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„Das ganze Chaos der internationalen Hilfe wird in Mali ausgeschüttet“ – Interview, 06.09.2019

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(Presse- und Informationsamt der Bundesregierung)

Interview mit dem Wehrbeauftragten in der „WELT“ vom 6. September 2019

„Das ganze Chaos der internationalen Hilfe wird in Mali ausgeschüttet“

WELT: Die Staats- und Regierungschefs der sieben größten Industrienationen haben beschlossen, verstärkt gegen den Terrorismus in der Sahelzone vorzugehen. Sie haben gerade eine Woche lang die Bundeswehrmissionen in Mali und im Niger besucht. Welche Erkenntnisse haben Sie mitgebracht, Herr Bartels?

Hans-Peter Bartels: In beiden Ländern ist eine stabile, dauerhaft friedliche Situation noch nicht in Sicht. Die messbaren Indikatoren drehen ins Negative: mehr Anschläge, mehr Tote, eingeschränkte Bewegungsfreiheit, prekäre Ökonomie. In Mali breiten sich die Terrorgruppen aus der Wüste im Norden immer weiter in den dicht besiedelten Süden aus.

Es gibt auch Angriffe auf die malische Armee und auf UN-Camps und -Konvois. Teilweise werden bestehende Stammeskonflikte instrumentalisiert. Minusma gilt nicht von ungefähr als die derzeit gefährlichste UN-Mission mit den meisten Opfern in Reihen der internationalen Truppen.

WELT: Und im Niger?

Bartels: Auch dort steigt das Gewaltniveau, in einzelnen Regionen gilt der Ausnahmezustand mit nächtlicher Ausgangssperre und Einschränkungen des öffentlichen Lebens. In Burkina Faso sieht die Sicherheitslage nicht viel besser aus, und auch Mauretanien und Tschad leiden unter der Terrorkonjunktur von al-Qaida, IS und Boko Haram in der Sahelregion.

Alle Grenzen hier sind virtuell, Linien auf Landkarten. Und über diese Linien laufen Schmuggelrouten, Migrationswege, Entführungsindustrie und Waffennachschub aus Libyen. Die G7 liegt also richtig: Das Engagement der internationalen Gemeinschaft im Sahel muss eher größer werden als kleiner.

WELT: Obwohl Deutschland seit etlichen Jahren dort engagiert ist, gibt es keine Fortschritte zu verzeichnen. Was läuft falsch?

Bartels: Mein Rat wäre: Mehr Führung wagen! Der Westen hat in Mali das getan, was wir auch bei anderen Interventionen erlebt haben: Das ganze Chaos der internationalen Hilfe wird über einem schwachen Land ausgeschüttet. Die EU macht eine Trainingsmission, die Vereinten Nationen versuchen mit 13.000 Minusma-Soldaten, darunter 800 Deutsche, und mit ziviler Hilfe das Land zu stabilisieren.

Die Franzosen betreiben eine Antiterrormission, Amerikaner und Chinesen sind mit jeweils eigener Agenda unterwegs. Dazu kommen unzählige Nichtregierungsorganisationen. Das Engagement ist beliebig komplex und nicht wirklich gut koordiniert. Die Hoffnung jedenfalls, dass sich das schon irgendwie von selbst zurechtschüttelt oder die nationale Regierung das managt, ist naiv. Frankreich und Deutschland könnten hier eine Führungsrolle übernehmen.

WELT: Durften Sie auch die Mission „Gazelle“ im Niger besuchen? Das ist eine Ausbildungsmission von Spezialkräften, die von der Bundesregierung bislang geheim gehalten wurde.

Bartels: Ich hätte unsere Soldaten gern an ihrem Einsatzort, einige Hundert Kilometer von der Hauptstadt Niamey entfernt, besucht. Das war auch alles organisiert, ging dann aber nicht, so wurde mir gesagt, weil irgendeine nigrische Genehmigung fehlte. Schade – denn diese Art Ausbildungseinsatz, wie ihn auch andere westliche Nationen im Niger praktizieren, ist ein interessanter Gegenentwurf zu dem, was wir in Mali tun.

WELT: Inwiefern?

Bartels: Im Rahmen der EU-Trainingsmission in Mali versuchen wir, mit einem relativ großen Kontingent von 150 deutschen Soldaten, darunter vielleicht ein Dutzend Ausbilder, einen Effekt zu erzielen. Bei der Mission „Gazelle“ im Niger sind es nur die Ausbilder plus eine ärztliche Komponente, die in einem Camp der nigrischen Streitkräfte arbeiten, die Deutschen nennen es „Wüstenblume“.

Deutschland sorgt, anders als in Mali, auch für Fahrzeuge, Waffen und persönliche Ausstattung der nigrischen Soldaten. Das scheint in gewisser Weise ein Laborversuch für ein anderes Modell von Ausbildungsmission zu sein: kleiner Fußabdruck und damit möglicherweise geringere Gefährdung als bei großen Kontingenten.

Was mir die Verantwortlichen berichten, hört sich gut an. Andererseits: Bisher ist nichts passiert. Wir wollen hoffen, dass das so bleibt. Man muss es sich näher anschauen.

WELT: Was konnten Sie zur Bedrohungslage für dieses kleine Kontingent erfahren: Ist eine Verstrickung in bewaffnete Auseinandersetzungen zu erwarten?

Bartels: Die Bedrohungslage ist vergleichbar mit Mali. Nehmen Sie das Ausbildungscamp in Koulikoro nahe Bamako. Das wird von EU-Kräften gesichert und ist entsprechend ausgebaut, auch wenn jahrelang Ruhe herrschte. Dennoch gehörte Glück dazu, dass ein terroristischer Angriff mit Autos voller Sprengstoff zu Jahresbeginn glimpflich verlief.

Man muss mit Angriffen rechnen. Unsere Soldaten im Niger gehen völlig zu Recht bewaffnet in ihren Einsatz, zum Eigenschutz, weil immer etwas passieren kann. Die Verluste der nigrischen Armee steigen. Auch US-Spezialkräfte sind dort schon gefallen.

WELT: „Ein Einsatz bewaffneter Streitkräfte liegt vor, wenn Soldaten der Bundeswehr in bewaffnete Unternehmungen einbezogen sind oder eine Einbeziehung in eine bewaffnete Unternehmung zu erwarten ist“, heißt es im Parlamentsbeteiligungsgesetz. Dennoch sind die deutschen Spezialkräfte ohne Mandat des Bundestags vor Ort. Eine Missachtung des Parlaments?

Bartels: Ich werbe für eine Mandatierung. Wenn deutsche bewaffnete Streitkräfte im Einsatz damit rechnen müssen, angegriffen zu werden, braucht es ein Mandat. Und übrigens auch ein Evakuierungskonzept, eine medizinische Rettungskette, ein nachrichtendienstliches Lagebild. Das hat man wohl.

WELT: Trotz Ihrer Intervention sagt die Regierung: Nein, braucht es nicht.

Bartels: Dass es hier Spezialkräfte sind, die ausbilden, ändert nichts am Prinzip Parlamentsarmee. Es gibt nicht zweierlei Bundeswehr und nicht zweierlei Parlamentsbeteiligung. Auch die Geheimhaltung passt nicht zum Charakter der Mission.

Es geht ja nicht um Geiselbefreiung oder die Festnahme gesuchter Kriegsverbrecher, wo selbstverständlich der Kreis der Eingeweihten klein zu halten ist, sondern um Ausbildung – wie in Mali, in Afghanistan, im Irak oder im Libanon: Das gehört in die ganz normale Unterrichtung des Parlaments, einschließlich Information über mögliche Veränderungen der Sicherheitslage.

WELT: Täuscht der Eindruck, dass wir derzeit eine Neuordnung der Auslandseinsätze der Bundeswehr erleben?

Bartels: Die Schwerpunkte verschieben sich, ganz eindeutig. Unser militärisches Balkan-Engagement läuft langsam aus. Dort haben wir erreicht, was Militär erreichen kann. Alles weitere ist zivil. In Afghanistan arbeiten die USA an einem Abkommen mit den Taliban, das einen Truppenabzug, jedenfalls eine drastische Reduzierung der US-Truppen zur Folge haben kann. Das hätte dann auch Konsequenzen für unsere deutsche Präsenz, nicht zuletzt weil die 1150 Bundeswehrsoldaten auf die zusätzlichen Fähigkeiten der Amerikaner angewiesen sind.

WELT: Was ist mit dem Nahen Osten? Die Regierung ringt um ein neues Mandat für den Anti-IS-Einsatz im Irak und in Jordanien. Ist das sinnvoll?

Bartels: Wenn die Anti-IS-Koalition weiterhin Aufklärung durch Luftwaffen-Tornados braucht, dann bleibt Deutschland in der Pflicht. Was allerdings die Ausbildungskomponente angeht, sollten wir daraus vielleicht keine Daueraufgabe machen. Es sind genügend andere Akteure in der Region aktiv. Unser militärischer Schwerpunkt dürfte in Zukunft eher die Sahelregion sein.

WELT: Wie ist Ihr erster Eindruck der neuen Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer?

Bartels: Sie ist neu. Damit ist sie frei, neue Entscheidungen zu treffen. Sie kann Dinge, die bisher auf die lange Bank geschoben wurden, einfach mal abräumen. Als Parteivorsitzende verfügt sie über politisches Gewicht, um etwas für die Bundeswehr zu bewirken.

WELT: Was sind die drängendsten Entscheidungen?

Bartels: Demnächst stehen die Haushaltsberatungen an. Sie wird sich darum kümmern müssen, dass die Absprache der schwarz-roten Koalition, die Wehrausgaben bis 2024 auf 1,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu steigern, jetzt planbar operationalisiert wird.

Das bedeutet knapp drei Milliarden Euro Etatsteigerung jährlich bis zur Größenordnung 58 Milliarden im Jahr 2024. Nur wenn die Ministerin das Geld bekommt, sind die geplanten Trendwenden der Bundeswehr finanzierbar. Dann muss das Geld nur noch richtig ausgegeben werden.

WELT: Wofür?

Bartels: Viele Beschaffungsprogramme dauern zu lange, zum Beispiel bei der persönlichen Ausstattung, von den Stiefeln bis zur Schutzweste. Da muss Tempo rein. Und viele Ausrüstungsentscheidungen sind überfällig. Zum Beispiel der schwere Transporthubschrauber. Das ist nicht so kompliziert: Es gibt zwei Angebote, beide amerikanisch, eines muss es werden. Auch den offenbar bereits ausgesuchten Tornado-Nachfolger F-18 muss man eigentlich nur noch bestellen.

Es herrscht wirklich kein Mangel an Projekten: neue Eurofighter, neue Luftabwehr, neue Funkgeräte, das Mehrzweckkampfschiff für die Marine, MKS-180, am besten gleich sechs, nicht erst wieder nur vier und dann zehn Jahre später noch mal zwei, was die teuerste Variante wäre. Der Bedarf ist jetzt da, die Marine hat zurzeit nur neun statt der nötigen 15 Fregatten.

WELT: Muss vorher nicht noch etwas im Beschaffungsamt geschehen?

Bartels: Auch da liegen alle Analysen für eine Reform des Managements vor. Es scheint klar zu sein, dass eine Privatisierung nicht infrage kommt. Was ich auch richtig finde. Das ist eine hoheitliche Aufgabe, der Staat vergibt hier Milliardenaufträge. Angesichts der schwierigen Personallage im Koblenzer Beschaffungsamt muss man aber schauen, ob wirklich alles zentral von dort aus eingekauft werden muss.

Warum kann der Bundeswehrsanitätsdienst nicht vieles von dem, was er braucht, selbst kaufen? Da geht es nicht um Raketenwissenschaft. Oder das Thema Materialerhaltung: Früher waren dafür die Teilstreitkräfte zuständig. So zentralisiert, wie der staatliche Rüstungsbereich heute organisiert ist, produziert er vor allem zwei Dinge: Verantwortungsdiffusion und Mangel.

Interview: Thorsten Jungholt, Christian Schweppe

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