeichen und die Erinnerung daran für die Opfer und insbesondere auch für die Angehörigen bis heute bedeutet.
Die Erinnerung an das Lager. Die Erinnerung an das Leid. Ja, sie sollte es über Jahrzehnte erst in der SBZ und dann in der DDR nicht geben. Über Fünfeichen sprechen, über das Leben in sowjetischer Lagerhaft sprechen, das war in der DDR strikt verboten. Wer den Mauern des Lagers Fünfeichen entkam, blieb doch eingesperrt im Gefängnis einer Diktatur.
Die Erinnerung an die Opfer der Lager gab es, wenn überhaupt, meist nur im Privaten. Meist nur in den Familien. Für all diejenigen, wie die Familie von Wilhelm Bartels, die Angehörige hier im Lager verloren haben, für sie gab es in der DDR keinen Ort des Abschieds und keinen Ort der Trauer.
Durch das erzwungene Schweigen konnte sich über die Jahrzehnte der SED-Diktatur keine Erinnerungskultur entwickeln. Die Erinnerung an die Opfer der sowjetischen Speziallager – wie hier in Fünfeichen –, diese Erinnerung wurde nicht Teil des kollektiven Gedächtnisses. Im Gegenteil: Stigmatisierung war häufig die Folge. „Wer in so einem Lager einsaß, der war dort nicht ohne Grund.“ Dieses Bild wollte das SED-Regime mit aller Kraft aufrechterhalten. Die Überlebenden, aber ebenso auch die Familien. Sie blieben allein mit ihrem Schmerz.
Auch nach 1989, als die Diktatur zusammenbrach, blieben viele ehemalige Häftlinge stumm. Zu weit weg war das Erlebte von der gesellschaftlichen Realität der 1990iger-Jahre. Und: Manchmal fehlten den Betroffenen einfach auch die Worte. Zu groß war die Sorge nicht verstanden zu werden. Zu groß war der Schmerz, sich an das Leid zu erinnern. Nach den Jahrzehnten das Schweigen brechen. Diesen Schritt zu gehen ist nicht einfach. Aber er ist wichtig.
Umso dankbarer bin ich den ehemaligen Häftlingen und ihren Familien, umso dankbarer bin ich der Arbeitsgemeinschaft Fünfeichen. Sie halten die Erinnerung wach. Es beeindruckt mich sehr, was Sie hier geschaffen haben und Jahr für Jahr leisten. Vor allem getragen durch ehrenamtlichen Einsatz.
Hier in Neubrandenburg gedenken wir dem Leid von Kriegsgefangenen der deutschen Wehrmacht. Und wir gedenken dem Leid der Menschen, die hier nach 1945 von den Sowjets, vom NKWD, inhaftiert und getötet wurden. Das Gedenken an all diese Opfer an einem Ort. Das ist für mich kein Widerspruch. Im Gegenteil. Die Vielschichtigkeit unserer Geschichte und unserer Erinnerungskultur. Sie zeigt sich gerade hier in Neubrandenburg. Wir blicken auf die Opfer mit ihrer jeweiligen Geschichte. Mit ihrem individuellen Leid. Sie alle verdienen unseren Respekt und die Angehörigen unser Mitgefühl. Mit ihrer Erinnerungsarbeit hier in Neubrandenburg geben sie den Opfern ein Stück Würde zurück. Die Würde, die den Menschen hier im Lager genommen wurde.
Mit ihrer Erinnerungsarbeit haben sie aus einem Ort der Diktatur einen Ort der Demokratie gemacht. Wir brauchen Orte wie diesen, um uns der Gräueltaten der Diktatur und der Verletzlichkeit unserer Demokratie bewusst zu werden.
Als ich vor wenigen Wochen in Berlin zu meinem Büro beim Bundestag lief, passierte ich die russische Botschaft. Auf dem Mittelstreifen lag ein Kranz. Ein Kranz, für den kurz zuvor in russischer Lagerhaft verstorbenen Oppositionellen Alexei Nawalny. Ein Kranz, niedergelegt von der Lagergemeinschaft Workuta, den ehemaligen Insassen der sowjetischen Lager und ihrer Angehörigen. Die politische Verfolgung und das System der Lagerhaft, es ist eben nicht nur ein Thema aus den Geschichtsbüchern. Der Tod des politischen Gefangenen Alexei Nawalny Mitte Februar in russischer Lagerhaft hat auch einer breiten Öffentlichkeit nochmals vor Augen geführt, wie sehr auch heute politische Verfolgung zu den Instrumenten repressiver, ideologisch geprägter Regime gehört.
Heute gedenken wir hier in Neubrandenburg, am ehemaligen Lager Fünfeichen, den Opfern des sowjetischen Speziallagers Nr. 9. Wir gedenken der Opfer und wir stehen an der Seite der Angehörigen. An der Seite all derjenigen, die wie Familie Bartels, einen Menschen hier verloren haben und denen der Abschied über Jahrzehnte verwehrt wurde. Unser Gedenken ist der Blick zurück. Aber unser Gedenken hat ebenso auch eine Botschaft an unsere Gegenwart.
Die Geschichte des Lagers Fünfeichen – Die Geschichte des Leids und der Toten. Diese Geschichte ist eine Warnung.
Nie wieder Diktatur.
Vielen Dank!