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„Kalkulation mit hohlen Strukturen“ – Interview, 8.11.2019

Tageszeitungen

(Presse- und Informationsamt der Bundesregierung)

Interview mit dem Wehrbeauftragten in der „Passauer Neue Presse“ vom 8. November 2019

„Kalkulation mit hohlen Strukturen“

Verteidigungsministerin Annegret Kramp Karrenbauer (CDU) fordert, die militärische Zurückhaltung aufzugeben, und will mehr Auslandseinsätze der Bundeswehr, auch in der Nahost-Region. Was halten Sie von diesen Plänen?

Hans-Peter Bartels: Deutschlands globale Verantwortung zu thematisieren, ist gut. Aber wir haben schon jetzt Kapazitätsprobleme mit den laufenden Einsätzen und einsatzgleichen Verpflichtungen. Die Brigade für die „Very High Readiness Joint Task Force“ (VJTF), die wir in diesem Jahr mit 5000 deutschen Soldaten der Nato zur Verfügung stellen, musste sich aus allen Teilen der Bundeswehr Material zusammenleihen, um voll einsatzfähig zu sein. Das Gerät fehlt jetzt an anderer Stelle. Wenn jemand meint, in einen weiteren Großeinsatz, etwa in Syrien, mal eben eine Brigade oder ein Brigadeäquivalent mit 5000 Soldaten schicken zu können – dann kalkuliert er mit hohlen Strukturen. Aktuell sind übrigens gerade 3100 Soldatinnen und Soldaten „out of area“, außerhalb des Bündnisgebiets, im Einsatz: in Afghanistan, in Mali und Niger, auf dem Balkan, im Mittelmeer und im Indischen Ozean, in Jordanien und im Irak. Dazu kommen die weit größeren Nato-Verpflichtungen in Europa. Die Truppe plagen bereits jetzt Engpässe. In Afghanistan sind wir nicht mehr in der Lage, selbst genügend Lufttransporte zu stellen und müssen MI17-Hubschrauber sowjetischer Bauart von privaten Firmen mieten. In Mali mieten wir zivile Flugzeuge. Wir können wahrlich nicht aus dem Vollen schöpfen.

Das heißt, Anspruch und Wirklichkeit liegen auseinander?

Bartels: Unseren Streitkräften fehlt es an Material und Personal. Die Bundeswehr als Ganzes ist im Moment nicht voll einsatzfähig. Deshalb heißt die Tagesaufgabe heute, dafür zu sorgen, dass schneller die materielle Mangelwirtschaft beseitigt wird, das Hin- und Herleihen ein Ende hat und wenigstens einige der seit Jahren geplanten großen Modernisierungsprojekte endlich starten: Fregatte MKS 180, TLVS, schwerer Transporthubschrauber, Tornado-Nachfolge, vierte Tranche Eurofighter.

AKK hat ihre Forderung nach einer weiteren Erhöhung der Verteidigungsausgaben bekräftigt und will am Zwei-Prozent-Ziel der Nato bis 2031 festhalten. Ist das realistisch?

Bartels: Ich weiß nicht, wie 2031 die Welt aussieht, wie Europa dasteht und wer dann in Deutschland regiert. Die gegenwärtige Große Koalition hat sich jedenfalls darauf geeinigt, den Anteil der Verteidigungsausgaben an der Wirtschaftsleistung bis 2024 auf 1,5 Prozent zu erhöhen. Das würde ab sofort jedes Jahr etwa drei Milliarden Euro mehr für die Bundeswehr bedeuten, was nicht so schlecht wäre. Für 2020 plant die Regierung allerdings nur ein Plus von 1,7 Milliarden Euro ein, und die Ministerin sagt, das reicht ihr erstmal.

Die Verteidigungsministerin will mehr Auslandseinsätze. Ist die Bundeswehr nicht vor allem eine Verteidigungsarmee?

Bartels: Einerseits ja, es gibt nach wie vor gute Gründe für die Kultur militärischer Zurückhaltung, die Deutschland pflegt. Wir sollten Militär nur einsetzen, wenn es wirklich zur Problemlösung beiträgt. Die Geschichte der westlichen Interventionen in den vergangenen zwei Jahrzehnten war ja nicht immer nur erfolgreich. Daraus gilt es zu lernen. Afghanistan ist kein Patentmuster für künftige Krisenmissionen. Es darf keinen Automatismus geben. Aber andererseits, an der Seitenlinie stehen und Haltungsnoten verteilen, das geht für das größte Land Europas, die viertgrößte Wirtschaftsmacht der Welt ganz sicher auch nicht. Da hat Frau Kramp-Karrenbauer völlig Recht.

Ist die Nato „hirntot“, wie Frankreichs Präsident Macron gesagt hat?

Bartels: Was für eine krasse Diagnose! Tatsächlich stehen die Amerikaner aber nach wie vor militärisch mit einem Bein in Europa, verlegen gegenwärtig sogar mehr Truppen nach Deutschland und Polen. Aber dass Macron von dem autokratischen Habitus einzelner verbündeter Staatschefs genervt ist, dürfte auch jeder Deutsche verstehen. Es ist vielleicht zudem ein charmanter Appell an die Einigkeit Europas. Was ja auch immer wieder Mühe macht.

Interview: Andreas Herholz

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