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„Das Deutsche 1,5%-Ziel bis 2024 … muss gehalten werden“ – Interview, November 2019

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(© Presse- und Informationsamt der Bundesregierung)

Interview mit dem Wehrbeauftragten im „CPM Forum“ vom November 2019

„Das Deutsche 1,5%-Ziel bis 2024, auf das die schwarz-rote Koalition sich geeinigt hat, muss gehalten werden“

cpm: Herr Dr. Bartels, vor nicht allzu langer Zeit hat ein bekannter Redakteur einer großen deutschen Sonntagszeitung getitelt: „Heimlicher Wortbruch“. Er zitiert darin ein vertrauliches Papier, das feststellt, dass der Bundesregierung über 30 Milliarden Euro fehlen, um ihren NATO-Verpflichtungen nachzukommen und die Bundeswehr, wie versprochen, zu modernisieren. Er sagt, Deutschland schwächt das Bündnis. Dass das bis 2024 zugesagte Geld nun doch nicht in voller Höhe kommt, ist bekannt. Welche Schlussfolgerung ziehen Sie daraus?

Dr. Bartels: Das deutsche 1,5-Prozent-Ziel bis 2024, auf das die schwarz-rote Koalition sich geeinigt hat, muss gehalten werden! Sonst scheitern die Trendwenden. Das heißt, von den 43,2 Milliarden Euro im Bundeshaushalt 2019 – eine Steigerung von fast fünf Milliarden gegen 2018 – muss es jetzt in Schritten von zusätzlich jeweils knapp drei Milliarden jährlich in Richtung auf 58 Milliarden Euro im Haushalt 2024 gehen. Damit plant die Bundeswehr. Auf dieser Basis lassen sich die personellen und materiellen Lücken wie vorgesehen schließen. Für Aufregung in Berlin sorgt derzeit vor allem die Tatsache, dass diese Etatsteigerungen in der mittelfristigen Finanzplanung des Bundeskabinetts nicht enthalten sind. Das galt allerdings auch schon für die bisherigen Haushaltszuwächse, muss also nicht allzu viel bedeuten. Aber man weiß es nicht. Mit einer Zwei-Prozent-Bundeswehr rechnet jedenfalls im Ernst niemand in Berlin.

cpm: In diesem Zusammenhang müssen wir auch wieder auf die Einsatzfähigkeit unseres Großgerätes zu sprechen kommen. Bislang ging man mit den Zahlen recht offen um. Das hat sich geändert. Man könnte provozierend sagen, dass der schlechte Gesamtzustand, so er denn veröffentlicht würde, die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland gefährdet. Sie sind doch sicher besser informiert. Wie sieht es aus?

Dr. Bartels: Das Umschalten auf Geheim wirkt in der Tat etwas kurios. Nach wie vor lähmt der Mangel an bevorrateten Ersatzteilen die Einsatzbereitschaft der Streitkräfte. Hinzu kommen auch Personalengpässe in der Industrieinstandsetzung, Kinderkrankheiten und Altersschwäche bestimmter Waffensysteme, die kontraproduktive Zentralisierung der Materialerhaltung beim Beschaffungsamt sowie der Personalmangel dort – und ein bürokratischer Overkill, der sich als Modernität tarnt. Wir brauchen deshalb dringend eine Reform des Rüstungsbereichs.
Dass es den Verantwortlichen unangenehm ist, wenn die Zahlen nicht besser werden wollen, kann ich verstehen. Aber Transparenz hilft, das nötige zusätzliche Geld im Haushalt zu mobilisieren und die nötigen organisatorischen Veränderungen anzugehen. Gesundbeterei hingegen hilft nicht. Die Ministerin hat im September bei ihrem Besuch in Koblenz eine Vielzahl von Einzelmaßnahmen angekündigt, mit dem Ziel, bei der Beschaffung „schneller, einfacher und zielgenauer“ zu werden. Die von manchen erwartete grundstürzende Reform des Beschaffungswesens scheint vom Tisch.

cpm: Der Vorsitzende des Verteidigungsausschusses hat kürzlich in unserem Magazin gesagt, dass die fehlenden Haushaltsmittel zu Priorisierungen führen müssen. Was priorisieren Sie?

Dr. Bartels: Wenn es um neue große Beschaffungsprogramme geht, beobachten wir seit Jahren, wie Projekte auf die lange Bank geschoben werden. MKS 180 und TLVS sollten schon in der vergangenen Wahlperiode unter Dach und Fach kommen. Dafür gab es sogar eine Sonderbeschaffungsorganisation in Koblenz. Bis heute aber stehen die Vertragsabschlüsse aus. Über die Tornado-Nachfolge sollte bis Ende 2018 entscheiden sein, die Truppe wartet. Der schwere Transporthubschrauber, Ersatz für die erste Eurofighter-Tranche, neue Funktechnik – die Liste überfälliger Entscheidungen wird länger und länger. Irgendwann geraten diese Großprojekte – alle in der Kategorie fünf Milliarden plus – in Konkurrenz zueinander. Damit das nicht passiert, müssen jetzt endlich die ersten Entscheidungen und Mittelbindungen kommen. Die Zeiten des Offenhaltens müssen vorbei sein.

cpm: Die Notwendigkeit einer europäischen Zusammenarbeit ist, wenn es um große Rüstungsprojekte geht, unbestritten. Ein schwerwiegendes Problem ist jedoch – wie z. B. jetzt bei den Kooperationen mit Frankreich – die deutsche Beschränkung bei der Weiterverbreitung dieser Rüstungsgüter. Schlagwort „German free“! Sehen Sie Möglichkeiten diese Problematik erfolgreich zu lösen?

Dr. Bartels: Ja. Deutschland und Frankreich wollen sich auf ein gemeinsames Rüstungsexportregime einigen. Das bedeutet am Ende gleiche Standards, gleiche politische Bewertung bei sicherheitspolitisch begründeten Ausfuhren in Drittstaaten und idealerweise eine einheitliche Exportbehörde. Zwischenschritte sind denkbar, etwa Wertschöpfungsquoten bei Komponentenzulieferung. Für andere europäische Nationen muss das Ganze natürlich zum Beitritt offen sein. Aber Frankreich und Deutschland gehen voran – das entspricht auch der Philosophie des neuen Aachener Vertrages vom Januar 2019, der unter anderem einen gemeinsamen deutsch-französischen Sicherheitsrat vorsieht. Für europäische Superprojekte wie FCAS oder MGCS würde das zusätzlichen Schub bedeuten. Wohlgemerkt: Es geht nicht um die Beseitigung der Moral beim Export, sondern um die Beseitigung der Konkurrenz um die richtige Moral.

cpm: Ohne Zuarbeit privater Beratungsunternehmen wird auch die Bundeswehr nicht auskommen. Die Beratungsorgien jedoch, offensichtlich bisweilen unter fragwürdigen Voraussetzungen initiiert und bezahlt, haben letztlich zu einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss geführt. Ein CSU Bundestagsabgeordneter hat diesen in unserem Magazin als „oppositionellen Skandalisierungsversuch“ bezeichnet. Wie sehen Sie das und welches Ergebnis erwarten Sie am Ende?

Dr. Bartels: Beratung kann nützen. Aber es ist wie bei Alice im Wunderland, als Alice nach dem Weg fragt: Wenn Du nicht weißt, wohin Du willst, ist jeder Weg richtig. Und für die großen strategischen Entscheidungen sollten sich die Spitzen von Militär und Wehrverwaltung und die politische Leitung kompetent genug fühlen. Dafür wurden sie ausgebildet, dafür haben sie sich um politische Verantwortung beworben. Und trotzdem gibt es in dem Riesenapparat Bundeswehr ganz bestimmt auch viel privatwirtschaftlichen Unterstützungsbedarf, offenbar vor allem im IT-Bereich. Es darf nur eben kein Selbstbedienungsladen werden.

cpm: Wie stellt sich für Sie die Personalentwicklung in der Bundeswehr dar?

Dr. Bartels: Schwierig. Angespannt. 2017 wurden 23.000 Soldaten neu eingestellt, 2018 nur noch 20.000. Dass die Streitkräfte gleichwohl in absoluten Zahlen wachsen, liegt also nicht an einer verbesserten Rekrutierung, sondern an der massiven Weiterverpflichtungskampagne des Personalamtes. Ob die Erhöhung des Gesamtumfangs bis 2025 auf 203.000 Soldatinnen und Soldaten, inklusive Reservistenstellen, zu schaffen ist, weiß ich nicht. Interne Optimierung, auch eine Neubalancierung des Verhältnisses von militärischen und zivilen Dienstposten, ist mindestens genauso wichtig. Die Verschwendung von Arbeitskraft, Diensteifer und Lebensfreude in einer überorganisierten Verantwortungsvermeidungsstruktur kostet heute ganz bestimmt zu viel Personal. Eine interne Analyse spricht von „dysfunktionalen“ Strukturen. Das böse Wort wurde dann allerdings auf dem Weg nach oben gestrichen.

cpm: Ist eine Abschaffung des einfachen Dienstes, wie fast überall im öffentlichen Dienst, nicht auch bei den Streitkräften überfällig?

Dr. Bartels: Wollten wir die Bundeswehr mit der vor fünfundzwanzig Jahren reformierten Polizei vergleichen, lautete die Antwort eindeutig ja. Aber fürs Militär von heute würde das nach vielen Reformrunden noch einmal eine „Reform von Grund auf“ bedeuten – zu viel Veränderung im laufenden Betrieb! Also konkret in dieser Zeit: nein.

cpm: Sie haben das Ohr an der Truppe. Wie empfindet der Soldat seine Situation in einer gegenüber allem Militärischem sehr kritischen Gesellschaft?

Dr. Bartels: Gegenfrage: Wann war die Gesellschaft denn freundlicher gegenüber der Bundeswehr? Schon der allererste Wehrbeauftragte empfahl 1959 in einem Spiegel-Interview, in manchen Ruhrgebietsstädten am Freitagnachmittag besser nicht in Uniform aus dem Zug zu steigen. Ich empfehle Gelassenheit. Die Mehrheit in unserer Gesellschaft sieht die Bundeswehr und den Soldatenberuf positiv. Und die Gegenposition muss es in unserer Demokratie bis ins Parlament hinein auch geben. Konzentrieren wir uns bei der Forderung nach Hundertprozentigkeit nicht auf die öffentliche Meinung, sondern auf die hundertprozentige Ausstattung der Truppe mit Material!

cpm: In diesem Zusammenhang die Frage: Wie steht es um die Motivation unserer Soldatinnen und Soldaten?

Dr. Bartels: So und so. Sie warten auf spürbare Zeichen der begonnenen Trendwenden. Sie stehen unter einem starken Aufgabendruck. Sie federn durch persönlichen Einsatz, siehe oben, dysfunktionale Strukturen ab. Sie sind loyal. Und übrigens: In Europa will eigentlich jede andere Armee sehr gern mit der Bundeswehr zusammenarbeiten, weil die deutschen Soldatinnen und Soldaten so professionell, so verlässlich und so kameradschaftlich auftreten – und immer auf Augenhöhe operieren, auch gegenüber sehr viel kleineren Partnerstreitkräften. Das fällt positiv auf und ist gut für Deutschland.

cpm: Schweden hat vor über zwei Jahren die Wehrpflicht wieder eingeführt und fährt gut damit. Warum ist das kein Modell für uns?

Dr: Bartels: Wenn ich das schwedische Modell richtig verstehe, geht es da nicht um die Allgemeine Wehrpflicht, sondern um eine Auswahlwehrpflicht, wie sie hierzulande auch schon einmal die Weizsäcker-Kommission zu Rudolf Scharpings Zeiten vorgeschlagen hatte. Das wäre heute eine der organisatorischen Reserve-Möglichkeiten, wenn es mit der Neurekrutierung noch schwieriger werden sollte. Aber erstmal sollte das Verteidigungsministerium versuchen, mit seiner Personalstrategie für die reine Freiwilligenarmee erfolgreich zu sein. Dauerndes Umplanen verbessert weder die Einsatzbereitschaft noch die Motivation.

cpm: Was sind Ihre Wünsche für die Soldaten und Soldatinnen der Bundeswehr in nächster Zukunft?

Dr. Bartels: Schnelle Vollausstattung, neue Verantwortungskultur, kein Krieg.


Interview: Rudolf K. Schiwon


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