„Eine Europäische Armee kann die NATO ergänzen – aber nie ersetzen“ – Interview, 11.3.2020
Interview mit dem Wehrbeauftragten in der „Atlantik-Brücke – Impulse“ vom 11. März 2020
„Eine Europäische Armee kann die NATO ergänzen – aber nie ersetzen“
Frage: Herr Dr. Bartels, Ihr neues Buch handelt von der Europäisierung der Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Es beginnt mit einem Kapitel über das Wetter. Warum?
Bartels: Weil das eine der großen sicherheitspolitischen Herausforderungen ist, der sich die Staaten stellen müssen. Der Klimawandel führt zu zunehmender Unbewohnbarkeit ganzer Weltregionen, zu Migrationsströmen und Konflikten in Gegenden, die wie die Sahelzone und Teile des Nahen Ostens über die schwächsten Konfliktlösungsmechanismen verfügen. In Zukunft werden Kriege vielleicht nicht um Öl, sondern um Wasser geführt. Wir werden sehen, dass das Klima die sicherheitspolitische Großwetterlage beeinflusst.
Frage: Ist der Klimawandel für Sie ein bisher nicht hinreichend beachteter Problemkomplex der Sicherheitspolitik?
Bartels: Das Erschreckende ist, dass wir im Moment mit vielen Bedrohungen konfrontiert sind, die gleichrangig nebeneinander stehen. Der Klimawandel ist jetzt ins Bewusstsein gerückt und kommt auf die Agenda. Aber solange es beispielsweise immer noch riesige nukleare Waffenpotenziale gibt, ist auch das Risiko eines Atomkrieges nicht verschwunden, nur weil wir nach dem Ende des Kalten Krieges ein vierteljahrhundertlang hoffen durften, dass diese Gefahr wohl gebannt ist. Die erneuerte russische Militärdoktrin sieht zum Beispiel den Einsatz von substrategischen Nuklearwaffen in bestimmten Szenarien vor, mit denen sich die NATO beschäftigen muss.
Frage: Die aktuelle amerikanische Administration hat eine neue Tonalität im Umgang mit den Allianzpartnern angestimmt und, so behaupten manche, den verteidigungspolitischen Diskurs in Europa in Gang gebracht. Wie erklären Sie sich die politische Unpopularität dieses Themas über die vergangenen Jahrzehnte?
Bartels: Wir hatten nicht zu jedem Zeitpunkt die gleiche sicherheitspolitische Lage. Mit dem Ende des Kalten Krieges war ja zunächst eine Epoche heraufgezogen, die wir uns immer gewünscht hatten: Wir mussten keine Angst mehr vor einem Dritten Weltkrieg haben. Die Blockkonfrontation in Europa und weltweit war aufgelöst, die Staaten Mittel- und Osteuropas konnten frei entscheiden, welchen Weg sie gehen wollten. Politisch gab es die Chance auf eine freiheitliche Entwicklung für viel mehr Menschen als jemals zuvor in der Weltgeschichte. Freiheit, Kooperation und Partnerschaft lauteten die neuen Maximen dieser Zeit. Damit entfiel die Notwendigkeit, große konventionelle und atomare Abschreckungspotenziale aufrechtzuerhalten.
Von 1989/90 bis 2014 dauerte diese „Hoffnungsepoche“, wie sie Heinrich August Winkler nennt, in der wir uns darauf einstellen durften, dass Konflikte zwischen Staaten in Zukunft durch Verhandlungen und Verträge beigelegt werden, dass Militär dabei keine Rolle mehr spielt, dass Grenzen in Europa sicher sind und dass eben Kooperation und Partnerschaft die kommenden Jahrzehnte prägen.
Mit der Annexion der Krim und der Destabilisierung der Ostukraine endete diese Hoffnungsepoche. Das bedeutet nicht gleich, dass der Kalte Krieg wieder da ist. Heute steht auf der anderen Seite kein kommunistisches Weltreich, das seine Ideologie der ganzen Menschheit überstülpen möchte, kein Warschauer Pakt, keine Sowjetunion. Wir müssen nun allerdings auf die neue imperialistische Einflusssphärenpolitik Moskaus reagieren. Das zentral und autoritär gelenkte Russland stellt heute eine Bedrohung für unsere Bündnispartner im Osten Europas dar. Deshalb müssen wir mit der Realität fertig werden, dass ein Mindestmaß an Abschreckung in Europa wieder nötig ist. Wir Deutsche, wir Europäer, müssen uns für die multipolare, wertegebundene und regelbasierte Weltordnung stark machen. Und Stärke wird jetzt eben auch wieder eine militärische Kategorie, Betonung auf „auch“.
Frage: Von der neuen Bedrohungslage gibt es kein ausgeprägtes Bewusstsein in weiten Teilen der deutschen Bevölkerung. Wie kann es uns gelingen, dieses politisch herzustellen?
Bartels: Wir müssen die realen Bedrohungen thematisieren und rational diskutieren. Dabei sollten wir nicht mit falschen Bildern der Vergangenheit hantieren. Es geht heute nicht um Freiheit oder Kommunismus. Wir haben inzwischen ein breites Verständnis von Konfliktlagen in der Welt. Zum einen sehen wir überall eine Renationalisierung von Außenpolitik, zum anderen autoritäre Regime wie China, die sich als Alternative zur Demokratie darstellen. Auch im Inneren sind unsere demokratischen Gesellschaften herausgefordert durch Populismus, Autoritarismus, Antisemitismus, Rassismus und eine neue Art Fake-News-Globalisierung. Hinzu kommt, dass immer mehr Länder, wie heute die Türkei oder Saudi-Arabien, das Recht des Stärkeren für sich reklamieren. Wir haben es mit vielfältigen Infragestellungen einer regelbasierten Weltordnung zu tun. Aber wir dürfen sie deshalb nicht verloren geben!
Ich nehme die Einstellungsmuster in der deutschen Gesellschaft als durchaus ambivalent wahr. Es gibt Umfragen, in denen die Mehrheit unserer Mitbürger sagt, dass wir in der jetzigen Weltsituation mehr für unsere äußere Sicherheit tun sollten. Also darf die Bundeswehr etwas größer werden und mehr Geld aus dem Haushalt bekommen. Andererseits gibt es Umfragen, die ebenso bemerkenswert sind, in denen es um die Bündnisverlässlichkeit geht, zum Beispiel wenn etwas in den baltischen Staaten passieren sollte. Wäre dies der Bündnisfall, in dem Deutschland mit der NATO eingreifen muss? Deutschland ist den Umfragen zufolge einer der NATO-Mitgliedsstaaten, in denen keine 50 Prozent der Bürgerinnen und Bürger diese Frage bejahen. Dabei ist eigentlich klar, dass nur der feste Wille zur Bündnissolidarität wirksame Abschreckung garantiert.
Im Deutschen Bundestag stellt sich die Frage so nicht. Vier von sechs Fraktionen im Parlament sind einig mit Blick auf die Rolle, die Deutschland in NATO, EU und UN spielen soll. Da gibt es einen breiten Konsens. Allerdings würde ich mir von der Bundesregierung wünschen, gelegentlich einmal proaktiv das große Ganze von Deutschlands Rolle in der Welt zu formulieren und zu erklären. Ein Weißbuch zur Sicherheitspolitik alle vier Jahre könnte einen Anlass dazu geben. Es wäre im Parlament zu diskutieren.
Frage: Die wichtigste These Ihres neuen Buches lautet, dass Deutschland und die Europäische Union eine globale Mitverantwortung in internationalen Konflikten tragen und diese ein Ende „militärischer Kleinstaaterei“ erfordert. Sie schreiben: „Immer mehr muss jetzt die EU ein internationaler Akteur werden, auch als militärisches Bündnis, als europäischer Pfeiler unserer transatlantischen Allianz.“ Wie weit fortgeschritten ist die Bundesrepublik, ist Europa auf diesem Weg?
Bartels: Es gibt schon mehr Fortschritt, als man gemeinhin wahrnimmt. Wir sehen drei parallel laufende Prozesse. Da ist erstens das von Deutschland initiierte Framework Nations Concept (FNC) der europäischen NATO-Länder. Es zielt darauf ab, die Interoperabilität der NATO-Mitglieder in Europa zu stärken.
Zweitens sehen wir auf EU-Ebene PESCO, die Permanent Structured Cooperation, die im Vertrag von Lissabon schon angelegt war, aber erst gesondert aktiviert werden musste. Katalysator für den Wunsch, europäische Handlungsfähigkeit in der Verteidigungspolitik zu demonstrieren, war die Brexit-Entscheidung 2016. Inzwischen beteiligen sich 25 EU-Mitglieder an PESCO. Auch hier geht es wie beim FNC um Projekte der Zusammenarbeit und um die Standardisierung von Ausrüstung, Training und Organisationsstrukturen.
Drittens gibt es die bi- und multinationalen Kooperationen. Dieser Pfad der Europäisierung scheint mir am weitesten fortgeschritten. Es handelt sich um Integrationsprojekte wie zwischen Belgien und den Niederlanden, die ein gemeinsames Marine-Hauptquartier betreiben, oder die Eingliederung der beiden niederländischen Heereskampfverbände in zwei deutsche Divisionen. Diese tiefe Integration im Grundbetrieb ist beispielhaft.
Frage: Und dennoch steht die Europäisierung der Verteidigung vor großen Hürden: Der politische Wille in den europäischen Hauptstädten ist nicht überall gleich ausgeprägt, das Meinungsbild in der Bevölkerung ist unterschiedlich, ebenso wie die Interessenslagen der Bündnispartner innerhalb der NATO.
Bartels: Das Wichtigste ist, Meinungsverschiedenheiten und unterschiedliche Rationalitäten auf ehrliche Weise zu thematisieren – in dem Willen, sich zu einigen. Phrasen hat es genug gegeben. Am weitesten auseinander liegen offenbar Deutschland und Frankreich, aufgrund der Geschichte, der strategischen Kulturen und der objektiven Gegebenheiten. Beide wollen sich aber einigen. So steht es zum Beispiel im Vertrag von Aachen, dem neuen deutsch-französischen Freundschaftsvertrag, der unter anderem einen neuen deutsch-französischen Sicherheitsrat ins Leben gerufen hat. So diskutiert es auch die neue deutsch-französische Parlamentarische Versammlung.
Frankreich ist Mitglied im UN-Sicherheitsrat mit Vetorecht, hat Atomwaffen und ein verflossenes Kolonialreich mit 40 Staaten weltweit im Rücken, in denen Französisch gesprochen wird. Die Lage Deutschlands ist komplett anders. Wir haben versucht, unsere schlimme Vergangenheit glaubwürdig aufzuarbeiten, Gott sei Dank mit Erfolg. Uns wird heute in der Welt die Funktion des ehrlichen Maklers zugetraut. Wir haben einen guten Ruf, auch weil wir eine Kultur militärischer Zurückhaltung als Lernerfahrung aus unserer Geschichte pflegen. Wenn wir in Deutschland über militärische Integration sprechen, ist unsere erste Frage, wie wir verbindliche Strukturen schaffen können, die die Notwendigkeit des Einsatzes militärischer Gewalt so unwahrscheinlich wie möglich machen. Im Dritten Weltkrieg wäre ja die Front mitten durch Deutschland gelaufen. Die Franzosen dagegen stellen zuerst die Frage, wie Strukturen aufgebaut werden können, mit denen ihre eigenen militärischen Interventionsaufgaben weltweit Unterstützung durch andere erfahren können: Frankreich hatte ja auch nach dem Zweiten Weltkrieg in Übersee Kolonialkriege zu führen, die ausgesprochen opferreich waren. Franzosen sehen die Welt erst einmal anders, als Deutsche das tun.
Frage: Dies würde nahelegen, dass die Staaten in Europa nur dann zur Kooperation bereit sind, solange sie eigenen Interessen dient. Was stimmt Sie optimistisch, dass der politische Wille zur Kompromissbereitschaft anhält?
Bartels: Man unterschreibt Verträge mit dem Ziel, sich zu einigen. Alle politischen Signale stehen auf Integration und Kooperation. Natürlich gibt es Probleme. Aber es sind gute Probleme, weil wir sie mit Partnern teilen. Hier bedroht niemand den anderen. Man muss nur erst einmal anerkennen, dass wir aus unterschiedlichen Positionen auf die Bedrohungen und Gefahren der Gegenwart schauen. Ein schlechtes Problem wäre, keine Partner zu haben, mit denen wir uns streiten können.
Frage: Seit einiger Zeit diskutieren Experten für Verteidigungspolitik die Idee einer strategischen Autonomie in Fragen europäischer Außen- und Sicherheitspolitik. Was verstehen Sie konkret darunter?
Bartels: Autonomie heißt vor allem, dass wir einen eigenständigen europäischen Pfeiler in der transatlantischen Allianz brauchen. Wenn in den USA immer erst entschieden werden müsste, ob Kalifornien Truppen ins Baltikum verlegt oder ob New York das tut, dann hätte man auch dort Friktionen und Effizienzverluste, wie wir sie in Europa kennen. Die Amerikaner aber haben eine Armee. In Europa haben wir – NATO und EU – 32 verbündete Armeen. Das wäre richtig viel Power: mehr als 1,5 Millionen Soldaten! Aber es ist keine Armee. Wir brauchen also eine effektivere Organisation unserer aller Streitkräfte. Es geht letztlich darum, die 32 unterschiedlichen Armeen, die nach 1990 jeweils für sich national reduziert wurden, nach und nach zu einem funktionsfähigen Ganzen zusammenzufügen. Oder erstmal die vielleicht 20 Armeen, die schon zusammengehen wollen. Niemand muss, alle können.
Besser ist es.
Strategische Autonomie für Europa bedeutet, auch dann handlungsfähig zu sein, wenn die NATO nicht als Ganzes betroffen ist. In Afrika oder im Nahen Osten muss es außer der NATO andere Akteure geben können, zum Beispiel in der Sahel-Region. Hier sollte die Europäische Union aus sich heraus handlungsfähiger werden. Auf dem Balkan in den 90er Jahren konnten die Europäer, so gern sie es gewollt hätten, noch nicht ohne die Amerikaner aus eigener Kraft die Waffen zum Schweigen bringen. Aus US-Perspektive war der post-jugoslawische Bürgerkrieg tatsächlich eher ein regionales, ein europäisches Problem.
Und außerdem brauchen wir natürlich eine eigenständige europäische Wehrtechnik. Auch das ist Voraussetzung für einen gewissen Grad an strategischer Autonomie. Europa darf sich industriell von Lieferungen etwa aus den USA nicht zu abhängig machen, denn diese bringen immer Restriktionen mit sich. Modernste Waffensysteme kann man dort zwar kaufen, aber ein Teil der Technik bleibt gerne mal in den USA, weil sie wie im Fall des Eurohawk nicht exportierbar ist. Die Europäer sollten dagegen in der Lage sein, moderne Waffensysteme technisch selbst so weiterzuentwickeln, wie sie es wollen.
Frage: Tritt ein wie auch immer geartetes europäisches Verteidigungsbündnis an die Stelle der NATO, oder geht es um eine komplementäre Lösung?
Bartels: Das kann nur komplementär funktionieren. Es gibt nicht um Ersetzen. Der Existenzgrund der NATO ist die Verteidigung des Westens, klassischerweise die Verteidigung Europas. Nach dem 11. September 2001 ging es übrigens auch um Solidarität mit Amerika.
Frage: Wesentlich älter als der Begriff der strategischen Autonomie ist die Vorstellung einer „Europäischen Armee“. Unsere amerikanischen und kanadischen Partner in der NATO betrachten dies mitunter mit Skepsis, aus Sorge um die Stärke des atlantischen Bündnisses. Würde die strategische Autonomie aus Ihrer Sicht zwingend in den Aufbau einer Europäischen Armee münden?
Bartels: Die beste Realisierung der strategischen Autonomie ist eindeutig die Integration der einzelnen nationalen Armeen in einer Europäischen Armee. Das ist ein Generationenprojekt, keine Tagesaufgabe. So wie es für viele europäische Staaten positiv war, zunächst die Währungsschlange zu begründen und den ECU als Verrechnungseinheit einzuführen, um dann ein Vierteljahrhundert später, 2002, den Euro als Einheitswährung zu etablieren, so verhält es sich mit der militärischen Integration. Währung ist genauso wie Verteidigung ein zentrales Element des klassischen nationalen Souveränitätsverständnisses. Aber weil wir diese Souveränität real nicht mehr alleine ausüben können, hat sich in Europa die Einsicht durchgesetzt, dass wir gemeinsame Anliegen besser gemeinsam verfolgen.
Frage: Welche Konsequenzen hätte eine eigenständige europäische Streitkraft für den europäischen NATO-Pfeiler und die jahrzehntelange, höchst erfolgreiche Zusammenarbeit mit unseren transatlantischen Partnern? In Ihrem Buch bemerken Sie dazu Folgendes: „Zum gegenwärtigen Zeitpunkt würden europäische Verhandlungen über die Gründung einer Europäischen Armee eher Abstoßungsreaktionen, Zwietracht und Verhärtungen hervorrufen.“
Bartels: Wir sollten uns jetzt auf das konzentrieren, was praktisch möglich ist. Und das ist relativ viel. Ich setze auf die normative Kraft des Faktischen: Je mehr Verbindungen und Verbindlichkeit es im Militärischen gibt, desto mehr muss man auch politische Einigkeit herstellen. Indem wir die Fähigkeiten verschmelzen, wird das Bewusstsein für die Notwendigkeit gemeinsamen Handelns größer.
Frage: Wie bewerten Sie das Spannungsverhältnis zwischen den USA und Europa mit Blick auf faire Lastenteilung einerseits und Skepsis in Bezug auf strategische Autonomie andererseits?
Bartels: Diese Konfliktkonstellation begleitet uns seit Jahrzehnten. Es gibt gute Gründe dafür, dass wir in eine vernünftige Balance kommen, was das Verhältnis des europäischen Beitrags zum amerikanischen Verteidigungsbeitrag angeht. Europa muss mehr leisten können. Aber Europa kann und muss sich nicht alleine verteidigen. Wir konkurrieren nicht mit den USA und veranstalten auch kein Wettrüsten mit ihnen.
Frage: Gilt grundsätzlich noch das gegenseitige Sicherheitsversprechen der NATO und die Bereitschaft, zu handeln, wenn es zu einem russischen Einmarsch im Baltikum käme?
Bartels: Es gibt Fragen, die sich erst konkret stellen müssen, damit realistisch die richtige Antwort gegeben werden kann. Fragen von Krieg und Frieden gehören dazu. Abstrakt wollen wir alle den Einsatz militärischer Gewalt vermeiden. Ein Beispiel aus einem anderen Bereich: Als es zur Atomkatastrophe von Fukushima kam, gab es plötzlich selbst im konservativen Lager Deutschlands klare Mehrheiten dafür, aus der Atomenergie auszusteigen, weil das existenzielle Problem unmittelbar sichtbar wurde. Wenn ein Problem manifest wird, also die Bedrohung wirklich zu sehen oder eingetreten ist, dann wird die Solidarität da sein. Das wäre meine Prognose.
Frage: Hatte der besondere Druck, den die US-Administration seit 2017 auf Europa, insbesondere auf Deutschland, aufgebaut hat, die Verteidigungsausgaben auf 2 Prozent des BIP zu erhöhen und den Zusagen von Wales nachzukommen, einen kontraproduktiven Effekt? Es verfestigt sich damit bei vielen der Eindruck, es gehe hier vornehmlich um ein Diktat des Präsidenten – und das prägt Stil und Richtung der Debatte. Dabei entspricht es Deutschlands und Europas strategischem Interesse, mehr für die eigene Sicherheit zu tun.
Bartels: Die Verbesserung der europäischen Verteidigungsfähigkeiten ist längst vor Trump auf den Weg gebracht worden. Gleichzeitig verfolgen aber alle Europäer das Ziel, auch nicht zu viel Geld dafür ausgeben zu müssen. Wir brauchen grundsätzlich nicht mehr als 1,5 Millionen Soldaten in Europa. Diese müssen allerdings vollständig ausgerüstet und effektiv organisiert sein. Dass Deutschland da mehr tun muss, ergibt sich schon aus den Berichten zur materiellen Einsatzbereitschaft der Hauptwaffensysteme der Bundeswehr seit 2014, die damals der Verteidigungsausschuss von der Bundesregierung gefordert hatte. Die Bundeswehr als Ganzes ist zur kollektiven Verteidigung heute noch nicht einsatzfähig. Meine erste Forderung als Wehrbeauftragter war daher die Vollausstattung der Bundeswehr, und zwar im Sinne von vollständiger Ausrüstung, nicht von Aufrüstung und Aufwuchs. Die Bundeswehr soll lediglich von 185.000 auf etwa 200.000 Soldaten vergrößert werden.
Frage: Was ist das schwerwiegendste Problem im Prozess der verbesserten Verteidigungsfähigkeiten der Bundeswehr?
Bartels: Der Prozess dauert zu lange, weil immer noch die Beschaffung ein Riesenproblem darstellt. Das Beschaffungsmanagement löst die Probleme der Bundeswehr im Moment nicht gut. Man könnte schneller Erfolge produzieren, wenn Strukturen und Prozesse nicht so dysfunktional wären. Nahe läge es auch, einen ersten Schwerpunkt auf die persönliche Ausstattung der Soldaten zu legen. Das Ziel sollte es sein, jetzt alle Bundeswehrsoldatinnen und -soldaten komplett und modern auszustatten: von der Kampfbekleidung und dem Gefechtshelm mit interaktivem Gehörschutz und Sprechsatz über Nachtsichtgeräte bis hin zur Schutzweste und zum Rucksack. Doch die Regierung ist zögerlich, sie beantragt regelmäßig weniger Geld, als das Parlament am Ende im Haushalt bewilligt. Das ist schon kurios. Und dann müsste man auch noch dafür sorgen, dass das Geld wirklich abfließt.
Frage: Die Bundeswehr beteiligt sich derzeit an elf mandatierten internationalen Einsätzen. Die Friedensdividende nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes ist längst aufgebraucht. Unter der ehemaligen Verteidigungsministerin von der Leyen wurde eine Trendwende bei Personal, Material und Mitteln eingeläutet. Wie müssten die harten Kennziffern der Bundeswehr in Bezug auf Umfang des Geräts in den jeweiligen Teilstreitkräften und Anzahl der Einsätze Ihrer Meinung nach aussehen, damit der deutsche Beitrag Europa angemessen mitverteidigen würde?
Bartels: In der gegenwärtigen Situation ist es angemessen, was die Bundeswehr unter Anspannung ihrer Kräfte leistet. Sie hat 2019 den Kern der NATO Response Force gestellt, also eine schnelle Brigade. Wir tragen Verantwortung für eine der vier NATO-Battlegroups in den drei baltischen Staaten und Polen, und zwar in Litauen. Deutschland ist die einzige kontinentaleuropäische Nation, die dort solche Verantwortung übernommen hat. Dazu kommt Anfang 2020 die NATO-Readiness-Initiative mit 7.500 deutschen Soldaten, zusätzlich. Kurzum: Deutschland nimmt seine aktuellen Friedens-Verpflichtungen ernst und kommt ihnen nach.
Frage: Werfen wir noch einen Blick auf die Vereinigten Staaten. Sie konstatieren, dass sich Amerika als traditionelle Schutzmacht Europas zurückzieht und strategisch längst neu ausrichtet. Kann dies in letzter Konsequenz auch dazu führen, dass der nukleare Schutzschirm der USA tatsächlich eines Tages eingespannt werden wird und Europa vor sicherheitspolitischen Fragen größter Tragweite stehen wird?
Bartels: Das kann ich mir nicht vorstellen und will es auch nicht. Das wäre eine sicherheitspolitische Frage von globaler Bedeutung. Zögen die USA sich zurück, überließen sie anderen Akteuren das Feld, die sich dann sofort ganz anders aufstellen würden. In der Realität sehen wir gegenwärtig, dass die USA ihr militärisches Engagement in Europa verstetigen und in der Tendenz verstärken. Gerade jetzt wird eine zusätzliche US-Artilleriebrigade nach Deutschland verlegt.
Frage: Was macht Ihnen Angst, und was lässt Sie hoffen?
Bartels: Angst macht die Unübersichtlichkeit und Vielfalt der Bedrohungen, die wir im Moment erleben. Mit Blick auf Cyberattacken, den Klimawandel, hybride Kriegsformen, den totalitären Dschihadismus, Failed States und atomare Bedrohungen müssen wir feststellen: All das macht uns Sorgen. Auch übrigens die zunehmenden innergesellschaftlichen Polarisierungen. Hoffnung schöpfen wir aus der Kraft des trotz aller Widerstände zusammenhaltenden Europas. Der Wille zur Selbstbehauptung ist da, hoffe ich.
Interview: Robin Fehrenbach und David Deißner