Parlament

Bundestag würdigt Annemarie Renger und Wolfgang Schäuble

Bundestagspräsidentin Bärbel Bas hat am Donnerstag, 15. Dezember 2022, zwei aus der Geschichte des deutschen Parlamentarismus nicht wegzudenkende Persönlichkeiten gewürdigt: die frühere Bundestagspräsidentin Dr. Annemarie Renger sowie ihren Amtsvorgänger, den langjährigen Abgeordneten Dr. Wolfgang Schäuble. Der Bundestag erhob sich anschließend zu ihren Ehren und zollte ausdauernden Beifall.

Vor 50 Jahren, am 13. Dezember 1972, wurde mit Annemarie Renger zum ersten Mal weltweit eine Frau an die Spitze eines freigewählten Parlaments gewählt. Es war dies auch der erste Tag des damals 30-jährigen Schäuble als Bundestagsabgeordneter. In ihrer Rede erinnerte Bas an dieses „besondere Datum“ und nahm es zugleich zum Anlass, Geschichte und Status quo des deutschen Parlamentarismus zu reflektieren.

Bas: Renger ebnete Frauen den Weg in die Politik

Annemarie Renger hält vom Platz der Vorsitzenden im Plenum des Deutschen Bundestages in Bonn eine Rede.

Annemarie Renger wird in der konstituierenden Sitzung des siebten Deutschen Bundestages zur ersten Bundestagspräsidentin in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland gewählt. (Presse- und Informationsamt der Bundesregierung/ Ludwig Wegmann)

Noch immer sei etwa der Frauenanteil mit knapp 35 Prozent auch im aktuellen 20. Bundestag zu niedrig, sagte Bas, die selbst nach Renger und Prof. Dr. Rita Süssmuth erst die dritte Frau an der Spitze des Hohen Hauses ist. Niedriger als im 7. Bundestag – jener, der am 13. Dezember 1972 erstmals zusammentrat – aber war der Frauenanteil im Parlament noch nie, betonte Bas. „Nur 30 Frauen gehörten diesem 7. Bundestag an – 5,8 Prozent der Abgeordneten“, so die Bundestagspräsidentin.

Dass „Frauen heute selbstverständlich ihren Platz in Politik und Gesellschaft“ einnähmen, sei nicht zuletzt der „parlamentarischen Pionierarbeit“ von Annemarie Renger zu verdanken. „Sie ebnete Frauen den Weg in die Politik – und in der Politik“, sagte Bas und zitierte die 1919 in Leipzig geborene Politikerin mit den Worten: „Die Wahl einer Frau für dieses Amt hat verständlicherweise einiges Aufsehen erregt. Das Erstmalige und mithin Ungewohnte gerät in die Gefahr, zum Einmaligen und Besonderen erhoben zu werden.“ 

„Mit natürlicher Autorität und mit Charme

In ihrer Amtszeit habe sich Renger stark für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf eingesetzt und dabei nicht zuletzt wichtige Rahmenbedingungen für die Frauen in der Bundestagsverwaltung geschaffen. Auch die Eröffnung der Bundestags-Kindertagesstätte im Jahr 1970 gehe auf ihre Initiative zurück, sagte Bas anerkennend über die Sozialdemokratin, die dem Deutschen Bundestag 37 Jahre lang ununterbrochen angehörte und in dieser Zeit auch die erste Parlamentarische Geschäftsführerin der SPD-Fraktion war.

„Mit natürlicher Autorität und mit Charme“, habe Renger dem Deutschen Bundestag vorgestanden, so Bas. Und sie habe Maßgebliches für den Parlamentarismus geleistet: „Sie führte Bürgergespräche im ganzen Land, sie trieb die Parlamentsreform voran, sie etablierte den Wissenschaftlichen Dienst des Deutschen Bundestages, sie stärkte das Petitionswesen und intensivierte die Arbeit der Enquete-Kommissionen“, so Bas beispielhaft über das Wirken der 2008 verstorbenen Grand Dame der deutschen Parlamentsgeschichte.

Bas über Schäubles Mandatszeit: Das ist eine Ära

Wie Annemarie Renger, so Bas, habe sich auch Wolfgang Schäuble „immer mit einer unglaublichen Disziplin und großem Pflicht- wie Verantwortungsbewusstsein in den Dienst unseres Staates gestellt“. „Wenn ich auf Ihr Lebenswerk blicke, kann ich es kaum glauben: Seit einem halben Jahrhundert gehören Sie ununterbrochen dem Deutschen Bundestag an! Das ist einmalig in der gesamten Geschichte des deutschen Parlamentarismus“, sagte Bas an die Adresse ihres Amtsvorgängers. „Das ist eine Ära.“

Schäuble habe die „Geschicke unseres Landes“ in den vergangenen Jahrzehnten geprägt wie nur wenige zuvor, würdigte Bas den CDU-Politiker, der als „Architekt der Deutschen Einheit“ bekannt geworden ist und vor seiner Zeit als Parlamentspräsident unter anderem Fraktionsvorsitzender, Oppositionsführer, Kanzleramtschef, Innenminister und Finanzminister war.

„Parlamentarier aus Leidenschaft“

Mit Blick auf seine Leistungen für den Parlamentarismus hob Bas insbesondere die Etablierung der Deutsch-Französischen Parlamentarischen Versammlung hervor. Und den neugeschaffenen Bürgerrat, der in seiner Amtszeit als Bundestagspräsident auf den Weg gebracht wurde, würdigte sie als „Instrument zur Belebung unserer Demokratie“.

Auch nach 50 Jahren diene Schäuble dem Parlament mit „unvergleichlicher Erfahrung, mit Weitsicht und intellektuellem Scharfsinn“, sagte Bas über „den Parlamentarier aus Leidenschaft“, der stets zum konstruktiven Streit ermuntert und zum Aushalten gegensätzlicher Meinungen angehalten habe. Erst im September hatte sich das Hohe Haus zu Ehren Schäubles erhoben. Da feierte er seinen 80. Geburtstag.

Entscheidungshilfen für Gegenwart und Zukunft

Wolfgang Schäuble sitzt im Rollstuhl hinter dem Rednerpult und spricht

Wolfgang Schäuble während seiner Rede im Plenum des Bundestages. (DBT/Joerg Carstensen/photothek)

Schäuble selbst nutzte die Gelegenheit, um seinerseits die erste Präsidentin des Parlaments zu würdigen. „Frau Renger war eine allseits respektierte Bundestagspräsidentin“, sagte der Unionsabgeordnete und fügte hinzu, er könne sich nicht daran erinnern, dass ihm die Tatsache, dass eine Frau das Amt innehatte, besonders bemerkenswert erschienen wäre. „Vielleicht“, so Schäuble, „war manches auch vor 50 Jahren schon selbstverständlicher, als heute viele glauben.“

Während seiner Rede schlug der frühere Bundestagspräsident einen Bogen von aktuellen Krisen zu jenen, mit denen sich die Politik zu Beginn seiner Abgeordnetenlaufbahn konfrontiert sah: etwa von der russischen Invasion in die Ukraine zur Bedrohung durch die Sowjetunion während des Kalten Krieges und dem Nato-Doppelbeschluss. „Auch wenn sich Geschichte nicht wirklich wiederholt, lassen sich aus der distanzierten Betrachtung von Entwicklungen Entscheidungshilfen für Gegenwart und Zukunft gewinnen“, gab er zu Bedenken. So habe man etwa nach Wladimir Putins Überfall auf die Ukraine wieder lernen müssen, „dass Bereitschaft zur Zusammenarbeit und Partnerschaft nicht zum Verzicht auf Verteidigungs-, auf Abschreckungsfähigkeit führen darf“.

„Chance für notwendige Änderungen“

Kritisch äußerte sich Schäuble über den „durch perfektionistische Überregulierung (…) in Vielem fast schon handlungsunfähig gewordenen Staat“. Er plädierte für eine breite öffentliche Debatte über eine Neuordnung der Aufgaben, auch zwischen Staat und Gesellschaft. Eine als handlungsfähig wahrgenommene Politik könne auch das Verständnis der Bürger fördern, „dass Demokratie eben eine Zumutung ist und nicht nur ein Supermarkt für Schnäppchenjäger“. Dass es neben Rechten auch Pflichten gebe und jeder seinen Beitrag für das Gemeinwohl leisten müsse.

Angesichts der gegenwärtigen Krise zeigte er sich dennoch optimistisch: „Je mehr wir begreifen, dass wir nicht einfach so weitermachen dürfen, umso eher wächst die Chance, für notwendige Änderungen stabile Mehrheiten zustande zu bringen.“ Es gebe Grund zur Zuversicht, so Schäuble, das gelte heute genauso wie vor 50 Jahren. (irs/ste/15.12.2022)

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