Parlament

Übergangs- und Schlussbestimmungen

(picture alliance/Kay Nietfeld/dpa)

Es gibt Verfassungen, die enden mit Pathos. „Zur Ehre Gottes und zum Ruhme Irlands“ lautet die Schlussformel der Verfassung der Republik Irlands. Andere Verfassungen schließen mit mahnenden Worten: „Die Einhaltung dieser Verfassung wird dem Patriotismus aller Griechen anvertraut“, heißt es in der griechischen Verfassung.

Dem Grundgesetz ist eine finale Bekräftigung der eigenen Bedeutung fremd. Stattdessen erwähnt das Grundgesetz in Artikel 146 seine eigene Ablösung „an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist“. Dieser im internationalen Verfassungsvergleich ungewöhnliche Schlussakkord hat historische Gründe. Die Autoren des Grundgesetzes hatten angenommen, ein „Provisorium“ zu erarbeiten, auf das eine gesamtdeutsche Verfassung folgen werde. Mit dem Fall der Mauer 1989 stellte sich unversehens die Frage, ob der historische Moment für eine neue, gesamtdeutsche Verfassung gekommen sei.

Entscheidung gegen eine neue Verfassung

Leidenschaftlich wurde damals über diese Option debattiert. Jene, die das Grundgesetz durch eine neue Verfassung ablösen wollten, verwiesen auf die nach Artikel 146 gebotene Mitwirkung des gesamten deutschen Volkes, die zentral für die gemeinsame Identitätsbildung des vereinigten Deutschlands sei. Andere gaben zu bedenken, das Grundgesetz sei die beste Verfassung, die Deutschland jemals gehabt habe. Am Ende war der Druck der Ereignisse und der Wunsch der Menschen in der DDR nach rascher Veränderung ausschlaggebend.

Der Prozess der Verfassungsneuschöpfung erschien als zu langwierig. Deshalb wurde die Vereinigung durch den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik (Artikel 23 in der alten Fassung) und damit unter Beibehaltung des Grundgesetzes vollzogen. Eine neue Debatte darüber, ob die Tage des Grundgesetzes gezählt seien, folgte rund zwanzig Jahre später im Zusammenhang mit der europäischen Integration und der Staatsschuldenkrise in der Euro-Zone.

„Konstitutionelle Momente“

Eine Schlüsselrolle spielte dabei das Bundesverfassungsgericht. Sollte der Integrationsprozess in einen europäischen Bundesstaat münden, bedeutete das einen staatlichen Souveränitätsverzicht, der nicht mehr vom Grundgesetz gedeckt wäre. Ein solcher Schritt sei „allein dem unmittelbar erklärten Willen des Deutschen Volkes vorbehalten“, heißt es im sogenannten Lissabon-Urteil von 2011. Auch die milliardenschweren Hilfen zur Behebung der Finanzprobleme in der Euro-Zone provozierten Fragen, wie tragfähig das Grundgesetz noch sei. Eine klare Antwort, wann die verfassungsrechtlich zulässige Grenze europäischer Integration und europäischer Krisenbewältigung erreicht ist, gibt es bislang nicht. Auch ist ungewiss, wie der Weg einer europäisch bedingten Grundgesetzablösung auszusehen hätte. 

Dass die Frage nach einer neuen deutschen Verfassung jeweils in geschichtsträchtigem Kontext gestellt wurde – im Zusammenhang mit der deutschen Einheit und einem möglichen europäischen Bundesstaat –  entspricht internationaler Erfahrung mit Verfassungsneuschöpfungen. Von „konstitutionellen Momenten“ (Bruce Ackerman) ist die Rede – gesellschaftspolitischen Umbrüchen, die als derart einschneidend empfunden werden, dass eine Bevölkerungsmehrheit neue Grundregeln für die Ausübung von Staatsgewalt und das Verhältnis der Bürger zum Staat befürwortet.

Kein Hinweis auf das Digitalzeitalter

Abgesehen von derartigen historischen Zäsuren, geben neue technische und soziale Entwicklungen Anlass zu Überlegungen, ob die Grundordnung von 1949 noch zeitgemäß sei. Dass wir mittlerweile im Digitalzeitalter leben, lässt sich dem Wortlaut des Grundgesetzes zum Beispiel nicht entnehmen.

Umgekehrt gibt es noch Übergangs- und Schlussbestimmungen, die sich längst erledigt haben, etwa Regelungen zum sogenannten Vereinigten Wirtschaftsgebiet der amerikanischen und britischen Besatzungszone (Art. 127). Die Vorschriften zum ersten Zusammentritt des Bundesrates und zur Aufgabenwahrnehmung bis zur Wahl des ersten Bundespräsidenten (Art. 136) sind seit fast 70 Jahren gegenstandslos.

Das Staatskirchenrecht

Andererseits finden sich in den Übergangs- und Schlussbestimmungen auch Themenbereiche, die eigentlich zum festen Bestand des Verfassungsrechts gehören. Dazu zählt das Staatskirchenrecht (Art. 140). Als „Verlegenheitsergebnis verfassungsgebender Parlamentsarbeit“ hat der Staats- und Kirchenrechtler Rudolf Smend die Bestimmungen des Grundgesetzes zum Verhältnis von Staat, Kirche und Religion charakterisiert. So war es den Autoren des Grundgesetzes aufgrund weltanschaulicher Gegensätze nicht gelungen, sich auf eine Neuordnung der spannungsreichen Beziehungen zwischen Kirche und Staat zu verständigen. Nach heftigen Debatten beschloss man auf Vorschlag des späteren ersten Bundespräsidenten Theodor Heuss, stattdessen auf Artikel zu „Religion und Religionsgesellschaften“ der Weimarer Reichsverfassung von 1919 zurückzugreifen und diese als Kompromisslösung ins Grundgesetz zu übernehmen.

Genau genommen handelte es sich sogar um einen „doppelten Kompromiss“ (Christian Waldhoff). Denn die Weimarer Religionsnormen waren 1919 ihrerseits als Kompromisspaket vereinbart worden. Einerseits wurde festgelegt, dass keine Staatskirche mehr existiert (Artikel 137 der Weimarer Reichsverfassung (WRV)), der Staat sich also nicht eine bestimmte Religion zu eigen macht, die dann Vorrechte gegenüber anderen Glaubensgemeinschaften genießt.

„Balancierte Trennung von Kirche und Staat“

Andererseits wurden Staat und Kirche aber nicht strikt getrennt. Vielmehr gibt es bis heute zahlreiche Verbindungen. Beispiele dafür sind der Körperschaftsstatus (Art. 137 Abs. 5 WRV), das Kirchensteuerrecht (Art. 137 Abs. 6 WRV) oder die Möglichkeit der Seelsorge in der Bundeswehr oder in öffentlichen Krankenhäusern (Art. 141 WRV). Diese „balancierte Trennung“ von Kirche und Staat (Ernst-Wolfgang Böckenförde) bleibt jedoch konfliktbehaftet, nicht zuletzt, weil das tradierte deutsche Staatskirchenrecht zunehmend in ein Spannungsverhältnis zum europäischen Recht gerät. Hinzu kommt, dass das religiöse Leben in Deutschland sich in den vergangenen Jahrzehnten in vieler Hinsicht verändert hat und die christlichen Kirchen einen Teil ihrer gesellschaftlichen Prägekraft eingebüsst haben. Die Lebenswirklichkeit, auf die das Staatskirchenrecht heutzutage trifft, ist also eine ganz andere als im Jahre 1919.

Auf zahlreichen anderen Themenfeldern, die sich gewandelt haben, wurde das Grundgesetz neuen Gegebenheiten und Bedürfnissen angepasst. Nicht einmal die Hälfte der ursprünglich 146 Grundgesetz-Artikel hat heute noch den gleichen Wortlaut wie 1949. Trotz der umfangreichen Änderungen ist manches Flickwerk geblieben. Vor allem der föderalen Grundordnung wurde über die Jahrzehnte durch umfangreiche und nicht immer kohärente Reformen arg zugesetzt. 

Hohe Hürden für ein neues Grundgesetz

Ist es also Zeit, ein neues Grundgesetz aus einem Guss zu schaffen? Eine Verfassung, die sich wieder stärker auf prägnante Grundregeln konzentriert und zugleich den technischen und gesellschaftlichen Wandel abbildet? Eine Gesamtrevision, die solch ehrgeizige Erwartungen erfüllen könnte, bliebe jedoch aller Voraussicht nach ein Wunschtraum. Die Hürden für die Verabschiedung eines neuen Grundgesetzes sind so hoch, dass zwangsläufig ein Kompromisspaket geschnürt werden müsste.

Ob die Interessen der beteiligten Parteien sich dann zum großen Ganzen fügen, erscheint zweifelhaft. Warnend bemerkt der Staatsrechtslehrer und frühere Bundesverfassungsrichter Dieter Grimm, es „drohten all die Untugenden Platz zu greifen, die bisher schon bei Verfassungsänderungen zu beobachten waren“. Eine solche Bewährungsprobe sollte man dem Grundgesetz und seiner Erfolgsgeschichte besser ersparen. (gel/01.05.2019)

Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland

Artikel

Kapitel

Präambel

1 - 19

Die Grundrechte

20 - 37

Der Bund und die Länder

38 - 49

Der Bundestag

50 - 53

Der Bundesrat

53a

Gemeinsamer Ausschuss

54 - 61

Der Bundespräsident

62 - 69

Die Bundesregierung

70 - 82

Die Gesetzgebung des Bundes

83 - 91

Die Ausführung der Bundesgesetze und die Bundesverwaltung

91a - e

Gemeinschaftsaufgaben, Verwaltungszusammenarbeit

92 - 104

Die Rechtsprechung

104a - 115

Das Finanzwesen

115a - l

Verteidigungsfall

116 - 146

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