Wettlauf gegen möglichen Gas-Lieferstopp
Berlin: (hib/NKI) Die ökonomischen Auswirkungen des Ukraine-Kriegs auf die Energieversorgung in Deutschland sind am Montagnachmittag Thema einer öffentlichen Anhörung im Ausschuss für Klimaschutz und Energie gewesen.
Die Mehrheit der insgesamt 13 Sachverständigen hat vor einem Gas-Embargo gewarnt und verwies auf die drastischen Folgen, die vor allem eine „schockartige Unterbrechung von russischen Gaslieferungen“ hätte. Wirtschaft und private Verbraucher müssten sich auch ohne Lieferunterbrechungen auf weiter steigende Energiepreise einstellen.
Tom Krebs, Professor für Makroökonomik an der Universität Mannheim, warnte bei einem sofortigen Lieferstopp von Gas durch Russland „im ungünstigsten Fall“ vor einer „Krise, die Deutschland noch nie erlebt hat“. Nicht nur die sozialen Folgen wären stärker als bei der Finanzmarktkrise 2009 und bei der Corona-Pandemie 2020, ein Minus von fünf Prozent des BIP und darüber hinaus stände im Raum.
Auch Karen Pittel, Professorin für Volkswirtschaft und Leiterin am ifo-Zentrum für Energie, Klima und Ressourcen, mahnte, dass ein Zusammenbruch der Erdgasversorgung auf jeden Fall vermieden werden müsse. Dazu seien Reduzierungen des Gas-Verbrauchs von Wirtschaft und privaten Haushalten nötig, aber auch die Suche nach Alternativen, wie beispielsweise der Aufbau einer Versorgung mit Fracking-Gas über LNG-Terminals.
Jens Südekum, Professor für Internationale Volkswirtschaftslehre an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK), schloss sich den Äußerungen von Herbst und Pittel an. Er gab aber noch zu bedenken, dass die aktuellen Berechnungen zu Szenarien eines Gas-Lieferstopps Verluste von drei bis neun Prozent sähen. Das seien jedoch Berechnungen, die keinen „schockartigen Lieferstopp miteinbeziehen“, da ein Sofortstopp sehr schwer hervorsehbare Folgen hätte. Südekum plädiert für die Ausweitung von Anpassungsmaßnahmen, wie sie derzeit bereits laufen, wie zum Beispiel die Suche nach alternativen Lieferanten und der Aufbau einer eigenen Infrastruktur.
Einen anderen Weg schlug Professor Hans-Jürgen Kretzschmar, Technische Universität Bergakademie Freiberg und Experte für Untertagespeichertechnik, vor. Er sprach sich für Fracking in Deutschland aus. Bodenschätze gebe es genug, und die Arbeiten der Erkundung, wie viel Gas gewonnen werden könnte, würden rund ein Jahr dauern.
Kerstin Andreae, Vorsitzende der Hauptgeschäftsführung des Bundesverbands der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW), hat noch eine andere Idee. Sie verwies auf eine Studie, die ihr Haus erst kürzlich veröffentlicht habe, wonach 20 Prozent Gas eingespart werden könnten. Zusammen mit einem Auffüllen der Gasspeicher würde es im Winter dann bei Unternehmen und bei privaten Verbrauchern nicht zu Versorgungsengpässen kommen.
Auch Carsten Rolle, Leiter der Abteilung Energie- und Klimapolitik beim Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI), und Sebastian Bolay, Leiter Referat Energiepolitik Deutscher Industrie- und Handelskammertag (DIHK), sprachen sich für Einsparungen aus. Beide forderten allerdings auch, Kohlekraftwerke länger laufen zu lassen, und gaben zu bedenken, dass das bisherige Wirtschaftsmodell „Russland als Lieferant für Erdgas und Erdöl“ nicht länger funktioniere. Die Transformation werde dazu führen, dass „die Energiepreise massiv steigen“, für Wirtschaft und für die Verbraucher.
Von Seiten der Industrie kamen Warnungen, welche Folgen ein Lieferstopp Russlands hätte. Einige Unternehmen stellten bereits jetzt Planungen an, ihre Produktion in die USA zu verlegen. Andreas Niedermaier, Vorstandsvorsitzender Alzchem Group AG, ein Chemieunternehmen mit Sitz im oberbayerischen Trostberg im Landkreis Traunstein, berichtete über solche Maßnahmen. Sein Unternehmen stelle nicht nur Vorprodukte für Coronatests und Produkte für Krebs- und Aids-Medikamente her, sondern auch Gaschemikalien für Airbags in Autos. Alzchem verbrauche rund 700 Gigawatt Stunden Strom pro Jahr, der Verbrauch, den in etwa 160.000 Haushalte haben. Bereits in diesem Jahr habe das Unternehmen 80 bis 100 Millionen Euro Kostensteigerungen, bei einem Umsatz von knapp 480 Millionen Euro. Sollte es in den nächsten Wochen oder Monaten zu einem Gas-Stopp kommen, würde das die Fertigung stilllegen.
Eine solche Entwicklung hätte für die Firmen, die Johann Overath, Hauptgeschäftsführer Bundesverband Glasindustrie, vertritt, „einen Totalschaden“ zur Folge. Glaswannen könnten nicht einfach heruntergefahren werden, weil die Wannen nicht wieder zu verwenden seien. Der Aufbau neuer Glaswannen würde mehrere Jahre dauern. Die Branche habe 54.000 Arbeitsplätze in Deutschland und einen Umsatz von zehn Milliarden Euro. Hergestellt würden neben Glasscheiben auch Getränkeverpackungen. Die deutsche Glasindustrie habe in Europa einen Anteil von 20 Prozent. „Wir sind zu 100 Prozent auf Gaslieferungen angewiesen“, betonte Overath.
Noch größere Verwerfungen fürchten die Stahlunternehmen. Roderik Hömann, Leiter der Energie und Klima bei der Wirtschaftsvereinigung Stahl, gab an, dass 87.000 Arbeitsplätze bei einem Lieferstopp vor dem Aus stünden. Eine Reduzierung der Stahlproduktion würde nicht nur den Automobilbau, sondern auch die geplanten Maßnahmen zum Erreichen der Klimaziele verlangsamen oder beeinträchtigen. Es gelte zweispurig zu fahren: Gas einzusparen und Gasvorkommen zu heben.
Die Verbrauchervertretungen mahnten zu mehr und weiteren Entlastungen. Frederik Moch, Leiter der Abteilung Struktur-, Industrie- und Dienstleistungspolitik im Bundesvorstand des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB), verwies auf steigende Energiepriese, die „Private und Industrie belasten“. Das behindere zum einen die nötige Transformation und werde immer mehr „zur sozialen Frage“. Bei möglichen Lieferstopps werde es zu erheblichen wirtschaftlichen Einschränkungen kommen. Das werde auch Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt haben, und erstmals seit vielen Jahren seien auch hochqualifizierte Arbeitnehmer bedroht. Auswirkungen eines Lieferstopps von Energie, werde die gesamte EU spüren und das werde eine Destabilisierung der liberalen Demokratie zur Folge haben.
„Wir raten dringend davon ab, auf russisches Gas heute oder morgen zu verzichten“, sagte Klaus Müller, Präsident der Bundesnetzagentur. Trotzdem sei die Lage erkannt und Krisenstäbe und Krisenzentren seien im Aufbau. Um an belastbare Daten zu kommen, laufe derzeit eine Umfrage zum Energieverbrauch. Die Bundesnetzagentur ermittle unter großen Gasverbrauchern die Bedarfe, auch um sich ein Bild davon zu verschaffen, welche Unternehmen systemrelevant sind oder durch eine Unterbrechung oder Reduzierung der Gaszufuhr besonders große Schäden erleiden würden.
Eine solche Umfrage benötigt die Stadt Schwedt nicht, dort ist jedem bewusst, dass ohne das russische Öl oder ein vergleichbares Produkt, nicht nur die Lichter der brandenburgischen Stadt, sondern gleich im gesamten Bundesland, in Berlin und in Teilen von Süd-Mecklenburg-Vorpommern und in Westpolen ausgehen würden. Annekathrin Hoppe (SPD), Bürgermeisterin von Schwedt, sagte, dass durch die PCK-Raffinerie 95 Prozent in Brandenburg und Berlin mit Benzin, Diesel, Flugturbinenkraftstoff und Heizöl versorgt werde. Es bestünden lediglich vertikale Pipeline-Versorgungen durch Leitungen aus Russland, horizontale Linien seien nicht vorhanden. Die nun angedachte Alternative, über die Häfen Rostock und Danzig eine Versorgung aufzubauen, sei möglich, brauche aber Zeit. Allerdings werde nun gehandelt, der Besuch von Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Bündnis 90 / Die Grünen), der am Montag zu einem Besuch bei PCK in Schwedt war, werde allgemein als gutes Zeichen gewertet.
Eine Aufzeichnung der öffentlichen Anhörung steht ab Dienstag, 10. Mai 2022 ab 15:30 Uhr in der Bundestag-Mediathek zur Verfügung; https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2022/kw19-pa-klimaschutz-energie-energieversorgung-892072