11.10.2023 Recht — Anhörung — hib 744/2023

Dokumentation der Hauptverhandlung umstritten

Berlin: (hib/MWO) Der Gesetzentwurf der Bundesregierung zur digitalen Dokumentation der strafgerichtlichen Hauptverhandlung (20/8096) ist in einer Anhörung im Rechtsausschuss am Mittwochnachmittag auf ein gemischtes Echo gestoßen. Hintergrund des Regelungsvorschlags ist, dass in den erstinstanzlichen Hauptverhandlungen vor den Landgerichten und den Oberlandesgerichten nur die wesentlichen Förmlichkeiten festgehalten werden, um deren Beachtung in der Revisionsinstanz überprüfen zu können.

Die zur Anhörung eingeladen Rechtsanwältinnen und -anwälte sprachen sich für den Entwurf aus. Margarete Gräfin von Galen, Fachanwältin für Strafrecht aus Berlin, erklärte in ihrer schriftlichen Stellungnahme, die Bundesregierung realisiere damit eine in der Anwaltschaft seit langem erhobene Forderung. Lediglich hinsichtlich einzelner Gesichtspunkte wäre eine Nachschärfung sinnvoll, erklärte die von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen als Sachverständige benannte Anwältin.

Christoph Knauer, Vorsitzender des Ausschusses Strafprozessrecht der Bundesrechtsanwaltskammer, begrüßte, dass die Bundesregierung trotz der in der rechtspolitischen Diskussion von Interessenverbänden und einem Teil der Richterschaft geäußerten Kritik an ihrem Reformvorhaben festhalte. Zutreffend gehe auch der Kabinettsentwurf davon aus, so der von der FDP-Fraktion als Sachverständiger benannte Anwalt, dass eine Neuregelung der Vorschriften über die Protokollierung der strafgerichtlichen Hauptverhandlung erforderlich sei, weil das bestehende Protokollsystem nicht mehr zeitgemäß sei. Durch eine audiovisuelle Aufzeichnung der Hauptverhandlung werde die Wahrheitsermittlung im Strafverfahren nicht gefährdet. Im Gegenteil sei sie geeignet, Missverständnissen entgegenzuwirken und Fehlurteile zu verhindern.

Auch der Berliner Rechtsanwalt Stephan Schneider sprach sich für eine gesetzlich geregelte Pflicht zur Dokumentation der strafgerichtlichen Hauptverhandlung aus. Sie sei in einem modernen Rechtsstaat Standard und werde die Transparenz der Hauptverhandlungen und vor allem auch der Urteilsfindung erhöhen. Die Qualitätssicherung der Beweisaufnahme bleibe ineffektiv, wenn sie zwar Zeugen zur Wahrheit ermahne, deren Aussagen indes für die Verfahrensbeteiligten nicht wahrheitsgetreu festhalte, erklärte Schneider, der seine Stellungnahme auf Vorschlag der Fraktion Die Linke abgab.

Ali B. Norouzi vom Deutschen Anwaltverein erklärte, der Entwurf beende das grundlegende Dokumentationsdefizit der Hauptverhandlung in Strafsachen vor den Land- und Oberlandesgerichten und behandle das Problem umfassend und ausgewogen. Bedenken habe er nur bei den erweiterten Möglichkeiten, die Dokumentationspflicht zu suspendieren, und überflüssig erschienen die punktuellen Ergänzungen im Revisionsverfahren, erklärte der von der SPD-Fraktion als Sachverständiger benannte Anwalt.

Als einziger Richter schloss sich Andreas Mosbacher, Richter am Bundesgerichtshof, den Argumenten der Anwälte und der Anwältin an. Der Entwurf beende die nur historisch erklärbare Besonderheit, so der von der Grünen-Fraktion benannte Experte, dass bei der erstinstanzlichen Verhandlung von Schwerkriminalität - anders als in allen anderen gerichtlichen Verfahren in Deutschland und weitgehend in Europa - keine Dokumentation des Inhalts der Beweisaufnahme erfolge. Viele Kolleginnen und Kollegen in der Strafjustiz hätten ein großes Verständnis dafür, dass der technische Fortschritt auch vor ihrem Gerichtssaal nicht Halt machen werde. Durch die Umstellung auf ein neues System werde es zu einer vorübergehenden Mehrbelastung der Strafjustiz kommen, die kompensiert werden müsste. Dann werde die Neuregelung auch bei der Richterschaft auf Akzeptanz stoßen.

Dagegen sieht Fernando Sanchez-Hermosilla, Vorsitzender Richter am Landgericht Karlsruhe, keine Notwendigkeit einer digitalen Aufzeichnung der Hauptverhandlung in Strafsachen. Im Gegenteil würde eine solche Aufzeichnung aus Sicht der Praxis eine Vielzahl von technischen, personellen und verfahrensspezifischen Problemen ohne substantiellen Mehrwert für das Strafverfahren sowie eine höhere Belastung der Strafjustiz bewirken, so der auf Vorschlag der CDU/CSU-Fraktion eingeladene Richter. Er betonte, dass es selbst bei Verfahren, die eine Vielzahl von Verhandlungstagen dauerten oder wegen der Anzahl der zu vernehmenden Zeugen und Sachverständigen komplex seien, den Richterinnen und Richtern ohne weiteres gelinge, die für die Entscheidungsfindung wesentlichen Aussagen und Beweisergebnisse übereinstimmend festzuhalten und sich bei der Urteilsberatung daran zu erinnern.

Dieter Killmer vom Deutschen Richterbund (DRB), Bundesanwalt beim Bundesgerichtshof, erklärte, die vom DRB vertretene Justizpraxis stehe einer Digitalisierung und damit einhergehenden Bemühungen, Verfahrensabläufe zu verbessern und zu vereinfachen, grundsätzlich aufgeschlossen gegenüber. Stets müssten jedoch die bezweckten Vorteile und zu erwartende nachteilige Folgen sorgsam abgewogen werden, so der von der SPD-Fraktion benannte Bundesanwalt. Diesem Abwägungsgebot werde der Gesetzesentwurf nicht gerecht. Denn eine Dokumentation von Strafverfahren berge erhebliche Missbrauchsrisiken und drohe den Opferschutz sowie die Wahrheitsfindung gerade in Strafprozessen wegen besonders schwerwiegenden Tatvorwürfen massiv zu schwächen. Dies gelte besonders für eine audiovisuelle Aufzeichnung der Hauptverhandlung, die besonders tief in Persönlichkeitsrechte von Verfahrensbeteiligten eingreife und gegen die sich auch die eigens vom Bundesministerium der Justiz eingesetzten Expertinnen- und Expertengruppe ausgesprochen habe.

Patrick Liesching, Bundesvorsitzender des Weißen Rings und Leitender Oberstaatsanwalt, erklärte, auch die Hilfsorganisation für Kriminalitätsopfer lehne die von der Bundesregierung geplante Dokumentation von Strafprozessen ab, weil sie Persönlichkeitsrechte der Verfahrensbeteiligten verletze. Insbesondere für Opfer sexualisierter Gewalt sei die Vernehmung in der Hauptverhandlung angstbesetzt. Die Notwendigkeit, sich das Tatgeschehen vergegenwärtigen und in einer ungewohnten Umgebung im Angesicht des Täters detailliert schildern zu müssen, werde von den Betroffenen als extrem belastend erlebt. Dieses Belastungserleben würde massiv verschärft, wenn sich die Zeugin oder der Zeuge mehreren Mikrofonen oder gar Kameras gegenübersehe und infolge der Aufzeichnung die Konservierung jeder Formulierungsnuance und jedes Gefühlsausbruchs auf unabsehbare Zeit sowie deren Verbreitung fürchten müsse, sagte der von der CDU/CSU-benannte Sachverständige.

Der Opferschutz war auch ein wichtiges Thema der Stellungnahme von Staatsanwalt Oliver Piechaczek aus Hanau. Es drohe ein Rückschritt im Bereich des Opferschutzes, sagte der von der Unionsfraktion vorgeschlagene Experte. Es sei bereits jetzt schwierig, Opferzeugen und -zeuginnen zu einer Aussage ermutigen. Aus seiner Sicht sei es verheerend, wenn die besonders schutzwürdigen Opfer sexueller Gewalt mit der Verbreitung ihrer Aussagen in sozialen Medien rechnen müssten. Daneben würde die Wahrheitsfindung im Strafprozess durch eine möglicherweise verminderte Aussagebereitschaft erheblich beeinträchtigt. Außerdem wecke der Entwurf Erwartungen an die technische Umsetzbarkeit einer digitalen Inhaltsdokumentation, die er in der Praxis überhaupt nicht werde erfüllen können, so Piechaczek.

Für Ralf Wehowsky, Abteilungsleiter für Revisionsstrafsachen bei dem Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof, sind nach eigenen Worten die revisionsrechtlichen Folgen einer Dokumentation der Hauptverhandlung von besonderem Interesse. Von vielen Justizangehörigen werde befürchtet, dass bei Einführung einer digitalen Dokumentation der Hauptverhandlung eine Wesensänderung des Revisionsverfahrens unabwendbar sei. Auch er gehe davon aus, dass mit einer Vielzahl zusätzlicher Rügen, in der Hauptverhandlung Bekundetes sei im Urteil nicht oder nicht zutreffend gewürdigt worden, zu rechnen sei. Der Regierungsentwurf bekenne sich jedoch eindeutig zur weiterbestehenden Gültigkeit der strikten Aufgabentrennung zwischen Tat- und Revisionsgericht und der daraus folgenden eingeschränkten Prüfkompetenz im Revisionsverfahren. Diese geschärfte Klarstellung des gesetzgeberischen Willens bringe einen erheblichen Zugewinn an Rechtssicherheit, erklärte der von der SPD-Fraktion benannte Bundesanwalt.

Die hib-Meldung zum Regierungsentwurf: https://www.bundestag.de/presse/hib/kurzmeldungen-964080

Das Video der Anhörung und die Stellungnahmen der Sachverständigen auf bundestag.de: https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2023/kw41-pa-recht-hauptverhandlungsdokumentation-969024

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