16.01.2025 2. Untersuchungsausschuss — Ausschuss — hib 25/2025

Lindner: Jede Möglichkeit für jedes Stromangebot

Berlin: (hib/FLA) Für FDP-Chef Christian Lindner trat nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine am 24. Februar 2022 der „Ernstfall der selbstverschuldeten Erpressbarkeit“ ein: gewaltige Probleme in der Energieversorgung, als Lieferungen von Gas und Öl aus Russland immer mehr gegen Null gingen, weil „ab 2014 die Zeichen der Zeit nicht erkannt wurden“. Hat die Ampel-Koalition insbesondere mit Blick auf die Kernenergie darauf angemessen reagiert? Um diese Frage kreisen die Zeugenvernehmungen des 2. Untersuchungsausschusses „Atomausstieg“ des Bundestags unter der Leitung von Stefan Heck (CDU).

Die Ausschussmitglieder haben kurz vor Abschluss der Zeugenvernehmungen jetzt den damaligen Bundesfinanzminister befragt. Seine Devise sei es gewesen, „jede Möglichkeit für jedes Stromangebot“ auszuschöpfen, sagte Lindner. Er wiederholte immer wieder, es sei bei allen Überlegungen um Versorgungssicherheit und Energiepreise gegangen.

Das sahen auch seine Koalitionspartner so ähnlich. Nur: Gegen längere Laufzeiten der letzten drei damals noch im Betrieb befindlichen Atomkraftwerke Isar 2, Neckarwestheim II und Emsland, wie von der FDP gefordert, gab es Widerstand von der „G-Seite“, wie es Lindner ausdrückte. Sein Ministerium habe im Laufe der nächsten Monate überhaupt erst durchsetzen müssen, am Krisenmanagement der Regierung beteiligt zu werden.

Die Bundesministerien für Umwelt und Verbraucherschutz (BMUV) sowie Wirtschaft und Klimaschutz (BMVK) hatten sich am 7. März 2022 auf einen „Prüfvermerk“ geeinigt und dem Kanzleramt vorgelegt, demzufolge eine weitere Nutzung der drei Atommeiler, deren Laufzeit per Gesetz zum Jahresende auslief, mit Sicherheitsrisiken verbunden wäre und kaum Nutzen brächte.

Zwar hatte Wirtschaftsminister Robert Habeck (Bündnis 90/Die Grünen) eine ergebnisoffene Prüfung aller Optionen angekündigt. Doch in Lindner wuchsen nach eigenem Bekunden Zweifel daran. Widersprüche seien aufgetaucht. So sei wohl von BMUV und BMWK der Hinweis gekommen, Brennstoff für die Atomkraftwerke könne nur aus Russland bezogen werden. Das sei falsch, hätten die Vorleute von Eon, RWE und ENbw bei einer Telefonschalte mit Scholz, Habeck und Lindner erklärt. Der Kanzler habe sich überrascht gezeigt.

Zu dem Zeitpunkt waren indes Zweifel am Befund des „Prüfvermerks“ längst öffentlich diskutiert worden. Zwei Stresstests mit Stromversorgungs-Szenarien waren durchgespielt worden. Scholz, Habeck und er hätten sich Mitte Oktober darauf geeinigt, die Laufzeit der besagten drei Kernkraftwerke bis in den April hinein zu verlängern, so Lindner. Dass die Emsland-Anlage im Gegensatz zum Willen des grünen Koalitionspartners dabei war, wertete er als Verhandlungserfolg. Zurückgesteckt habe die FDP bei der Laufzeit. Sie habe noch den Winter 2023/2024 mit einbeziehen wollen.

In diesen Fragen machte Lindner bei den Grünen harte interne Machtauseinandersetzungen aus. Er habe sich die Frage gestellt, wo man gegen den Identitätskern eines Koalitionspartners stoße. Bei der Bundesversammlung der Grünen vom 14. bis 16. Oktober 2022 wurde jedenfalls ein Antrag beschlossen, der nur den Weiterbetrieb von zwei Atomkraftwerken, verbunden mit einer Reihe von Bedingungen, vorsah. Emsland sollte, wie vorgegeben, zum Jahresende abgeschaltet werden.

Doch Scholz habe sich mit Habeck und ihm auf die Dreierlösung geeinigt, sagte Lindner. Und die setzte der Kanzler mit seiner Richtlinienkompetenz als Regierungschef am 17. Oktober 2022 dann auch durch. Einen pragmatischen Schritt nannte dies der FDP-Chef.

Im Kanzleramt war der Beschluss der Grünen ohnehin mit Fassung zur Kenntnis genommen worden. Der Text des Antrags sei übliche Parteitagslyrik, schmunzelte Kanzleramtsminister Wolfgang Schmidt (SPD), der nach Lindner auf dem Zeugenstuhl Platz genommen hatte.

Er strich heraus, dass Scholz schon 2021 die Frage gestellt habe, was eigentlich passiere, wenn Russland Deutschland das Gas abdreht - immerhin ein Szenario, dass es selbst im Kalten Krieg nicht gegeben habe. Immer wieder sei die Frage auch in der „Bunkerrunde“ angesprochen worden, einem regelmäßigen Treffen in einem abhörsicheren Keller im Kanzleramt. Der Chef eines ausländischen Energieunternehmens habe ihn früh gewarnt: „Nehmt den schlimmstmöglichen Fall an.“

Der Bundeskanzler und er hätten sich ergebnisoffen und undogmatisch mit der Thematik befasst, erklärte Schmidt. Er sei der Überzeugung, dass die Laufzeitverlängerung richtig war. Und das begleitende Gezerre? Für ihn ein Ampel-Symptom: Beide Koalitionspartner der SPD seien halt in unterschiedliche Richtungen gelaufen.