Parlament

Vor 70 Jahren: Deutscher Bundestag führt Zweitstimme ein

Bundeswahlleiter Gerhard Fürst steht vor einer Tafel, auf der Erststimme und Zweitstimme steht. Er hält einen Stimmzettel hoch und deutet mit einem Stift auf den Zettel.

Bundeswahlleiter Gerhard Fürst erläutert am 26. August 1953 in Bonn den Stimmzettel. (dpa - report)

Vor 70 Jahren, am 25. Juni 1953, verabschiedete der Bundestag mit den Stimmen der CDU/CSU, SPD und FDP ein neues Wahlgesetz (1/3636, 1/4062, 1/4090, 1/4450) für die Wahl zum zweiten Deutschen Bundestag im September 1953 und führte damit das System der personalisierten Verhältniswahl mit Erst- und Zweitstimme ein. Mit der Erststimme wird der Kandidat in einem Wahlkreis direkt gewählt und mit der Zweitstimme die Partei. Erstmals muss eine Partei, wenn sie in den Bundestag einziehen will, die Fünf-Prozent-Hürde überspringen.

Verschiedene Interessen

Glücklich war über diesen Gesetzentwurf trotz breiter Zustimmung jedoch niemand. Die Regierungskoalition bestehend aus CDU/CSU, FDP und DP (Deutsche Partei) hatte sich auf keinen mehrheitsfähigen Koalitionsentwurf einigen können. Zu verschieden war die Interessenlage innerhalb der Koalition.

Die FDP favorisierte im Gegensatz zu den Koalitionspartnern das Verhältniswahlrecht. Ein Kompromiss zwischen den Anhängern des Verhältniswahlrechts und denen des Mehrheitswahlrechts schien unmöglich.

Kompromiss Fünf-Prozent-Sperrklausel

Erst in dritter Lesung hatte man sich notgedrungen, wie der CDU-Abgeordnete Gerhard Schröder betonte, in buchstäblich letzter Minute mit der Einführung der Fünf-Prozent-Sperrklausel auf einen Kompromiss geeinigt, um „weiteren Schaden abzuwenden“.

„Die Fraktion der CDU/CSU wird dem vorliegenden Entwurf, wie er sich jetzt nach Annahme einer Reihe von Änderungsanträgen darstellt, ihre Zustimmung geben. Sie tut es einzig und allein aus der Erkenntnis, dass eine andere Mehrheitsbildung im gegenwärtigen Bundestag nicht zu erwarten ist.“

Scharfe Kritik seitens der kleinen Fraktionen

Für sieben der damals elf im Bundestag vertretenen Parteien war damit ihr Überleben bedroht. Zukünftig sollten Parteien, die bei Wahlen weniger als fünf Prozent der Stimmen bekämen, nicht mehr im Parlament vertreten sein. Umso deutlicher vielen die Worte der Empörung aus. Für Friedrich Rische von der KPD (Kommunistische Partei Deutschlands) entschied sich am Wahlgesetz nicht weniger als die Frage der Demokratie. Vor allem zeichnete sich für ihn mit dem neuen Wahlgesetz der „Sieg der Intoleranz und des antidemokratischen Terrors“ ab.

Alfred Loritz von der WAV (Wirtschaftliche Aufbau-Vereinigung) erregte sich: „Sie haben hier ein Gesetz angenommen, dass das Recht der Großen durchdrückt mit den unerhörtesten Mitteln und die Rechte der Kleinen mit den Füßen tritt.“ Und sein Parteikollege Günter Goetzendorff fügte hinzu: „Es ist beabsichtigt, durch dieses Gesetz die nationale Opposition in diesem Lande auszuschalten.“

Die fraktionslose Abgeordnete Helene Wessel gab zu bedenken: „Es ist vom demokratischen Standpunkt aus ein unerträgliches Verfahren, dass die Wählerstimmen, wie es in diesem Wahlgesetz vorgenommen wird, durch ein besonders ausgeklügeltes System ein unterschiedliches Gewicht bekommen sollen. Mit solchen Methoden mögen die größeren Parteien ihren Besitzstand zu wahren suchen. Sie müssten sich aber darüber klar sein, dass das Vertrauen zu der demokratischen Haltung und zu unserer staatlichen Ordnung erschüttert wird, wenn die Gleichheit der Chancen in Frage gestellt ist.“

„Das Mehrheitswahlrecht sichert Stabilität“

Die Anhänger des Mehrheitswahlrechts führten vor allem die Erfahrungen der Weimarer Republik an. Damals hatte ein reines Verhältniswahlrecht eine Regierungsbildung erheblich erschwert. Zeitweise waren 15 Parteien im Reichstag vertreten. Die Lebensdauer einer Regierungskoalition betrug durchschnittlich acht Monate. Viele sahen darin einen Grund für das Scheitern der Weimarer Republik.

Nur das Mehrheitswahlrecht sichere die Stabilität in der Demokratie betonte deshalb Franz-Josef Strauß von der CSU: „Wir sind grundsätzlich mit allen Konsequenzen Anhänger des Mehrheitswahlrechtes und haben uns bisher im politischen Kampf dazu bekannt. Wir halten die Durchführung des Mehrheitswahlrechtes für einen untrennbaren Bestandteil der Existenzsicherung der Demokratie.“

Gleichheit der Stimmen

Dagegen argumentierten die Anhänger des Verhältniswahlrechts mit der Gleichheit der Stimmen und dem Prinzip der Fairness. Außerdem könne man den Vorwurf das Verhältniswahlrecht ermögliche keine stabilen Verhältnisse so nicht stehen lassen, verteidigte Alfred Onnen von der FDP den vereinbarten Kompromiss, denn diejenigen Parteien, denen es gelingt, durch ihre Leistung in der Vergangenheit die Mehrheit der Wähler hinter sich zu bringen, werden auch in Zukunft die Mehrheit der Mandate bekommen.

Tatsächlich verschwanden mit der neu eingeführten Fünf-Prozent-Hürde die kleinen Parteien aus dem Bundestag. Dem zweiten Deutschen Bundestag gehörten nur noch sieben Parteien an: Stärkste Fraktion wurde die CDU/CSU mit 45,2 Prozent der Stimmen. Die SPD erreichte 28,8 Prozent und blieb wie schon 1949 unter der 30-Prozent-Marke. Mit 9,5 Prozent muss auch die FDP leichte Verluste hinnehmen.

Die DP verliert ebenfalls und kommt nur noch auf 3,3 Prozent. Aufgrund von Wahlabsprachen kommen trotzdem DP-Abgeordnete auf Listen der CDU ins Parlament. Gleiches gilt für das Zentrum. Die Partei Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten (BHE) gewinnt 5,9 Prozent der Stimmen und zieht neu in den Bundestag ein. (klz/19.06.2023)

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