Parlament

Kolumne der Wehrbeauftragten - September 2021

Eine Frau mit blonden Haaren und hellblauem Blazer steht vor einer Betonwand.

Wehrbeauftragte Eva Högl (DBT/Inga Haar)

Liebe Soldatin, lieber Soldat,

die nachfolgende Kolumne entstand vor den Ereignissen in Afghanistan der letzten Tage und Wochen. Die Dynamik und Dramatik dessen, was seit der Machtübernahme der Taliban geschehen ist, war zu diesem Zeitpunkt für mich – wie für viele andere – nicht annähernd zu erahnen. Die für den 31. August geplante gesamtstaatliche Würdigung des Afghanistan-Einsatzes wurde folgerichtig vorerst abgesagt. Vor diesem Hintergrund bitte ich, meine Kolumne zu lesen und zu verstehen. In meiner Kolumne spreche ich von großen, wenn auch fragilen Fortschritten, die Afghanistan politisch, gesellschaftlich und wirtschaftlich erreicht hat. Wie fragil diese sind, haben die letzten Tage offenbart.

Ich bin sehr erleichtert, dass alle Soldatinnen und Soldaten, das Botschaftspersonal sowie Kräfte der Bundespolizei wohlbehalten in Deutschland angekommen sind. Sie alle haben Herausragendes geleistet, um so viele deutsche Staatsbürgerinnen und Staatsbürger ebenso wie afghanische Ortskräfte und ihre Familien wie möglich aus Kabul herauszuholen. Für diesen Evakuierungseinsatz gebührt ihnen unser allergrößter Respekt und unsere Anerkennung.

Die Ereignisse der letzten Tage und Wochen verdeutlichen noch einmal, wie wichtig und geboten eine umfassende und vor allem schonungslose Bilanz des Afghanistan-Einsatzes ist – vom Beginn vor nunmehr zwanzig Jahren bis zum Abzug und der Evakuierungsoperation zuletzt. Daraus gilt es, Lehren und Konsequenzen zu ziehen für aktuelle und künftige Einsätze der Bundeswehr im Ausland.

Mit herzlichen Grüßen

Eva Högl, 
Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages


Am 30. Juni sind die letzten 264 deutschen Soldatinnen und Soldaten aus Afghanistan zurückgekehrt. Alle sind sicher zuhause bei ihren Familien und Freunden angekommen. Das war und ist das Allerwichtigste. Der Abzug war perfekt vorbereitet und organisiert – bis auf ein kleines, jedoch wichtiges Detail.

Bei ihrer Ankunft in Wunstorf wurden die Rückkehrerinnen und Rückkehrer von Generalleutnant Pfeffer, Befehlshaber des Einsatzführungskommandos, empfangen. Kein politischer Vertreter oder politische Vertreterin hat am Empfang teilgenommen – weder die Verteidigungsministerin oder ihre Staatssekretäre noch Abgeordnete des Deutschen Bundestages. Im Nachhinein muss man feststellen: Das war ein Fehler.

Rund 160.000 Soldatinnen und Soldaten waren in den vergangenen 20 Jahren am Hindukusch im Einsatz. Sie haben einen herausragenden Beitrag dazu geleistet, dass das Land nicht länger ein safe haven islamistischer Terroristen ist und politisch, gesellschaftlich und wirtschaftlich große, wenn auch fragile Fortschritte gemacht hat. 59 Soldaten verloren ihr Leben in Afghanistan, 35 von ihnen bei Anschlägen oder Gefechten. Viele weitere wurden körperlich verwundet oder tragen seit ihrem Einsatz seelische Narben, die sie bis heute spüren.

Ohne Frage: Afghanistan war der bislang intensivste und prägendste Einsatz der Bundeswehr. Die Rückkehr der letzten Soldatinnen und Soldaten besaß daher eine besondere Symbolik und Bedeutung. Und diese hätte bei der Ankunft durch eine politische Vertretung gewürdigt werden müssen. Schließlich waren es die politische Führung und der Deutsche Bundestag, die unsere Soldatinnen und Soldaten nach Afghanistan schickten.

Dabei hätte es gar keiner großen Worte oder Ansprache bedurft. Die bloße Anwesenheit als Tat hätte genügt. Die Symbolik solch einer Geste wurde – leider – unterschätzt.

Dabei sind die Anerkennung und Wertschätzung des Deutschen Bundestages für alle Soldatinnen und Soldaten, die in Afghanistan im Einsatz waren, sehr groß. Das machte eine Aktuelle Stunde am 23. Juni deutlich, in der sich der Bundestag an herausgehobener Stelle mit dem Afghanistan-Einsatz befasste. Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble dankte – im Namen des Bundestages und unter großem Beifall aller Bundestagsfraktionen – allen Einsatzsoldatinnen und -soldaten für ihre Einsatzbereitschaft und dafür, dass sie ihre Gesundheit und ihr Leben riskiert haben. Auf der Ehrentribüne waren während der Aktuellen Stunde sechs Soldatinnen und Soldaten, stellvertretend für die Teilstreitkräfte und Organisationsbereiche als Afghanistan-Rückkehrerinnen und -Rückkehrer, anwesend.

Für den 31. August ist nun eine gesamtstaatliche Würdigung des Einsatzes geplant. Angesichts der „unglücklichen“ Ankunft in Wunstorf ist es wichtig, dass diese nun in besonderem Maße dem Einsatz Rechnung trägt. An verschiedenen Orten in Berlin sind Veranstaltungen geplant, an denen der Bundespräsident, die Bundestagspräsidenten, die Bundeskanzlerin, die Verteidigungsministerin und viele Abgeordnete teilnehmen werden.

Ein Großer Zapfenstreich auf dem Platz der Republik vor dem Reichstag soll den Abschluss markieren.

Diese Planungen begrüße ich ausdrücklich. Es wird wichtig sein, dass möglichst viele Soldatinnen und Soldaten, aktive wie ehemalige, versehrte wie unversehrte, Angehörige und Hinterbliebene teilnehmen. Ihnen gebühren unsere Anerkennung und unser Dank.

Zu einer angemessenen Würdigung des Afghanistan-Einsatzes gehört auch, Bilanz zu ziehen. Welche Ziele haben wir in 20 Jahren erreicht und welche nicht? Was können wir für andere und künftige Einsätze lernen? Hierüber muss politisch und gesellschaftlich breit, offen und auch schonungslos diskutiert werden. Der nächste Deutsche Bundestag sollte hierfür eine Enquete-Kommission einrichten. Sie wäre ein ideales Format, um den Afghanistan-Einsatz in all seinen Facetten und mit allen relevanten Akteuren umfassend zu bilanzieren.

Mit herzlichen Grüßen

Eva Högl, 
Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages

Marginalspalte