Erinnern und handeln! – Ansprache von Bundestagspräsidentin Klöckner bei der Gedenkstunde des Bundestages zum 80. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges
„Wer zeitlich nach hinten erinnert, muss auch nach vorne übersetzen – auf heutiges Handeln!“, betonte die Bundestagspräsidentin Julia Klöckner in der heutigen Gedenkstunde im Deutschen Bundestag. Sie erinnerte an die historischen Ereignisse des 8. Mai 1945 und die Botschaft dieses Tages für die heutige Zeit. Sie rief dazu auf, das Gedenken an die Opfer des Zweiten Weltkriegs wachzuhalten. Unsere Freiheit müsse wehrhaft bleiben.
In ihrer Rede skizzierte die Bundestagspräsidentin die Zerstörung Berlins und die letzten Kämpfe im Reichstagsgebäude, das heute Symbol für die stabile deutsche Demokratie ist. Ein besonderer Schwerpunkt ihrer Rede lag auf dem oft verdrängten Leid der Frauen, die Opfer sexualisierter Gewalt in vielen Ländern, auch in Deutschland, wurden. Sie betonte, wie lange dieses Thema in der deutschen Nachkriegsgesellschaft tabuisiert wurde: „Es ist Zeit, diesen Frauen in unserem Gedenken Raum zu geben, ihr Leid anzuerkennen – auch die unglaubliche Kraft, mit der sie ums Überleben kämpften und entscheidend zum Wiederaufbau beitrugen.“ Die Präsidentin hatte dazu eine heute 82jährige auf die Tribüne im Bundestag eingeladen, die als junges Mädchen die Übergriffe auf ihre Mutter miterleben musste. Sie hatte in einem Schreiben an den Deutschen Bundestag darum gebeten, dass endlich auch dieser Leiden gedacht werden möge.
Zur wachsenden Bedrohung durch Antisemitismus mahnte Julia Klöckner: „Während wir noch das ‚Nie wieder‘ beschwören, passiert das ‚Wieder‘ schon. Jetzt! Auf unseren Straßen. Im Netz. Und sogar an Universitäten!“ Sie rief damit zu entschlossenem Handeln gegen antisemitische Strömungen jeglicher Form auf.
Abschließend betonte die Bundestagspräsidentin die Lehren aus der Vergangenheit für die Gegenwart: „Wer befreit wurde, ist verpflichtet, zu verteidigen. Die Freiheit.“ Mit der Gedenkstunde bekräftige Deutschland seine historische Verantwortung und seinen Einsatz für Frieden und Menschenrechte – heute und in Zukunft.
Ansprache von Bundestagspräsidentin Julia Klöckner bei der Gedenkstunde am 8. Mai
Es gilt das gesprochene Wort.
Bitte beachten Sie die Sperrfrist Redebeginn.
Sehr geehrter Herr Bundespräsident!
Herr Bundeskanzler!
Frau Bundesratspräsidentin!
Herr Präsident des Bundesverfassungsgerichts!
Exzellenzen!
Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Berlin im Mai 1945:
Der Tiergarten-Park verwüstet.
Das Reichstagsgebäude verkohlt.
Die Kuppel ausgebrannt.
Viele Fenster zugemauert, um die Erstürmung noch abzuwenden.
Die Fassade von Einschüssen durchlöchert.
Genau hier am Ort Tristesse. Ein Ende bahnte sich an.
Tagelang wurde hier gekämpft: in den oberen Stockwerken schon die Rotarmisten,
im Keller noch die deutschen Soldaten.
Das Unheil, das dunkelste Kapitel unserer deutschen Geschichte, hatte nicht zuletzt mit der Notverordnung nach dem Reichstagsbrand 1933 seinen Anfang genommen. Und es endete auch hier.
Wie kaum ein anderes Bild steht die Reichstagsruine für das Ende des Zweiten Weltkriegs.
Und das Ende des nationalsozialistischen Terrors.
Der Zweite Weltkrieg war der brutalste Krieg der Menschheitsgeschichte.
Nahezu überall in Europa begingen die deutschen Besatzer Kriegsverbrechen.
In Ost- und Mitteleuropa führten sie einen rassistischen Vernichtungskrieg, der auf die Auslöschung ganzer Völker abzielte.
Schon kurz nach dem Überfall auf Polen 1939 verschleppten und ermordeten die deutschen Besatzer Zehntausende Lehrer, Priester, Ärzte – das Rückgrat der polnischen Gesellschaft.
Viel zu oft ist dieses Leid, das Polen angetan wurde, unerwähnt geblieben.
Auch im heutigen Belarus wüteten die Besatzer.
Dorfbewohner wurden in ihre Häuser gesperrt und mit Handgranaten beworfen. Sogar Kinder ließen sie bei lebendigem Leibe verbrennen!
Auch in den Großstädten wütete der nationalsozialistische Terror.
Leningrad sollte ausgehungert werden!
Mehr als zweieinhalb Jahre lang schnitt die Wehrmacht die Menschen von jeder Versorgung ab.
Mehr als eine Million Todesopfer!
Am Stadtrand türmten sich Leichen der Verhungerten, Erfrorenen und Gefallenen.
Das ungeheuerliche Ausmaß der deutschen Verbrechen ist bis heute nicht allen bewusst. Oder schlimmer noch: Viele wollen sich damit gar nicht mehr beschäftigen.
Dieser Tendenz entgegenzuwirken – auch dazu dient das Gedenken am 8. Mai.
Zuallererst bedeutete das Frühjahr ´45 eine Befreiung für die Menschen, die unter dem NS-Terror am meisten litten: die Häftlinge der Konzentrationslager.
Jährlich am 27. Januar gedenken wir aller Opfer des Nationalsozialismus.
Alleine aber die Erinnerung an den Holocaust schützt nicht vor neuem Antisemitismus. Antisemitismus hat viele Gesichter. Und Narrative.
Während wir noch das „Nie-wieder“ beschwören, passiert das „Wieder“ schon. Jetzt!
Auf unseren Straßen. Im Netz. Und sogar an Universitäten!
Wer zeitlich nach hinten erinnert, muss auch nach vorne übersetzen – auf heutiges Handeln!
Meine Damen und Herren,
Deutschland hatte den Krieg geplant, entfacht, geführt.
Und er kehrte mit zerstörerischer Kraft zu seinen Verursachern zurück.
Millionen Deutsche irrten 1945 auf der Flucht umher. Ihr Hab und Gut war auf einen Bollerwagen geschrumpft. Er wurde zum Sinnbild des Schicksals der Vertriebenen.
Menschen hausten in Trümmern und Baracken. Sie versteckten sich in den letzten Kriegswochen in den Kellern vor Bomben, und – je nach Region – heranrückenden Truppen.
Insbesondere die Frauen und Mädchen.
Sie sind die häufig übersehenen Opfer jedes Krieges.
„Den vielleicht größten Teil dessen, was den Menschen aufgeladen war, haben die Frauen der Völker getragen. Ihr Leid, ihre Entsagung und ihre stille Kraft vergisst die Weltgeschichte nur allzu leicht.“
So Bundespräsident Richard von Weizsäcker in seiner berühmten Rede am 8. Mai, vor heute 40 Jahren.
Natürlich waren Frauen im Zweiten Weltkrieg nicht frei von Schuld.
Aber gerade Frauen und Mädchen mussten viel Leid ertragen, sexuelle Übergriffe, in und nach dem Krieg.
Meine Damen und Herren,
wir wollen nicht vergessen. Denn auch Kinder von betroffenen Frauen haben nicht vergessen. Ich darf Ihnen aus einem aktuellen Schreiben, das eine heute 82 Jahre alte Tochter an den Deutschen Bundestag gerichtet hat, vorlesen:
„Als Augenzeugin des 2. Weltkriegs und Zeugin der Vergewaltigung meiner Mutter an der Grenze Tschechien/Sachsen im Sommer 1945 bei den wilden Vertreibungen möchte ich dringend darum bitten, dass endlich dieses Jahr zum 80. Gedenken an den 2. Weltkrieg und seine Folgen der Frauen gedacht wird, die Opfer von sexualisierter Kriegsgewalt wurden und bis heute im Rahmen kriegerischer Konflikte Opfer von Gewalt werden, weil sie Frauen sind. (…)“
Ihre Worte haben mich sehr bewegt.
Danke, liebe Frau Schon, dass Sie meiner Einladung gefolgt sind und wir Sie heute auf der Tribüne begrüßen dürfen.
Danke für Ihr Schreiben, und Danke für Ihr Kommen!
Wann – so fragten Sie in Ihrer E-Mail – werde endlich offiziell der Frauen gedacht, die damals Opfer sexualisierter Kriegsgewalt wurden und bis heute werden?
Liebe Frau Schon,
die Antwort lautet: heute.
Das Leid der Frauen wurde in der deutschen Nachkriegsgesellschaft einfach verdrängt. Kaum Möglichkeiten gab es für die Betroffenen, über das Erlebte zu sprechen: Die Scham verlängerte ihr Leid – wie viele sind daran zerbrochen?
Es ist Zeit, diesen Frauen in unserem Gedenken Raum zu geben, ihr Leid anzuerkennen - auch die unglaubliche Kraft, mit der diese Frauen ums Überleben kämpften und entscheidend zum Wiederaufbau beitrugen.
Monika Hauser, Gründerin einer Frauenrechtsorganisation fasst es zusammen mit den Worten:
„Die Männer haben ihre Frauen nicht gefragt: ‚Was ist dir denn im Krieg passiert?‘, damit die Frauen nicht fragen: ‚Und was hast du dort getan?‘“
Wie haben sich diese Deutschen, Frauen wie Männer, im Mai 1945 gefühlt?
Besiegt, erschüttert, verzweifelt, viele auch erleichtert.
Aber befreit – fühlten sich im besetzten und bald auch geteilten Deutschland nur die allerwenigsten.
In der DDR-Propaganda wurde der 8. Mai zwar von Anfang an als „Tag der Befreiung“ gefeiert, aber gleichzeitig zur Rechtfertigung neuer Unterdrückung missbraucht.
Erst nach einem spannungsreichen Prozess der Aufarbeitung, in Familien und Gesellschaft konnten auch wir Deutschen für uns anerkennen:
Die militärische Niederlage war tatsächlich auch eine Befreiung.
Noch heute sind Erinnerungen an das Kriegsende so wichtig. Gerade auch in unseren regionalen Zeitungen. Ich habe im Oeffentlichen Anzeiger der Rhein-Zeitung in den vergangenen Wochen so eindrückliche Erinnerungen gelesen, die von den Leserinnen und Lesern gesammelt wurden. Ein 98jähriger Leser schrieb von der Gleichzeitigkeit aller Gefühle nach der Befreiung. Der großen Beklommenheit, dem Glücksgefühl und der großen Dankbarkeit darüber, damals als junger Mann überhaupt den Schrecken des Krieges überlebt zu haben.
Solche Geschichten aus den Gemeinden vor Ort, der eigenen Stadt, helfen, die Zeit der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft besser einzuordnen.
Der 8. Mai hatte unsere Neuorientierung hin zur Demokratie möglich gemacht.
Einer Demokratie, in die sich heute alle Deutschen einbringen können.
Wer hätte sich 1945 vorstellen können, dass hier im Reichstagsgebäude jemals wieder ein frei gewähltes Parlament tagen würde?
Was für eine unwahrscheinliche Wendung der Geschichte!
Das Reichstagsgebäude ist ein gutes Gedächtnis.
Viele Soldaten haben vor 80 Jahren ihre Heimatorte an die Wände geschrieben.
In kyrillischen Buchstaben steht dort etwa „Leningrad“ oder „Kursk“. Aber eben auch „Jerewan“, „Baku“, „Kyjiw“ und „Donbass“.
Die Rotarmisten kamen nicht nur aus Russland.
Sie kamen aus den vielen verschiedenen Republiken der Sowjetunion, auch aus der Ukraine.
Meine Damen und Herren,
wir werden morgen in Moskau Siegesparaden erleben,
die im Namen der Befreier von damals den Krieg gegen die Ukraine heute rechtfertigen sollen.
Was für ein Missbrauch der Geschichte!
Bucha, Irpin, Mariupol: Und wieder werden Mädchen und Frauen zu Opfern sexualisierter Gewalt, eingesetzt als Kriegswaffe.
Meine Damen und Herren,
heute beschäftigt viele Bürgerinnen und Bürger in Deutschland die Frage:
Kann der Krieg wieder zu uns kommen?
Lange haben wir uns und den Frieden als unantastbar gefühlt. Jetzt müssen wir wieder umdenken.
Um Frieden und Freiheit zu bewahren, müssen wir in der Lage sein, uns auch militärisch zu verteidigen.
Am 80. Jahrestag des Kriegsendes geht es ums Erinnern – und gleichzeitig um unseren Auftrag: Wer befreit wurde, ist verpflichtet, zu verteidigen. Die Freiheit.
Das ist der Auftrag des 8. Mai.
Herzlichen Dank!
Wir hören nun drei kurze Texte von Zeitzeugen. Vorgetragen von jungen Menschen, die sich ehrenamtlich beim Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge engagieren.
Ich danke dafür herzlich Tankred Suckau, Sophia Wegener und Carl Vitek.