12.04.2018 | Parlament

Rede von Bundestagspräsident Dr. Wolfgang Schäuble: Über Anstand – „Weiße Rose“-Gedächtnisvorlesung 2018

Es gilt das gesprochene Wort

Sehr geehrter Herr Präsident,

sehr geehrte Frau Dr. Kronawitter,

verehrte Hinterbliebene der Mitglieder der „Weißen Rose“,

sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen aus den Parlamenten,

liebe Studierende, Lehrende und Forschende an dieser Universität,

meine Damen und Herren!


In diesen Tagen beginnen Tausende junge Menschen ihr Studium an deutschen Universitäten – auch hier in München. Sie sind neugierig, wissbegierig, lebensfroh. Ihre Zukunft haben sie vor sich. Sie ist ungewiss, im besten Sinne. Denn sie ist offen für das, was jeder Einzelne aus ihr macht. Trotz aller Krisen: Chancen gibt es reichlich in unserer offenen Gesellschaft. In einer global vernetzten Welt mit ihren fast unbegrenzten Möglichkeiten.

Vor 75 Jahren, im April 1943, schrieben sich auch junge Nachwuchs-akademiker an dieser Hochschule ein. Ihre Zukunft war nicht nur ungewiss. Sie war düster. Das Leben bestimmte ein verheerender Krieg – und das bereits seit dreieinhalb Jahren. Der Krieg war 1939 von Deutschland ausgegangen. Seine Brutalität und Grausamkeit schlug längst auch auf deutsche Städte zurück. Medizinstudenten wie die Mitglieder der Widerstandsgruppe „Weiße Rose“ Hans Scholl, Alexander Schmorell und Willi Graf machten eigene Kriegserfahrungen. „Front-Famulatur“ nannte sich das.

In der Heimat herrschte ein Klima der Angst: durch die Gefahr von Bombenangriffen und die Einschränkungen, die der Krieg im Alltag brachte; durch die stete Sorge um Angehörige an der Front; durch eine in alle Lebensbereiche eindringende Diktatur.

Die sogenannte ‚Gleichschaltung‘ des gesellschaftlichen Lebens hatte vor den Hochschulen nicht Halt gemacht. NS-Gedankengut war hier sogar früh hoffähig gewesen. Die jungen Menschen, die sich vor 75 Jahren an den Universitäten einschrieben, kannten praktisch nichts anderes. Sie waren unter dem Hakenkreuz aufgewachsen, waren indoktriniert in der Schule, im „Bund deutscher Mädel“ und der „Hitlerjugend“ – so wie Sophie und Hans Scholl. Statt der Freiheit des Geistes forderte der NS-Staat Gehorsam. Statt der Freiheit von Wissenschaft und Forschung: bedingungslosen Glauben an seine Ideologie.


Wer 1943 das Vorlesungsverzeichnis der Ludwig-Maximilians-Universität für das Sommersemester aufschlug, stieß zunächst auf eine lange Liste von Namen – über drei Seiten. Es waren nicht die von lehrenden Dozenten und Professoren, sondern die von Toten: Gefallene des Krieges, aus dem Lehrkörper der LMU und vor allem Studenten. „Im Kampf für Deutschlands Größe und Zukunft starben den Heldentod“, steht darüber.

Drei anderer Toter gedachte hier niemand. Nicht der Geschwister Scholl, nicht Christoph Probst. Sie waren wenige Wochen zuvor, am 22. Februar, vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilt worden – vollstreckt noch am gleichen Tag durch das Fallbeil im Gefängnis München-Stadelheim.  

Die Mitglieder der „Weißen Rose“ starben nicht für Deutschlands Größe, sondern für seine Freiheit – und seine Ehre.

Sind nicht sie die wahren Helden? Elisabeth Hartnagel, die Schwester von Hans und Sophie Scholl, lehnt diesen Begriff für ihre Geschwister ab. Weil sie darin eine Entlastungsformel für andere befürchtet – nach dem Motto: Zum Helden bin ich nun mal nicht geboren.

Der Widerstand im Nationalsozialismus war extrem riskant, lebensgefährlich – für jeden persönlich und auch für Angehörige, für Freunde. Ein moralischer Konflikt. Zweifellos. Widerstand führt unweigerlich ins Spannungsverhältnis von Gesinnungs- und Verantwortungsethik, zum Abwägen der Folgen moralisch gebotenen Handelns. Das gilt für alle Zeiten und in allen Regimen. Und das sollten wir in unserem Urteil über Menschen, die in Diktaturen leben müssen, auch nicht vergessen.


Die Mitglieder der „Weißen Rose“ waren mutig. Aufrecht. Fehlbar waren auch sie, mit Selbstzweifeln. Nicht übermenschlich, sondern schlicht Menschen, die in inhumaner Zeit anständig handelten. Sie zeigten Empathie, die sie in der Gesellschaft vermissten. Sie kämpften gegen die Gleichgültigkeit an – durch das Wort, das ihnen zur Tat wurde.

Die Demokratie verlangt Widerstand nur gegen die, die diese demokratische Ordnung angreifen. Deshalb erinnern wir uns doch an die „Weiße Rose“ und an all die anderen couragierten Menschen, die sich der Diktatur widersetzten, die gegen sie aufbegehrten und die vielfach dafür mit dem Leben bezahlten: Weil sie uns bewusst machen, wie fundamental wichtig die Errungenschaften sind, die uns heute so selbstverständlich scheinen: Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie.

Heldenmut braucht es in der Demokratie nicht. Zivilcourage schon.

Der aktive Widerstand gegen den Nationalsozialismus reichte von der Arbeiterbewegung über Jugendliche, bürgerliche Gruppen, die Kirchen bis hin zu Adel und Wehrmacht. Auch in der Zivilbevölkerung gab es Männer und Frauen, die Verfolgten halfen. Sie boten der nationalsozialistischen Willkür die Stirn, ohne je ins Rampenlicht zu rücken. Sie alle waren nicht die Mehrheit. Und ihr Widerstand gegen das Regime scheiterte – aber sie alle bewiesen, was Marion Gräfin Dönhoff so formuliert hat: Dass in der Geschichte nicht nur der Erfolg entscheidend ist, sondern auch der Geist, aus dem heraus gehandelt wird! Ihm fühlen wir uns verpflichtet.


Während sich im April 1943 die Studenten auf das Sommersemester vorbereiteten, sprach der Volksgerichtshof die Urteile im zweiten Prozess gegen Mitglieder der „Weißen Rose“: Alexander Schmorell, Kurt Huber und Wilhelm Graf wurden zum Tode verurteilt, viele andere Helfer und Mitwisser inhaftiert.

Hitlers ‚Blutrichter‘ Roland Freisler denunzierte in seiner Urteilsbegründung das familiäre Umfeld der Geschwister Scholl. „Volksfeindlich“ sei es gewesen. Und habe deshalb verhindert, die beiden zu (Zitat) „anständigen Volksgenossen“ zu machen.

Nein, anständige Volksgenossen im Sinne der NS-Ideologie waren Hans und Sophie Scholl nicht. Aber menschlich anständig: das sind sie und ihre Mitstreiter geblieben.

Im Sommer ‘43 warf die Royal Air Force das Flugblatt der „Weißen Rose“ millionenfach über Deutschland ab, dessen Verteilung im Lichthof dieser Universität zur Verhaftung der Geschwister Scholl geführt hatte. Den Text leiteten die Briten mit einer klaren Botschaft an alle Deutsche ein – ich zitiere sie: „Wir werden den Krieg sowieso gewinnen. Aber wir sehen nicht ein, warum die Vernünftigen und die Anständigen in Deutschland nicht zu Worte kommen sollen.“


Anstand: Das ist ein Schlüsselwort für das Selbstverständnis der Mitglieder der „Weißen Rose“ – und auch zum besseren Verständnis der Motive widerständigen Handelns gegen Diktaturen mit ihren eigenen Normen und Gesetzen.

Anstand: Davon haben wir alle eine Ahnung, was wir damit meinen. Wenigstens spüren wir, was anständig ist – womöglich noch stärker, was unanständig ist. Früher hätte man gesagt: Was sich gehört und was nicht. Anstand beschreibt einen als selbstverständlich empfundenen Maßstab dafür, wie wir uns gut oder richtig verhalten. Und es ist offenkundig eine Tugend, die wir – in einem völlig anderen politischen und gesellschaftlichen Rahmen – gerade neu entdecken, weil viele sie heute vermissen.


Das ist nicht unumstritten, was mit der schwierigen Begriffsgeschichte zu tun hat:

Im Oktober 1943 trat Heinrich Himmler in Posen vor hochrangige SS-Führer – wenige Tage bevor mit der Hinrichtung Willi Grafs das letzte Todesurteil gegen ein Mitglied der „Weißen Rose“ vollstreckt wurde. In dieser berüchtigten Rede sagte Himmler über den Massenmord an den Juden wörtlich: „Dies durchgehalten zu haben, und dabei – abgesehen von menschlichen Ausnahmeschwächen – anständig geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht und ist ein niemals geschriebenes und niemals zu schreibendes Ruhmesblatt unserer Geschichte.“ Himmler, der sich selbst für einen „Moralisten“ gehalten haben soll, beanspruchte explizit das „moralische Recht“ zum Völkermord – um danach als Unrecht zu ahnden, sich am Besitz der Ermordeten persönlich zu bereichern.

Welche Perversion – was für eine Umkehrung aller Werte. Aus Anstand morden? Das ist eine verstörende Frage. Schockierend, weil sie unsere Vorstellung von Gut und Böse, Moral und Amoral ins Wanken bringt – selbst wenn wir um die Ambivalenz des Menschen wissen, der zum selbstlos Guten befähigt wie zum absolut Bösen in der Lage ist.

Gerhard Bronner, dem es unter dramatischen Umständen Ende der dreißiger Jahre gelang, nach Palästina zu flüchten, ist später in Österreich als Kabarettist bekannt geworden. Er hat bei einer Gedenkfeier zum Jahrestag der Befreiung des KZ Gunskirchen gesagt: „Es gibt drei Dinge, die sich nicht vereinen lassen: Intelligenz, Anständigkeit und Nationalsozialismus. Man kann intelligent und Nazi sein. Dann ist man nicht anständig. Man kann anständig und Nazi sein. Dann ist man nicht intelligent. Und man kann anständig und intelligent sein. Dann ist man kein Nazi.“

Das leuchtet sofort ein. Mit Blick auf das Selbstbild der Täter ist es komplizierter. Es geht um den Menschen und sein Bild vom anderen – es geht um die menschliche Würde, die universell ist.

Himmlers Rede gilt der Wissenschaft als Beispiel dafür, dass es dem Menschen unmöglich sei, böse Handlungen dadurch zu rechtfertigen, böse sein zu wollen. Dass auch die Täter auf ihre Menschlichkeit pochten. Dass sie den Wunsch gehabt hätten, als moralisch handelnde Personen angesehen zu werden.

Historiker, Philosophen und Soziologen, die sich neuerdings für diesen Wertehorizont von NS-Tätern interessieren, sprechen von einer spezifisch nationalsozialistischen ‚Moral‘. Spezifisch, weil sie völkisch, rassisch, am Recht des Stärkeren orientiert war. Der Nationalsozialismus habe bestimmte Bevölkerungsgruppen bewusst ausgeschlossen – das unterscheide die totalitäre von der demokratischen Gesellschaft: eine gezielt partikulare ‚Moral‘. Himmler gab entsprechend als „absoluten Grundsatz“ für den SS-Mann aus, „ehrlich, anständig, treu und kameradschaftlich“ nur zu Angehörigen (Zitat) „unseres eigenen Blutes zu sein und sonst zu niemandem.“

Der abwegige Gedanke höher- und minderwertigen Lebens an Stelle der universellen Würde des Menschen ermöglichte es den Tätern, sich in der Umkehrung aller Werte vor anderen und vor sich selbst als vermeintlich ‚anständig‘ und charakterstark präsentieren zu können. In der Selbstüberwindung gegen das eigene menschliche Empfinden morden zu können. Aus Pflichtbewusstsein. Statt des 5. Gebots konnte es nun heißen: „Du sollst töten“. Es war eine perverse Entlastungs‚moral‘.


Vor diesem Hintergrund sehen manche im Anstand einen belasteten Begriff. Eine „kontaminierte Vokabel“, die nicht mehr unbefangen benutzt werden könnte.

Stimmt das? Ist der Begriff tatsächlich desavouiert? Sogar obsolet?

Ich glaube das nicht.

Die Mitglieder der „Weißen Rose“ beklagten selbst, dass Begriffe wie Freiheit und Ehre – aus ihrer Sicht „herrliche deutsche Worte“ – durch die Nazis „bis zum Ekel ausgequetscht, verdreht“ worden seien. Ich bin überzeugt: Die Auseinandersetzung mit der Umkehrung aller Werte und Tugenden im Nationalsozialismus schärft eher unser Verständnis davon, was Anstand tatsächlich ausmacht. Was wir unter Anstand verstehen, auf den wir auch in der Demokratie nicht verzichten wollen – und auch nicht verzichten können.


Was also ist Anstand?

Anstand verweist auf den Umgang von Mensch zu Mensch – und das bereits seit dem Freiherrn von Knigge. „Über den Umgang mit Menschen“: Unter diesem Titel erschien 1788 sein berühmtes Werk, das zu Unrecht meist nur als Benimm-Fibel für Tischmanieren erinnert wird.

„Wenn die Regeln des Umgangs nicht bloß Vorschriften einer konventionellen Höflichkeit oder gar einer gefährlichen Politik sein sollen“, schrieb Knigge in der Vorrede zur dritten Auflage, „so müssen sie auf die Lehren von den Pflichten gegründet sein, die wir allen Arten von Menschen schuldig sind, und wiederum von ihnen fordern können.“

Das war lange vor den Erfahrungen der nationalsozialistischen Indienstnahme von Anstand und Moral. Zur Zeit der Französischen Revolution, der wir auf unserem Kontinent die Erklärung unveräußerlicher Menschenrechte verdanken. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts stellte „Meyers Großes Konversations-Lexikon“ explizit die menschliche Würde ins Zentrum seiner Begriffsdefinition: „Die Verletzung dieser Würde, sei es in der eignen Person, sei es in andern, macht die Unanständigkeit aus.“

Es geht um den Umgang von Mensch zu Mensch – und seit dem Nationalsozialismus wissen wir: Anstand entscheidet sich an dem Bild, das wir vom Menschen haben. Die Anerkennung der Würde des Gegenübers ist unverzichtbar, um anständig zu handeln. Daran dürfen wir nie rütteln. Das ist die Lehre aus dem Missbrauch, den die Nazis mit Anstand und Moral trieben.

Anstand beruht demnach auf dem glatten Gegenteil dessen, was der sogenannten ‚NS-Moral‘ zugrunde lag. Anstand bedeutet auch nicht rigider gesellschaftlicher Konformismus. Anstand verweist zurück auf das Individuum und seine Verantwortung im Zusammenleben mit anderen.


Die Geschichte des Widerstands zeigt: Wo das Gesetz die Würde des Menschen verletzt und seine unveräußerlichen Rechte bricht, wo die Moral vor dem individuellen Gewissen versagt: Da kommt dem Empfinden eine besondere Bedeutung zu. Die Mitglieder der „Weißen Rose“ bewahrten sich auch unter den Umständen des Dritten Reiches das „normale Empfinden“ – das damals die Ausnahme gewesen ist, wie Hannah Arendt urteilte. Weil das Normale zur Ausnahme und die vormalige Ausnahme zur Normalität geworden war.

Die Mitglieder der „Weiße Rose“ forderten die Machthaber nicht mit Waffengewalt heraus. Sie suchten – in ihren Worten – die „Brechung des nationalsozialistischen Terrors aus der Macht des Geistes.“ Die militärischen Niederlagen in Stalingrad und in Nordafrika hatten den Glauben der Bevölkerung in das Regime erschüttert. Einige Mitglieder der „Weißen Rose“ hatten den Krieg im Einsatz an der Ostfront erlebt. Sie wollten den unsinnigen Krieg beenden – auch wegen seines verbrecherischen Charakters. Sie sahen hin, sie sahen den leidenden Menschen und sie bewahrten sich trotz der Verrohung des Krieges die Fähigkeit, mit anderen zu leiden. Das von Alexander Schmorell verfasste zweite Flugblatt der „Weißen Rose“ bezeichnete die Ermordung hunderttausender Juden als das, was es war: „das fürchterlichste Verbrechen an der Würde des Menschen“, ein Verbrechen, „dem sich kein ähnliches in der ganzen Menschheitsgeschichte an die Seite stellen kann.“

Die Verbrechen des NS-Regimes haben sie schonungslos benannt. Auch die Gleichgültigkeit, mehr noch: das Wegsehen in der Gesellschaft. Das zeichnet die „Weiße Rose“ innerhalb der vielfältigen Opposition gegen Hitler besonders aus: Ein moralischer Standpunkt! Orientiert an der universellen Würde des Menschen, wofür die christliche Begründung leitend war.


Diktaturen stellen besondere Herausforderungen an den Menschen. Diejenigen, die gegen den Nationalsozialismus Widerstand leisteten, sind als Vorbilder so wichtig, weil sie uns zeigen, wozu der Mensch im Guten fähig ist – selbst unter der Bedrohung des absolut Bösen. Ihren selbstlosen Mut kann man von niemanden da einfordern, wo er lebensgefährlich ist. Es ist ein Anspruch, den jeder an sich selbst richten muss, so wie es Hans Scholl für sich formuliert haben soll: „Nicht: es muss etwas geschehen! Sondern: Ich muss etwas tun.

Andererseits: Nicht zu denunzieren, nicht nachzutreten, sich nicht am Unglück anderer zu bereichern – wenigstens auf diese Weise menschlich zu bleiben und sich einen Rest Anstand zu bewahren: Das schon. Das können wir und das müssen wir erwarten! Als Mindestmaß von Anstand.

Der Historiker Fritz Stern ging mit kritischem Blick auf das Leben in einem menschenverachtenden System weiter. Er sprach ironisch vom „feinen Schweigen der Anständigen“. Es sei für den Erfolg des Nationalsozialismus ebenso wichtig gewesen wie das Brüllen der Begeisterten. Deshalb postulierte er, Gesinnung allein reiche nicht aus. Anständig bleiben könne nur, wer handelt, das aber erfordere immer eine Aktion. In einem menschenverachtenden System wäre der Übergang vom Anstand zum aktiven Widerstand fließend.


„Wir schweigen nicht, wir sind Euer böses Gewissen“: Das hatte das vierte Flugblatt im Juli 1942 den Machthabern entgegenschleudert. Aber nicht nur ihnen. Auch allen Deutschen, die passiv blieben. Anders als die Männer des 20. Juli wollten die Mitglieder der „Weißen Rose“ erreichen, dass sich das Volk gegen seine Machthaber erhebt. Aus Wissen um die Verbrechen des Regimes. Aus Einsicht in die Schuld, die das Nichtstun in sich trägt. Aus dem Bewusstsein für die eigene Verantwortung.

Im Glauben an den Menschen.

Sophie Scholl nahm noch vor dem Volksgerichtshof für sich in Anspruch: „Was wir sagten und schreiben, denken ja so viele. Nur wagen sie nicht, es auszusprechen“ Unmittelbar nach dem Krieg bestätigte es Ricarda Huch in ihrer Würdigung der „Weißen Rose“. Diese jungen Menschen hätten getan, „was wir hätten tun sollen und nicht zu tun wagten.“

Aber waren das wirklich viele?

Hans-Jochen Vogel, der langjährige Oberbürgermeister dieser Stadt, gehört zu denen, die vor 75 Jahren ihr Studium nur wenige Wochen nach der Zerschlagung der „Weißen Rose“ an dieser Universität aufnahmen. Sie, lieber Herr Vogel, berichten von einer deutlich überwiegenden Ablehnung der Flugblätter unter den Studierenden. Und Sie haben – übrigens in einem Buch über Anstand und Politik – eindrücklich davon erzählt, wie der Gedanke damals Ihren eigenen geistigen Horizont überstiegen habe, man dürfe oder man müsse sogar dem Staat Widerstand leisten. Noch dazu in Kriegszeiten.

Für viele galt das auch noch lange danach – und bestimmte das Bild vom Widerstand in der frühen Bundesrepublik. Ich musste mich in meiner Schulzeit noch mit der Frage befassen, ob das Attentat vom 20. Juli rechtmäßig war. Heute fällt die Antwort darauf eindeutig aus.

Die Mitglieder der „Weißen Rose“ überschätzten in ihrem Engagement, wie weit andere gehen würden, damit aus Denken Handeln wird. Unterschätzten den Druck, die Repression, die Angst – und nicht zuletzt den Mangel an Empathie. Immerhin 35 Prozent der Flugblätter, die in den ersten Wochen an ausgewählte Adressaten verschickt worden waren, sollen umgehend bei der Gestapo gelandet sein.


Dabei gab es durchaus Handlungsspielräume. Es gibt sie immer, selbst im Nationalsozialismus gab es sie. Um sie zu nutzen, braucht es eine autonome Persönlichkeit.

Die „Weiße Rose“ war keine homogene Gruppe. Es war ein Freundes- und Bekanntenkreis von lebensfrohen Individuen verschiedener Herkunft und Charakter. Unterschiedlich auch in den Motiven ihres Handelns. Aber sie einte dieser Anspruch auf Eigenständigkeit und Unabhängigkeit im Denken. Die Forderung nach verantwortungsbewusstem, selbstständigem Handeln.

Ihr Bezugspunkt war der Mensch. Das wird deutlich, wenn Kurt Huber vor dem Volksgerichtshof von der notwendigen Rückkehr zu „gegenseitigem Vertrauen von Mensch zu Mensch“ sprach. Und wenn Christoph Probst darauf beharrte, auch gegen alle Widerstände das Menschliche hochhalten zu wollen. Damit es eines Tages wieder zum Durchbruch kommen könne. Der Einfluss, den ihr christlicher Glaube oder auch nur die Beschäftigung mit dem Christentum nahm, kann nicht hoch genug eingeschätzt werden.


Nach der nationalsozialistischen Willkür- und Gewaltherrschaft, der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges und der Shoah, bestand über alle politischen Gräben hinweg Übereinstimmung, dass es nie wieder soweit kommen dürfe. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes trugen – wenn man so will – dem letzten Willen Willi Grafs Rechnung: Weiterzutragen, was die „Weiße Rose“ begonnen hatte. Die unverletzliche Würde des Menschen als Grundlage einer neuen Rechtsordnung: Davon träumten auch andere Widerständler wie Helmuth James von Moltke, der zum „Kreisauer Kreis“ gehörte.

Auf diesem Geist gründet unser Staat: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“. Artikel 1 des Grundgesetzes ist die Antwort auf die gegenteilige Erfahrung in der nationalsozialistischen Unrechtsherrschaft, als die Würde des Menschen millionenfach verletzt, geschändet wurde.

Würde nicht als Konjunktiv sondern als Imperativ! Artikel 1 GG beschreibt nicht eine Realität. Es ist ein Postulat, das uns verpflichtet. Dieser Grundsatz gilt unumstößlich; nicht einmal eine verfassungsändernde Mehrheit könnte ihn ändern.

Niemand, auch nicht der Staat, darf oder kann über die Würde eines Menschen verfügen. Sie wird nicht verliehen, sie muss auch nicht erst verdient werden. Und sie kann auch nicht genommen werden.

Diese Würde kann religiös aus dem Verständnis des Menschen als Gottesebenbild begründet sein oder aus seiner Vernunft- und Gewissensbegabung – wie in Artikel 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte.

Die Würde des Menschen ist universell.

Das gilt auch für die Menschenrechte, in denen sie sich verwirklicht. In Artikel 1 des Grundgesetzes heißt es deshalb auch nicht, die Würde des deutschen Staatsbürgers ist unantastbar. Nein: Der Mensch ist würdig, weil er Mensch ist. Und der Staat hat dafür Sorge zu tragen, dass die unveräußerliche Würde des Menschen geachtet und geschützt wird. Unsere Verfassung schützt und garantiert die Grundrechte aller Menschen, unabhängig von ihrer Herkunft, Hautfarbe oder Religion.

Nicht die Volksgemeinschaft ist der Referenzrahmen, sondern das Individuum, der einzelne Mensch mit seiner Würde. Das ist das Menschenbild, an dem sich auch Anstand orientiert. Die Anerkennung der Würde des Gegenübers gehört unverzichtbar zum Anstand. Wer wem auch immer und aus welchen Gründen auch immer seine Würde und seine universellen Rechte als Mensch abspricht, handelt unanständig. Und er steht außerhalb unserer Verfassungsordnung.

Wenn wir heute von Anstand reden, dann reden wir – ohne es zu sagen – von eben diesem Verständnis des Menschen. Sich dessen bewusster zu werden, schadet nicht. Und dazu trägt die Erinnerung an diejenigen bei, die sich unter den Bedingungen der NS-Diktatur dem universalistischen Menschenbild verpflichtet fühlten und anständig handelten.


Die Menschenrechte zählen seit den transatlantischen Revolutionen 1776 und 1789 zum Kanon westlicher Werte. Heinrich August Winkler hat diese Geschichte des Westens als eine Geschichte permanenter Verstöße gegen die eigenen Werte beschrieben. Aber auch als Geschichte der ständigen Selbstkritik und Selbstkorrektur. Als einen nie abgeschlossenen Prozess, in dem wir alle, Staat und jeder Einzelne von uns, stets aufgefordert sind, unser Handeln zu hinterfragen und immer neu an der Würde des Menschen auszurichten.

Wie ist es darum bestellt? Heute, da wir in Frieden, Freiheit und Wohlstand leben? Und die Mehrheit der Deutschen keine eigenen Erinnerungen mehr an den Zweiten Weltkrieg und die nationalsozialistische Gewaltherrschaft hat? Wo unsere gegenwärtige Rechtsordnung und unsere freiheitliche Gesellschaft von vielen als gegeben hingenommen und ewig gültig angesehen werden?

Jede Generation muss sich immer wieder neu darüber verständigen, wie die Werteordnung des Grundgesetzes mit Leben gefüllt wird. Vor allem kommt es im kulturell und religiös vielfältigeren Deutschland von heute darauf an, Werte wie Toleranz und Pluralismus neu zu erörtern. Was bedeutet offene Gesellschaft und was hält eine offene Gesellschaft zusammen?

Die Idee der Universalität der Menschenrechte muss sie mit dem Verständnis verbinden, das der britische Oberrabbiner Jonathan Sacks als „The dignity of difference“ beschrieben hat – die Würde der Verschiedenartigkeit, der Reichtum des anderen. Wenn jeder Mensch seine eigene, unveräußerliche Würde hat, dann bedeutet das Respekt vor dem Andersartigen, also Toleranz.


Der Autor Axel Hacke, der mit seinem Buch über Anstand seit Monaten auf den Bestseller-Listen steht, verbindet Anstand mit der Frage, wie wir zusammen als Gesellschaft leben wollen. Er verweist auf das Rücksichtnehmen, auf die Fähigkeit, sich selbst zurücknehmen zu können. „Wir basteln immerzu am Ego und viel zu selten am Wir“, schreibt er. Wollen wir das ändern, verlangt es viel von uns, von jedem. Es geht beim Anstand in der freiheitlichen Demokratie um die moralische Selbstverpflichtung, ohne die Freiheit nicht existieren kann: Nicht nur im Sinne des eigenen Vorteils zu handeln, sondern Verantwortung zu übernehmen, für den Anderen, für die Mitmenschen.

Es geht um Gemeinsinn. Ihn braucht es, erst Recht in einer Welt, die dem Individuum Raum zur Entfaltung wie nie zuvor gibt – und ihn dabei mit seiner Freiheit alleine lässt. Der Mensch braucht aber Grenzen, weil Freiheit ohne Grenzen und Voraussetzungen selbstzerstörerisch wird. So ist der Mensch.

Grenzen, die sich der Mensch selbst in Freiheit setzt: Diese Einsicht ist für unsere Welt überlebenswichtig, in der der Mensch über erstaunliche Instrumente verfügt, um sein eigenes Geschick und das der Erde in die Hand zu nehmen. Er braucht Grenzen im Interesse seines eigenen Menschseins, seiner Humanität, eine Vorkehrung gegen Übermaß, Allmachtsphantasie und Machtmissbrauch.

Anstand setzt solche Grenzen – im Sinne Senecas: Was das Gesetz nicht verbietet, das verbietet der Anstand.

Kritiker des Anstandsbegriffs verweisen gern auf den Grundsatz des liberalen Rechtsstaates, wonach alles, was nicht ausdrücklich verboten und nicht einer offensichtlichen Gesetzeslücke zuzurechnen ist, von Staats wegen geduldet werde. Tatsächlich kann der Staat keinen Anstand verordnen. Aber der freiheitliche Verfassungsstaat lebt nach der klassischen Formulierung Ernst-Wolfgang Böckenfördes von Voraussetzungen, die er selbst nicht zu schaffen vermag. In dem klassischen Zielkonflikt zwischen Freiheit und Regulierung ermöglicht nur eine freiwillige Einordnung aus Gewissen, Tradition und Überzeugung – was auch immer – den immer neu zu gewinnenden Ausgleich. Es braucht Werte und Wertebindungen, einen inneren Zusammenhalt, ohne den auch eine moderne Gesellschaft in Freiheit nicht dauerhaft bestehen kann. Ungeschriebene Regeln, wie wir in der Demokratie miteinander umgehen wollen. Es braucht Anstand – als Grundbedingung von Freiheit und unseres Zusammenlebens.

Wenn das im Kleinen, Alltäglichen, schon nicht funktioniert, wird besorgt gefragt, wie soll es dann im großen Ganzen funktionieren? Das stimmt – umgekehrt aber genauso: Wenn wir im Großen Anstand nicht vorleben, warum soll man sich dann im Kleinen daran halten? Das gilt für alle Bereiche der Gesellschaft, in der Wirtschaft und im Bankwesen, in den Medien, im Sport und auch in der Wissenschaft. In besonderem Maße gilt es für die Politik.

Politischer Anstand meint nicht, wie Kritiker behaupten, einen „Kampfbegriff zur gesellschaftlichen Isolierung oder gar Niedermachung eines Gegners“, dem man anders nicht beikomme. Dann wäre seine Beschwörung tatsächlich nur Ausdruck der Hilflosigkeit. Anstand in dem von mir skizzierten Verständnis verweist auf die politische Kultur, auch hier: auf den Umgang von Mensch zu Mensch. Das beginnt bei der Sprache. Dabei, wie wir miteinander kommunizieren. Verächtlichmachung, Herabsetzung und Erniedrigung haben in einem zivilisierten Miteinander keinen Platz. Die überwältigende Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger in diesem Land will ein zivilisiertes Miteinander.

In aufgewühlten Zeiten, wie wir sie derzeit erleben, wächst das Bedürfnis nach Formen des Verhaltens, über die man lange nicht mehr geredet hat – weil man sie als selbstverständlich ansah: Respekt füreinander haben, ein offenes Ohr haben für die Argumente des anderen, ihn anerkennen mit seiner anderen Meinung.

Es geht um Fairness. Nicht zurückzufallen in undemokratisches Freund-Feind-Denken, das den Meinungsaustausch schwierig und Kompromisse am Ende unmöglich macht.

Es geht um unsere Debattenkultur: im Privaten, in den Universitäten, in den Medien, den klassischen und noch mehr den vermeintlich sozialen – nicht zuletzt in den Parlamenten.

Zum politischen Anstand gehört dann auch, sich gegenüber denen, die die politische Kultur unseres Landes beschädigen und damit die Demokratie unterlaufen, nicht ins „feine Schweigen“ zurückzuziehen. In der offenen Gesellschaft, in unserer rechtsstaatlichen Demokratie wäre das tatsächlich ein feiges Schweigen!

Der Journalist Herbert Riehl Heyse, der nicht nur in München unvergessen ist, beobachtete schon Anfang des Jahrtausends Verrohungstendenzen in der Gesellschaft. Damals sagte er: „Wenn die Brutalität floriert, brauchen Anstand und Mitleid ein Konjunkturprogramm.“

Es scheint, da wir doch merken, dass etwas ins Rutschen geraten ist, dass wir ein neues auflegen sollten.


Meine Damen und Herren,

es ist Teil unserer politischen Verantwortung, der Geschichte des Nationalsozialismus zu gedenken. Uns um die Lehren aus dieser Geschichte zu bemühen. Das verlangt auch der politische Anstand. Denn indem wir nicht vergessen wollen, sondern uns erinnern, ehren wir die Menschen, die ihr Leben verloren haben. Ihre menschliche Würde, die ihnen die Täter rauben wollten. Erinnerungskultur ist deshalb auch nicht allein Sache der Zivilgesellschaft, sie gehört mit zu den staatlichen Aufgaben – gerade in unserer Gesellschaft mit ihrer schwierigen Vergangenheit.

Die „Weiße Rose“ macht es uns leichter, auf die Geschichte unseres Landes zurück und hoffnungsvoll nach vorne zu blicken. In ihren Flugblättern sei ein anderes Deutschland zur Sprache gekommen, heißt es. Manche gehen soweit zu sagen, die dafür Hingerichteten seien für ein besseres Deutschland gestorben. Das klingt nach Märtyrertum. Das – so legen es Zeugnisse überlebender Verwandter und Freunde nahe – wäre ihnen selbst fremd gewesen. Ihr Tod ist keine Sühne für andere gewesen. Er entlässt die Nachgeborenen nicht aus der Verantwortung – im Gegenteil.

Der Widerstand mit seinen verschiedenen Gesichtern gehört zu den Voraussetzungen für die zweite Chance Deutschlands, wie Fritz Stern es genannt hat. Er ist uns – in einem völlig anderen gesellschaftspolitischen Rahmen – Verpflichtung. Die „Weiße Rose“ hat in einer unmenschlichen Diktatur, in Zeiten von Brutalität und Grausamkeit, der Humanität ein Ausrufezeichen gesetzt. Und hat damit uns in der Demokratie, die sich der unantastbaren Menschenwürde verpflichtet sieht, als beständige Frage hinterlassen, ob wir den davon abgeleiteten Werten und Normen gerecht werden – als Staat, als Gesellschaft, als Individuum. Es geht auch zukünftig um Achtung, gegenseitigen Respekt, Solidarität. Es geht um das Verhältnis von Mensch zu Mensch, kurz: Um Anstand!

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