1. Untersuchungsausschuss

Botschafts-Evakuierung in Kabul lief laut Zeugin planmäßig

Blick auf den Hamid Karzai International Airport in Kabul am 30. August 2021

Blick auf den Hamid Karzai International Airport in Kabul am 30. August 2021. (picture alliance/EPA-EFE | Stringer)

Eine ehemalige Referentin der deutschen Botschaft in Kabul hat am Donnerstag, 18. Januar 2024, in der 60. Sitzung des 1. Untersuchungsausschusses (Afghanistan) berichtet, wie sie vor Ort den Fall der afghanischen Hauptstadt erlebt hat und das Botschaftspersonal evakuiert wurde. Sie habe erst im Juli 2021 ihren Dienst in Afghanistan angetreten und sei dort für die Bereiche Menschenrechte, humanitäre Hilfe und Migration zuständig gewesen, erzählte sie. Es sei „ein Weg ins Ungewisse“ gewesen und die Unsicherheit habe rapide zugenommen.

In den eineinhalb Monaten, in denen sie vor Ort gewesen sei, habe sie eine zunehmend angespannte humanitäre Menschenrechtslage beobachtet. Immer mehr Menschen seien nach Kabul und in die Provinzhauptstädte geflüchtet. Der Raum für die Zivilgesellschaft sei enger geworden. Die Taliban hätten sich sehr stark dafür interessiert, Radiostationen zu kontrollieren.

Austausch mit dem Länderreferat im AA

Alles, was sie vor Ort erfahren habe, habe sie auch an die Zentrale in Berlin, also an das Auswärtige Amt (AA) berichtet, betonte die Zeugin. In der Botschaft seien sie in engem Austausch mit dem Länderreferat im AA gewesen. Dabei habe es „durchaus Spannungen“ zur Frage gegeben, was die nächsten Schritte sein sollen und was operativ zu tun sei. In ihrem eigenen Themenbereich habe sie jedoch nie „ein Disconnect“ gespürt. Die Zentrale sei immer sehr interessiert gewesen und habe ihre Berichte ernst genommen.

In Kabul hätten sie angefangen, die erste Excel-Tabelle mit den Daten der Schutzbedürftigen, wie Menschenrechtler, Medienschaffende oder auch Frauen in herausgehobenen Positionen, zu erstellen. Diese Liste habe sie in ihren letzten Tagen in Kabul an das Referat im AA geschickt. Auch dort seien Listen mit verschiedenen Kategorien geführt worden.

Geplante Rückführung afghanischer Straftäter

Nach dem 15. August 2021 seien verschiedene Listen zusammengeführt worden. Ob diese Listen bei der militärischen Evakuierung vom Kabuler Flughafen benutzt worden seien, wisse sie nicht, da sie nicht mehr vor Ort gewesen sei, sagte die Zeugin aus. Vor dem Fall Kabuls habe es eine Besprechung gegeben, in der auch diskutiert worden sei, ob eine Visavergabe bei Einreise nach Deutschland („Visa-On-Arrival“) eine Option sei.

Gefragt nach dem Versuch, Afghanen, die in Deutschland Straftaten begangen haben, trotz eines Moratoriums Anfang August 2021 nach Afghanistan zurückzuführen, berichtete die Zeugin, es habe sich dabei um schwere Straftäter gehandelt. Sie hätten nach Gesprächen mit verschiedenen Organisationen und aufgrund der Sicherheitslage davor gewarnt. Während des Besuchs des Sonderbeauftragten der Bundesregierung für Afghanistan und Pakistan sei jedoch mit der afghanischen Seite darüber gesprochen worden. Nachdem sie „einer kleinen Rückführung mit maximal zehn Personen“ zugestimmt habe, sei die Entscheidung gefallen. Die Rückführung habe dann aber wegen eines Anschlags in Kabul nicht stattgefunden.

Zeugin: Sicherheitslage hat sich verschlechtert

Dass die Botschaft irgendwann evakuiert werden müsse, sei ihr klar gewesen, betonte die ehemalige Außenamts-Referentin. Die Sicherheitslage für die deutsche Botschaft habe sich verschlechtert, nachdem die britische Botschaft evakuiert worden sei, schließlich habe der britische Checkpoint auch den Zugang zur deutschen Botschaft kontrolliert.

Die Evakuierung sei planmäßig abgelaufen und sie habe sich immer sicher gefühlt, betonte die Zeugin. „Was wir in den letzten Tagen gemacht haben, haben wir im Rahmen einer Richtlinie gemacht“, unterstrich sie. Sie hätten 48 Stunden Zeit gehabt, Unterlagen zu vernichten. Am 15. August hätten sie die Botschaft mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln evakuiert und seien um 13.30 Uhr zu der in der Nähe gelegenen US-Botschaft gefahren. Die Amerikaner hätten sie mit Hubschraubern zum militärischen Teil des Kabuler Flughafens gebracht. Vier Entsandte seien dort geblieben, um die Evakuierung anderer Menschen zu koordinieren. Wegen Schüssen im Flughafen habe sich der Abflug des restlichen Personals zwar etwas verzögert, aber schließlich seien sie um etwa 23 Uhr mit einer US-Maschine nach Doha ausgeflogen worden.

Sie habe in der Botschaft einen anonymen Feedback-Prozess betreut, um in einem „Lessons-learned-Gespräch“ die Sicht des Personals vor Ort darzulegen, erzählte die Zeugin. Die Kommunikation während der Evakuierung und die Listenführung hätten aus ihrer Sicht besser verlaufen können, betonte sie. 

Zeuge: Für Evakuierung muss Bundeswehr in der Nähe sein

Die Bundeswehr sollte laut Zeugen bei einer eventuellen Evakuierung im Ausland geografisch in der Nähe sein. „Die Evakuierung in Kabul hat gezeigt, dass sie irgendwo in der Region sein muss, um innerhalb weniger Stunden da sein zu können, und nicht in Deutschland“, sagte ein ehemaliger Referent der deutschen Botschaft in Kabul und Mitglied des Krisenunterstützungsteams (KUT) im weiteren Verlauf der Sitzung bei seiner Befragung.

Der Beamte, der zwischen August 2019 und August 2021 in der deutschen Botschaft in der afghanischen Hauptstadt Kabul gearbeitet hat, erklärte, dass vor der Machtübernahme der Taliban im August 2021 zwei Dinge für die Sicherheit der deutschen Botschaft fundamental gewesen seien: die Lage in der sogenannten Green Zone und die auf dem internationalen Flughafen in Kabul. Vor allem die Frage, wer den Flughafen kontrollieren würde, sei eine der größten Sorgen gewesen.

Nach dem Doha-Abkommen zwischen den USA und den Taliban, das im Februar 2020 den Abzug der US-Truppen aus Afghanistan regelte, habe es zwei gegenläufige Entwicklungen gegeben, sagte der Zeuge aus. Einerseits hätten die Taliban internationale Ziele nicht mehr angegriffen. Andererseits hätten sie ihre Attacken gegen die lokalen Partner intensiviert. „Gezielte Tötungen nahmen zu.“ Lokale Beschäftigte in Kabul seien zum Sommer hin zunehmend besorgt gewesen. In regelmäßigen Besprechungen mit dem zuständigen Referat des Auswärtigen Amtes (AA) in Berlin habe die Botschaft die Sicherheitslage übermittelt. Differenzen habe es dabei keine gegeben.

Anfertigung von Listen für Schutzsuchende 

Wegen der verschärften Sicherheitslage hätten sie angefangen darüber nachzudenken, wie das Risiko für bestimmte Personengruppen reduziert werden könne, führte der Zeuge aus. Es sei über verschiedene Optionen gesprochen worden, wie die Menschen ausgeflogen werden könnten. Im Gespräch seien unter anderem Charterflüge und die Visavergabe bei Einreise nach Deutschland („Visa-On-Arrival“) gewesen. Doch es habe immer das Argument im Raum gestanden, die Maßnahmen könnten der afghanischen Bevölkerung ein falsches Signal vermitteln und eine Massenflucht auslösen. Außerdem habe die Gefahr bestanden, dadurch die Widerstandskraft der afghanischen Sicherheitskräfte zu schwächen. Der Referent berichtete aber auch, dass die USA und Großbritannien ihre Ortskräfte bereits zu diesem Zeitpunkt in großer Zahl ausgeflogen hätten und die afghanische Seite dies nicht besonders kritisiert habe.

Weiter sagte er aus, es seien - auch in Berlin - Listen für Schutzsuchende angefertigt worden, die jedoch an dem Wochenende, als Kabul fiel, noch nicht fertig gewesen seien. Er selbst habe Kabul am 12. August verlassen, sei jedoch nach dem Fall Kabuls am 20. August mit der Bundeswehr wieder zurückgeflogen, um am militärischen Teil des Kabuler Flughafens bei der Evakuierung deutscher Staatsbürger und schutzbedürftiger Afghanen zu helfen. In dieser Zeit sei an den Gates des internationalen Flughafens kein geordneter Zugang zum Flughafengelände möglich gewesen. Daher hätten das Krisenunterstützungsteam und Feldjäger der Bundeswehr die vorgelegten Papiere aufgrund bestimmter Kriterien überprüft.

Die US-Soldaten, die den Flughafen kontrollierten, hätten großen Wert daraufgelegt, dass die Flugzeuge nur ganz kurz auf dem Flugfeld stehen durften, berichtete der Beamte. Das sei auch der Grund dafür gewesen, dass die erste Bundeswehrmaschine nur mit einer Handvoll Menschen am Bord abgeflogen sei. „Zu diesem Zeitpunkt waren ganz wenige Personen im Flughafen“, sagte er. In nicht-öffentlicher Sitzung hat der Ausschuss am Donnerstag auch den damaligen Stellvertreter der BND-Residentin in der deutschen Botschaft in Kabul befragt.

Untersuchungsauftrag

Der vom Deutschen Bundestag am 8. Juli 2022 eingesetzte Ausschuss befasst sich mit den Geschehnissen im Zusammenhang mit dem Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan und der Evakuierung des deutschen Personals, der Ortskräfte und anderer betroffener Personen. Betrachtet wird der Zeitraum vom 29. Februar 2020 – dem Abschluss des sogenannten Doha-Abkommens zwischen der US-Regierung unter Ex-Präsident Donald Trump und Vertretern der Taliban – bis zum Ende des Mandats zur militärischen Evakuierung aus Afghanistan am 30. September 2021.

Der Ausschuss hat den Auftrag, sich ein Gesamtbild zu den Erkenntnissen, dem Entscheidungsverhalten und dem Handeln der Bundesregierung einschließlich involvierter Bundesbehörden und Nachrichtendienste zu verschaffen, inklusive des Zusammenwirkens zwischen deutschen und ausländischen Akteuren. Ebenfalls aufgeklärt werden soll, inwiefern die Bundesregierung auf die Umsetzung des Doha-Abkommens und die Gestaltung des Truppenabzugs durch die USA Einfluss genommen hat. Anhand der Untersuchungsergebnisse soll der zwölfköpfige Ausschuss zudem in seinen Schlussfolgerungen empfehlen, welche Konsequenzen aus seinen gewonnenen Erkenntnissen zu ergreifen sind. (crs/19.01.2024)

Zeit: Donnerstag, 18. Januar 2024, 12 Uhr
Ort: Berlin, Paul-Löbe-Haus, Sitzungssaal 4.900

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